Entscheidungsdatum: 11.12.2018
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Neubrandenburg vom 30. August 2017 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in vier Fällen, schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in zwei Fällen, sexuellem Missbrauch von Kindern in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, und wegen „schweren“ sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in zwei tateinheitlichen Fällen zu einer (Gesamt-) „Freiheitsstrafe“ von vier Jahren verurteilt. Hiergegen richtet sich die auf Verfahrensrügen und die Sachbeschwerde gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat mit der Verfahrensrüge einer Verletzung des Anwesenheitsrechts gemäß § 230 Abs. 1 in Verbindung mit § 338 Nr. 5 StPO Erfolg.
1. Der Rüge liegt folgendes Prozessgeschehen zu Grunde:
Am ersten Verhandlungstag, dem 11. Juli 2017, sollte die Geschädigte W. als Zeugin vernommen werden. Mit Hinweis auf ihren labilen Zustand beantragte ihre anwaltliche Vertreterin den Ausschluss des Angeklagten aus der Hauptverhandlung für die Dauer dieser Vernehmung. Dazu erließ die Jugendkammer folgenden Beschluss:
„Der Angeklagte wird während der Vernehmung der Zeugin W. aus dem Sitzungssaal entfernt, § 247 StPO, weil die Zeugin in Anwesenheit des Angeklagten nicht oder nicht vollständig und wahrheitsgemäß aussagen kann oder will. Dies ergibt sich aus den Angaben der die Zeugin behandelnden Psychotherapeutin S. . Der Angeklagte wird Gelegenheit haben, die gesamte Vernehmung über Video zu verfolgen und über seine Verteidiger Fragen zu stellen.“
Daraufhin nahmen der Angeklagte und eine Verteidigerin in einem Nebenraum Platz, von dem aus sie die Vernehmung der Zeugin durch Bild-Ton-Übertragung verfolgen konnten. Im Sitzungssaal blieb ein weiterer Verteidiger des Angeklagten anwesend.
Während der Vernehmung wurde ein Brief der Zeugin, den diese an ihre Mutter geschrieben hatte, „von der Zeugin in Augenschein genommen und durch den Vorsitzenden verlesen“. Anschließend kam der Angeklagte zurück in den Sitzungssaal und erklärte auf Befragen durch den Vorsitzenden, dass er die Vernehmung der Zeugin gut habe verfolgen können und keine weiteren Fragen an diese habe.
Der Angeklagte rügt eine Verletzung seines Anwesenheitsrechts. Die Augenscheineinnahme und die Verlesung des Briefes der Zeugin hätten nicht in seiner Abwesenheit erfolgen dürfen.
2. Die Verfahrensrüge ist zulässig.
a) Das Rügevorbringen genügt den Anforderungen gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Dazu musste der Inhalt des Briefes nicht mitgeteilt werden, denn es genügt zur Darlegung der tatsächlichen Voraussetzungen eines Verfahrensfehlers, dass aus dem Revisionsvorbringen die Tatsache der Verlesung einer Urkunde zu Beweiszwecken während der Abwesenheit des Angeklagten hervorgeht.
b) Der Zulässigkeit der Rüge steht auch nicht entgegen, dass der Verteidiger die Anordnung der Urkundenverlesung in Abwesenheit des Angeklagten nicht nach § 238 Abs. 2 StPO beanstandet hat (vgl. BGH, Urteil vom 11. November 2009 - 5 StR 530/08, BGHSt 54, 184, 185).
c) Eine Verwirkung der Rüge kommt nicht in Betracht, weil der Angeklagte den Verfahrensfehler nicht verursacht hatte, um ihn anschließend zu rügen (vgl. BGH, Beschluss vom 27. November 1992 - 3 StR 549/92, StV 1993, 285, 286; Kretschmer JR 2007, 258, 259). Seine Erklärung, dass er keine Fragen an die Zeugin habe, betraf nicht den Urkundenbeweis und enthält deshalb auch keinen Rügeverzicht.
