Entscheidungsdatum: 05.02.2014
1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 29. März 2012 - 34 Wx 566/11 ThUG - und der Beschluss des Landgerichts Deggendorf vom 10. November 2011 - 31 AR 9/11 ThUG - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts München wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung über die Kosten und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers an das Oberlandesgericht München zurückverwiesen.
Insoweit erledigt sich der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwältin W.
2. Soweit die Verfassungsbeschwerde mittelbar gegen das Therapieunterbringungsgesetz gerichtet ist, wird sie nicht zur Entscheidung angenommen.
Dem Beschwerdeführer wird insoweit Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwältin W. beigeordnet.
3. Soweit der Beschwerdeführer weiter die Beschlüsse des Landgerichts Deggendorf vom 14. Juli 2011 - 31 AR 4/11 ThUG - und des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 17. Februar 2011 - 1 Ws 46/11 - angreift, wird die Verfassungsbeschwerde ebenfalls nicht zur Entscheidung angenommen und insoweit der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwältin W. abgelehnt.
4. Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer zwei Drittel seiner notwendigen Auslagen zu erstatten.
5. Der Wert der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 128.000,00 € (in Worten: einhundertachtundzwanzigtausend Euro) festgesetzt. Davon entfallen jeweils 4.000,00 € (in Worten: viertausend Euro) auf die angegriffenen Beschlüsse des Landgerichts Deggendorf vom 14. Juli 2011 - 31 AR 4/11 ThUG - und des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 17. Februar 2011 - 1 Ws 46/11 -.
Der Beschwerdeführer wendet sich unmittelbar gegen seine gerichtlich angeordnete Unterbringung nach dem Therapieunterbringungsgesetz. Mittelbar ist die Verfassungsbeschwerde gegen die Vorschriften des Therapieunterbringungsgesetzes selbst gerichtet. Darüber hinaus greift er die Entscheidung zur vorläufigen Unterbringung in der Therapieunterbringung sowie die über den 17. Februar 2011 hinausgehende Unterbringung in der Sicherungsverwahrung an.
1. Das Landgericht München verurteilte den einschlägig vorbestraften Beschwerdeführer 1992 unter anderem wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexueller Nötigung und versuchter gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten und ordnete die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung an. Nachdem die auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg mit Sitz in Straubing den weiteren Vollzug der Sicherungsverwahrung über die Zehnjahresfrist hinaus angeordnet hatte, erklärte das Oberlandesgericht Nürnberg mit Beschluss vom 17. Februar 2011 die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung zum 30. Juni 2011 für erledigt.
Im Verfahren nach dem Therapieunterbringungsgesetz ordnete das Landgericht Deggendorf mit Beschluss vom 14. Juli 2011 die vorläufige Unterbringung des Beschwerdeführers an. Mit Beschluss vom 10. November 2011 erfolgte die Unterbringungsanordnung in der Hauptsache bis zum 8. Mai 2013. Das Oberlandesgericht München wies die hiergegen gerichtete Beschwerde des Beschwerdeführers mit Beschluss vom 29. März 2012 zurück. In den Entscheidungsgründen wird hinsichtlich des erforderlichen Gefährlichkeitsmaßstabes ausgeführt, dass die zu stellende Gefährlichkeitsprognose für eine Anordnung nach § 1 Abs. 1 ThUG genüge; der strenge Maßstab, der bei einer Weiterführung einer über zehn Jahre hinausgehenden Sicherungsverwahrung anzulegen sei und eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten verlange, sei nicht auf den Tatbestand des § 1 ThUG zu übertragen.
2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde vom 28. April 2012 und 2. Mai 2012, für die er die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin W. beantragt, rügt der Beschwerdeführer im Wesentlichen eine Verletzung von Art. 1, Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2, Art. 3 Abs. 1 und Abs. 3, Art. 19 Abs. 1 Satz 1, Art. 20 Abs. 3 und Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG sowie die Unvereinbarkeit mit Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Art. 6 Abs. 1 EMRK.
