Entscheidungsdatum: 09.02.2011
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Göttingen vom 12. Mai 2010 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
– Von Rechts wegen –
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten, die auf Verfahrensrügen und die Sachrüge gestützt ist. Dem Rechtsmittel bleibt aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts der Erfolg versagt. Der Erörterung bedarf nur Folgendes:
Die Beanstandung, die Verhandlung über die Entlassung des zu diesem Zeitpunkt 14-jährigen Zeugen K. (Sohn der Lebensgefährtin des Angeklagten) sei zu Unrecht in Abwesenheit des Angeklagten erfolgt, weswegen der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO erfüllt sei, greift nicht durch. Die Rüge scheitert an § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO.
1. Folgendes Verfahrensgeschehen liegt zugrunde:
Das Landgericht hat den Zeugen am zweiten Hauptverhandlungstag vernommen und für die Dauer der Vernehmung die Entfernung des Angeklagten gemäß § 247 Satz 2 StPO angeordnet. Der Angeklagte wurde in einen Raum gebracht, in dem er den Fortgang der Verhandlung über eine Bild-Ton-Übertragung mitverfolgen konnte. Das Zimmer war mit einer Gegensprechanlage ausgestattet, über die eine Verständigung mit den im Sitzungssaal befindlichen Verfahrensbeteiligten möglich war.
Ausweislich der Niederschrift über die Hauptverhandlung wurde der Zeuge nach seiner Vernehmung „im allseitigen Einverständnis“ um 12.48 Uhr entlassen; von 12.49 bis 12.51 Uhr wurde die Hauptverhandlung unterbrochen. Das Protokoll hält dann fest: „Nunmehr war der Angeklagte wieder im Gerichtssaal erschienen.“ (PB S. 14)
Nach einer weiteren Unterbrechung der Hauptverhandlung wurde die Schwester des Zeugen vernommen, wobei der Angeklagte unter denselben Maßgaben wie zuvor aus dem Sitzungssaal entfernt worden war. In der Niederschrift ist zum Verlauf dieser Einvernahme unter anderem eine nach einer Unterbrechung der Hauptverhandlung abgegebene Erklärung des Verteidigers zu einem Hinweis des Angeklagten vermerkt, dass er die Aussage der Zeugin zwar gehört, aber ihr Bild nicht vollständig gesehen habe; daraufhin habe ein Wachtmeister das Gerät so eingestellt, dass das Bild für den Angeklagten wieder voll einsehbar gewesen sei (PB S. 15 f.).
2. Im Hinblick auf die sich hieraus ergebende Unklarheit der Hauptverhandlungsniederschrift zu der Frage, ob in das „allseitige“ Einverständnis mit der Entlassung des Zeugen K. nur die im Sitzungssaal anwesenden Verfahrensbeteiligten oder auch der Angeklagte einbezogen waren, hat der Senat eine dienstliche Stellungnahme des Vorsitzenden eingeholt. Der Vorsitzende hat sich dahin geäußert, dass er wie auch ein Justizwachtmeister den Angeklagten über die Funktionsweise der Gegensprechanlage belehrt habe. Vor der Entlassung des Zeugen habe er den Angeklagten ausdrücklich gefragt, ob er noch Fragen stellen wolle, was nicht der Fall gewesen sei. Die Beisitzerin, die Protokollführerin und der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft sind der Stellungnahme des Vorsitzenden beigetreten. Das Gleiche gilt für die beiden anwesenden Justizwachtmeister. Demgegenüber stellt der Verteidiger sowohl die Belehrung als auch die abschließende Befragung des Angeklagten in Abrede.
3. Nach dem durch den Vorsitzenden dargestellten und von weiteren Amtspersonen bestätigten Ablauf des Geschehens würde der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO auch im Lichte des Beschlusses des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs vom 21. April 2010 – GSSt 1/09 (NJW 2010, 2450; zum Abdruck in BGHSt bestimmt) nicht durchgreifen. Denn die Entlassungsverhandlung wäre unter den danach gegebenen Umständen kein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung.
Nach ständiger Rechtsprechung bestimmt sich die Frage der Wesentlichkeit eines Verfahrensteils nach dem Zweck der jeweils betroffenen Vorschriften sowie danach, in welchem Umfang deren sachliche Bedeutung betroffen sein kann; die Entlassungsverhandlung in Anwesenheit des Angeklagten ist danach grundsätzlich als wesentlich anzusehen, weil der von der Entlassungsverhandlung ausgeschlossene Angeklagte unmittelbar nach der Zeugenvernehmung keine Fragen oder Anträge stellen kann, die den Ausgang des Verfahrens zu beeinflussen vermögen (vgl. BGH – GS – aaO S. 2452 mwN). Diese Gedanken treffen jedoch ersichtlich nicht zu, wenn der die Vernehmung über eine Bild-Ton-Übertragung zeitgleich mitverfolgende Angeklagte nach ausdrücklicher Befragung des Vorsitzenden von seinem Fragerecht keinen Gebrauch machen will. Es wäre bloße Förmelei, wenn ihm – gegebenenfalls nach vorheriger Entfernung des Opferzeugen aus dem Gerichtssaal – in Anwesenheit ein weiteres Mal Fragen anheimgegeben werden müssten (vgl. zur Ersetzung der Unterrichtungspflicht nach § 247 Satz 4 StPO durch Bild-Ton-Übertragung auch BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2006 – 1 StR 268/06, BGHSt 51, 180; ferner zum Frageverzicht in solchen Fällen BGH, Urteil vom 27. Januar 2011 – 5 StR 482/10).
4. Der Senat kann dahingestellt sein lassen, ob der Inhalt der dienstlichen Äußerungen durch den weiteren Vortrag der Verteidigung im Revisionsverfahren durchgreifend erschüttert wird. Denn der Protokollvermerk zur einvernehmlichen Entlassung in Verbindung mit der durchgeführten Bild-Ton-Übertragung legten jedenfalls nahe, dass der Vorsitzende dem Angeklagten die Möglichkeit der Intervention gegen die Entlassung des Zeugen gegeben hat, ohne dass dieser sie wahrnahm, und ihn so in das allseitige Einvernehmen mit der Entlassung eingebunden hat. Bei einer besonderen Fallgestaltung wie der hier gegebenen hätte deshalb bereits in der Revisionsbegründungsschrift zu den näheren Umständen namentlich der Videoübertragung im Einzelnen vorgetragen werden müssen. Allein auf Grund der gegebenen Revisionsbegründung kann der Senat hingegen nicht nachprüfen, ob Verfahrensrecht verletzt ist. Die Verfahrensrüge ist daher nicht zulässig erhoben (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Dies lässt unberührt, dass eine Wiederzulassung des Angeklagten vor der Verhandlung über die Entlassung des Zeugen angezeigt gewesen wäre. Eine hinreichend detaillierte Protokollierung der Geschehnisse wäre zudem wünschenswert gewesen.
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