3. Die Rüge ist begründet. Die Verlesung des Briefes der Geschädigten in Abwesenheit des Angeklagten war verfahrensfehlerhaft im Sinne von § 230 Abs. 1, § 247 Satz 1 StPO (a), der Fehler wurde in der Hauptverhandlung nicht geheilt (b) und auf dem Verfahrensfehler beruht das Urteil gemäß § 338 Nr. 5 StPO (c).
a) Das Landgericht hat das Anwesenheitsrecht des Angeklagten durch eine Beweiserhebung, die nicht in seiner Abwesenheit stattfinden durfte, verletzt.
aa) Der Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung kommt im deutschen Strafprozess ein hoher Stellenwert zu. Sie ist nicht nur zur Wahrheitsfindung, sondern auch für die Verteidigung des Angeklagten von erheblicher Bedeutung. Deshalb bestimmt § 230 Abs. 1 StPO, das gegen einen ausgebliebenen Angeklagten keine Hauptverhandlung stattfindet. Der Angeklagte hat danach nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht zur Anwesenheit (vgl. BGH, Beschluss vom 21. April 2010 - GSSt 1/09, BGHSt 55, 87, 88).
Unter der Anwesenheit des Angeklagten ist dessen geistige und körperliche Präsenz am Verhandlungsort zu verstehen. Die Anwesenheit in einem Nebenraum zum Sitzungssaal genügt nicht; denn auch dies ist ein Fall der Entfernung des Angeklagten aus dem Sitzungszimmer im Sinne von § 247 Satz 1 StPO, der als Ausnahme von der Anwesenheit im Sinne des § 230 Abs. 1 StPO im Gesetz geregelt ist. Dies gilt auch dann, wenn dort für den Angeklagten im Nebenzimmer eine Möglichkeit zur gleichzeitigen Wahrnehmung des Verhandlungsgeschehens im Wege einer Bild-Ton-Übertragung besteht. Die Strafprozessordnung sieht keine Ersetzung der Anwesenheit des Angeklagten im Sitzungszimmer durch eine solche Bild-Ton-Übertragung in einen Nebenraum vor. Sie kennt nur die Möglichkeit der audiovisuellen Vernehmung eines Zeugen, der sich während der Vernehmung an einem anderen Ort befindet (§ 247a StPO). Um einen solchen Fall geht es hier nicht.
Die durch den Beschluss der Strafkammer eingeräumte Möglichkeit für den Angeklagten, „die Verhandlung über Video zu verfolgen“, war zwar geeignet, die nach § 247 Satz 4 StPO gebotene Unterrichtung zu ersetzen (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2006 - 1 StR 268/06, BGHSt 51, 180, 182 f.). Sie änderte aber nichts an seiner vorübergehenden Abwesenheit im Sinne von § 230 Abs. 1 StPO durch Entfernung aus dem Sitzungszimmer gemäß § 247 Satz 1 StPO.
bb) Das Recht und die Pflicht des Angeklagten zur Anwesenheit am Verhandlungsort kann nach der Strafprozessordnung nur in Ausnahmefällen durchbrochen werden. Nach der eng auszulegenden Ausnahmevorschrift des § 247 Satz 1 StPO (vgl. BGH, Urteil vom 21. Oktober 1975 - 5 StR 431/75, BGHSt 26, 218, 220) kann der Angeklagte unter anderem während einer Zeugenvernehmung aus dem Sitzungszimmer entfernt werden, wenn zu befürchten ist, ein Zeuge werde bei seiner Vernehmung in Gegenwart des Angeklagten die Wahrheit nicht sagen (§ 247 Satz 1 Var. 2 StPO). Die Entfernung des Angeklagten aus dem Sitzungszimmer ist dann aber auf die Vernehmung des Zeugen beschränkt. Eine andere Beweiserhebung, wie eine Urkundenverlesung, gehört nicht dazu, auch wenn sie einen sachlichen Zusammenhang mit der Zeugenvernehmung aufweist. Da im Protokoll der Hauptverhandlung nichts anderes vermerkt ist, muss davon ausgegangen werden, dass die Verlesung des Briefes der Geschädigten durch den Vorsitzenden zum Zweck des Urkundenbeweises erfolgt ist (vgl. Senat, Urteil vom 18. Oktober 1967 - 2 StR 477/67, BGHSt 21, 332, 333). Dies durfte nicht in Abwesenheit des Angeklagten geschehen.