Das Therapieunterbringungsgesetz verstoße aus mehreren Gründen gegen die verfassungsrechtlichen Vorgaben. Dem Bundesgesetzgeber fehle die erforderliche Gesetzgebungskompetenz, und das Gesetz sei entgegen Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG ein Einzelfallgesetz. Darüber hinaus verstoße das Therapieunterbringungsgesetz gegen das Rückwirkungsverbot und das Bestimmtheitsgebot. Gleichzeitig begründe das Therapieunterbringungsgesetz einen Gleichheitsverstoß, indem nur gefährliche Rückfalltäter mit psychischer Störung erfasst würden, während solche ohne psychische Störung zu entlassen seien. Weiter verstoße das Therapieunterbringungsgesetz gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 2 EMRK in Verbindung mit Art. 1 Abs. 2, 20 Abs. 3 GG, weil ein Freiheitsentziehungsgrund nach der Konvention nicht vorliege. Abgesehen von den Einwendungen gegen das Gesetz selbst verstoße auch die Unterbringungsentscheidung gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Die Annahme einer psychischen Störung sei willkürlich und die Auswahl der Gutachter nicht ordnungsgemäß erfolgt. Schließlich habe es an einer Rechtsgrundlage dafür gefehlt, die Entlassung aus der Sicherungsverwahrung noch um mehrere Monate hinauszuschieben, obwohl letztere bereits für erledigt erklärt wurde.
3. Den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat die 1. Kammer des Zweiten Senats mit Beschluss vom 22. Mai 2012 abgelehnt.
4. Das Verfahren wurde dem Bayerischen Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz mit der Gelegenheit zur Stellungnahme zugestellt. Das Ministerium hat von einer Stellungnahme abgesehen.
1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde - soweit sie gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 29. März 2012 - 34 Wx 566/11 ThUG - und den Beschluss des Landgerichts Deggendorf vom 10. November 2011 - 31 AR 9/11 ThUG - gerichtet ist - zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 BVerfGG sind insoweit erfüllt. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen - insbesondere die Frage der Anforderungen an eine verfassungskonforme Auslegung von § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. -, juris, Rn. 69 ff.) - bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG), und die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
a) Die Verfassungsbeschwerde ist - soweit die Kammer sie zur Entscheidung annimmt - zulässig und begründet.
aa) Der Zulässigkeit steht nicht entgegen, dass die Beschlüsse nicht mehr die Grundlage für eine aktuelle Unterbringung bilden. Der Beschwerdeführer hat ein fortbestehendes schutzwürdiges Interesse an einer nachträglichen verfassungsrechtlichen Überprüfung, weil die Therapieunterbringung aufgrund der angegriffenen Beschlüsse in der Zeit vom 10. November 2011 bis zum 8. Mai 2013 einen tiefgreifenden Eingriff in sein Freiheitsgrundrecht darstellte (vgl. dazu BVerfGE 9, 89 <92 ff.>; 32, 87 <92>; 53, 152 <157 f.>; 104, 220 <234>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 31. Oktober 2005 - 2 BvR 2233/04 -, juris, Rn. 20 ff.).
bb) In diesem Umfang ist die Verfassungsbeschwerde auch begründet. In den angegriffenen Beschlüssen über die Anordnung der Therapieunterbringung ist ein unzutreffender Maßstab zugrunde gelegt und der Beschwerdeführer dadurch in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt.
Mit Beschluss vom 11. Juli 2013 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass § 1 Abs. 1 des Therapieunterbringungsgesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 (BGBl I S. 2300) mit dem Grundgesetz mit der Maßgabe vereinbar ist, dass die Unterbringung oder deren Fortdauer nur angeordnet werden darf, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist (BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. -, juris, Rn. 69 ff.).
Die im Umfang der Annahme (§ 93a BVerfGG) zur Prüfung stehenden fachgerichtlichen Beschlüsse sind mit diesen Vorgaben für die Anwendung des Therapieunterbringungsgesetzes nicht zu vereinbaren. Sowohl das Landgericht als auch das Oberlandesgericht übertragen den strengen Verhältnismäßigkeitsmaßstab der hochgradigen Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten, wie ihn das Bundesverfassungsgericht für die Vertrauensschutzbelange betreffende Sicherungsverwahrung verlangt (vgl. BVerfGE 128, 326 <399>) und wie er in gleicher Weise für die Therapieunterbringung Geltung beansprucht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. -, juris, Rn. 69 ff.), nicht auf den Tatbestand des § 1 Abs. 1 ThUG. Daher genügen die Beschlüsse den Anforderungen an eine verfassungskonforme Auslegung und Anwendung des § 1 Abs. 1 ThUG nicht und verletzen den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
Dabei kommt es für die Feststellung der Grundrechtsverletzung allein auf die objektive Verfassungswidrigkeit der angefochtenen fachgerichtlichen Entscheidungen im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an; unerheblich ist hingegen, ob die Grundrechtsverletzung den Fachgerichten vorwerfbar ist (vgl. BVerfGE 128, 326 <407 f.>).
cc) Da die Verfassungsbeschwerde schon wegen der Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG begründet ist, bedarf es keiner Entscheidung, ob darüber hinaus weitere Grundrechte verletzt sind.
b) Der Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 29. März 2012 ist daher aufzuheben. Die Sache ist zur Entscheidung über die Kosten und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers (vgl. BVerfGE 128, 326 <407>) an das Oberlandesgericht München zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).