b) Eine Heilung des Verfahrensfehlers wäre nur durch Wiederholung der Urkundenverlesung in seiner Anwesenheit möglich gewesen (vgl. Erb NStZ 2010, 347; H. E. Müller JR 2007, 79, 80). Eine solche ist nach dem Protokoll der Hauptverhandlung nicht erfolgt.
c) Das Urteil beruht nach § 338 Nr. 5 StPO auf dem Verfahrensfehler. Eine Ausnahme von diesem absoluten Revisionsgrund greift nicht ein.
aa) § 338 Nr. 5 StPO bestimmt, dass ein Urteil stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen ist, wenn die Hauptverhandlung in Abwesenheit einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz bestimmt, stattgefunden hat. Dies betrifft auch den Fall der Verletzung des Rechts und der Pflicht des Angeklagten zur Anwesenheit aus § 230 Abs. 1 StPO.
bb) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs greift § 338 Nr. 5 StPO allerdings nicht ein, wenn die Abwesenheit des Angeklagten keinen wesentlichen Teil der Hauptverhandlung betrifft. Ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung liegt nicht vor, wenn denkgesetzlich ausgeschlossen ist, dass bezüglich des Prozessgeschehens in Abwesenheit des Angeklagten sein Anspruch auf rechtliches Gehör sowie seine prozessualen Mitwirkungsrechte beeinträchtigt worden sind. Der betreffende Verhandlungsteil darf jedoch auch sonst das Ergebnis der Hauptverhandlung nicht im Sinne von § 261 StPO bestimmt haben können (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Mai 2006 - 4 StR 131/06, NStZ 2006, 713 f.; Urteil vom 28. Juli 2010 - 1 StR 643/09, NStZ 2011, 233, 234). Dies wurde in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs etwa in einem Fall verneint, in dem die Verhandlung über die Entlassung eines Zeugen zwar in Abwesenheit des Angeklagten stattgefunden hatte, die Vernehmung im Ganzen aber vom Angeklagten durch Bild-Ton-Übertragung mitverfolgt worden war und er nach Befragung durch den Vorsitzenden erklärt hatte, von seinem Fragerecht keinen Gebrauch zu machen (BGH, Urteil vom 9. Februar 2011 - 5 StR 387/10, NStZ 2011, 534). Damit ist der vorliegende Fall nicht vergleichbar. Die Abwesenheit des Angeklagten betraf hier eine Urkundenverlesung als weitere Beweiserhebung. Eine Beweiserhebung ist grundsätzlich ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung. Dies gilt im vorliegenden Fall auch deshalb, weil der Brief der Geschädigten in die Urteilsgründe eingeflossen ist. Eine Prüfung, ob das Urteil darauf beruht, ist dem Senat dann nach § 338 Nr. 5 StPO versagt.
cc) Die Erklärung des Angeklagten, keine weiteren Fragen an die in seiner Abwesenheit vernommene Zeugin zu haben, betraf nur die Zeugenvernehmung, nicht den zusätzlich erhobenen Urkundenbeweis. Auch daraus ergibt sich hier, anders als im Fall der Versäumung einer Verhandlung über die Entlassung des in Abwesenheit des Angeklagten vernommenen Zeugen (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 21. April 2010 - GSSt 1/09, BGHSt 55, 87, 94), keine Ausnahme von der gesetzlichen Vermutung des Beruhens des Urteils auf dem Verfahrensfehler gemäß § 338 Nr. 5 StPO.
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