2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Soweit der Beschwerdeführer sich auch gegen die Entscheidung zur vorläufigen Therapieunterbringung (Landgericht Deggendorf, Beschluss vom 14. Juli 2011 - 31 AR 4/11 ThUG -) und die Entscheidung über die Erledigung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Oberlandesgericht Nürnberg, Beschluss vom 17. Februar 2011 - 1 Ws 46/11 -) wendet, wurde die Verfassungsbeschwerde jedenfalls nicht fristgerecht erhoben und ist deshalb unzulässig. Hinsichtlich des mittelbaren Angriffs auf das Therapieunterbringungsgesetz wird auf den Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. - verwiesen. Im Übrigen wird von einer Begründung abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).
3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Angesichts des erfolgreichen Angriffs auf die Unterbringungsentscheidungen in der Hauptsache (Beschluss des Landgerichts Deggendorf vom 10. November 2011 - 31 AR 9/11 ThUG - und Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 29. März 2012 - 34 Wx 566/11 ThUG -) einerseits und des damit verbundenen, nicht erfolgreichen Angriffs gegen das Therapieunterbringungsgesetz andererseits erweist sich die Verfassungsbeschwerde in einem Umfang von zwei Dritteln als begründet (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. -, juris). Soweit die Verfassungsbeschwerde darüber hinaus hinsichtlich zwei weiterer Gegenstände (Beschluss des Landgerichts Deggendorf vom 14. Juli 2011 - 31 AR 4/11 ThUG - und Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 17. Februar 2011 - 1 Ws 46/11 -) nicht zur Entscheidung angenommen wurde, sind diese auf das gesamte Verfahren bezogen von untergeordneter Bedeutung und bedürfen deshalb keiner gesonderten - zu Lasten des Beschwerdeführers gehenden - Berücksichtigung in der Auslagenentscheidung (vgl. BVerfGE 86, 90 <122>; 88, 366 <367, 381>).
4. Die Prozesskostenhilfeentscheidung beruht auf §§ 114 ff. ZPO analog (vgl. BVerfGE 1, 109 <110 f.>; 92, 122 <123>). In dem Umfang, in dem der Beschwerdeführer mit seiner Verfassungsbeschwerde in Bezug auf die angegriffenen Entscheidungen in der Hauptsache (Beschluss des Landgerichts Deggendorf vom 10. November 2011 - 31 AR 9/11 ThUG - und Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 29. März 2012 - 34 Wx 566/11 ThUG -) Erfolg hat und ihm dazu korrespondierend eine Erstattung der Auslagen zuzusprechen ist, erledigt sich der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwältin W. (vgl. BVerfGE 105, 239 <252>).
Hinsichtlich des mittelbaren Angriffs auf das Therapieunterbringungsgesetz wurde die Verfassungsbeschwerde unter Hinweis auf den Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. - zwar nicht zur Entscheidung angenommen. Dem Beschwerdeführer ist diesbezüglich dennoch Prozesskostenhilfe zu gewähren und dem Antrag auf Beiordnung nachzukommen, weil zum Zeitpunkt des Eingangs der Verfassungsbeschwerde am 30. April 2012 und des Antrags auf Gewährung von Prozesskostenhilfe am 2. Mai 2012 die Senatsentscheidung noch nicht ergangen war und die Verfassungsbeschwerde aus damaliger Sicht insoweit hinreichende Aussicht auf Erfolg hatte.
Soweit der Beschwerdeführer sich allerdings gegen die Entscheidung zur vorläufigen Therapieunterbringung (Landgericht Deggendorf, Beschluss vom 14. Juli 2011 - 31 AR 4/11 ThUG -) und die Entscheidung über die Erledigung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Oberlandesgericht Nürnberg, Beschluss vom 17. Februar 2011 - 1 Ws 46/11 -) wendet, fehlte es dagegen von vornherein an den für eine Bewilligung von Prozesskostenhilfe erforderlichen hinreichenden Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung (vgl. II. 2.).
5. Die Festsetzung des Gegenstandswertes beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).