Entscheidungsdatum: 22.08.2012
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Aschaffenburg vom 27. Oktober 2011 wird als unzulässig verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels sowie die dem Nebenkläger hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Das Landgericht Aschaffenburg hat den Angeklagten mit Urteil vom 27. Oktober 2011 wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu der Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt.
Die dagegen gerichtete Revision ist unzulässig, da der Angeklagte wirksam auf Rechtsmittel verzichtet hat.
I.
1. Zum Verfahrensablauf:
Nach der Urteilsverkündung wurde der Angeklagte vom Vorsitzenden der Strafkammer gemäß § 35a Satz 1 StPO belehrt.
Nach dreiminütiger Unterbrechung erklärten "der Angeklagte, sein Verteidiger, der Nebenklägervertreter namens und in Vollmacht des Nebenklägers und der Vertreter der Staatsanwaltschaft: 'Rechtsmittelverzicht' ".
Eine neue Verteidigerin legte innerhalb der Frist des § 341 Abs. 1 StPO Revision ein. Sie trägt vor, der Rechtsmittelverzicht sei gemäß § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO unwirksam. Denn dem Urteil sei eine Verständigung gemäß § 257c StPO vorausgegangen, weshalb auch gemäß § 35a Satz 3 StPO qualifiziert hätte belehrt werden müssen.
Dieser Vortrag basiere auf den Angaben des Angeklagten sowie - jeweils mittels einer „eidesstattlichen Versicherung“ untermauert - seiner Eltern, seiner Schwester, seines Schwagers und zweier Bekannter der Familie. Danach habe der frühere Verteidiger erklärt, der Angeklagte müsse ein Geständnis im Sinne der Anklage abgeben. Ob das Geständnis stimme oder nicht, sei egal. Nach einem Gespräch der Verfahrensbeteiligten - ohne den Angeklagten - am 19. Oktober 2011 habe der Verteidiger dem Angeklagten erklärt, es habe ein guter „Deal“ über ein Strafmaß von zehn Jahren getroffen werden können. Den Eltern und der Schwester habe der Verteidiger bei einem Gespräch in seinen Kanzleiräumen am 25. Oktober 2011 erklärt, es sei sehr schwierig gewesen, bei zwei Mordmerkmalen zehn Jahre auszuhandeln, weil der Staatsanwalt zwölf bis dreizehn Jahre gewollt habe. Das Gespräch, das er am 19. Oktober 2011 mit dem Gericht und dem Staatsanwalt geführt habe, sei zwar nicht schriftlich dokumentiert, der „Deal“ gelte aber. Der Angeklagte habe unter dem Druck, nicht eine noch höhere Strafe zu „kassieren“, ein falsches Geständnis abgelegt. Während der kurzen Unterbrechung nach der Urteilsverkündung und der Rechtsmittelbelehrung (am 27. Oktober 2011) habe der Verteidiger auf den Angeklagten eingeredet: „Du musst das Urteil jetzt annehmen, das ist so vereinbart, und auf Rechtsmittel verzichten. Tust du das nicht, kriegst Du zwölf Jahre, weil der Staatsanwalt dann auch keine Erklärung abgibt.“
Die Sitzungsniederschrift enthält entgegen § 273 Abs. 1a Satz 1 bzw. Satz 3 StPO weder einen Vermerk über den wesentlichen Ablauf und Inhalt sowie das Ergebnis einer Verständigung (Satz 1) noch dazu, dass eine Verständigung nicht stattgefunden hat (Satz 3).
2. Mit der Gegenerklärung der Staatsanwaltschaft auf die Revisionsbegründungsschrift wurden dienstliche Stellungnahmen der drei Berufsrichter und des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft vorgelegt. Danach fand am 19. Oktober 2011 auf Bitte des damaligen Verteidigers ein Rechtsgespräch - an dem auch die Schöffen teilnahmen - statt. Der Staatsanwalt habe geäußert, dass er an einen Antrag auf Verurteilung wegen versuchten Mordes zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren denke. Die Kammer habe angedeutet, dass dies vielleicht etwas zu hoch gegriffen sei. Eine Verurteilung im zweistelligen Bereich sei nach dem bisherigen Gang der Hauptverhandlung aber realistisch. Der Verteidiger habe eine Verurteilung im einstelligen Bereich angestrebt. Eine Freiheitsstrafe von neun Jahren elf Monaten könne er seinem Mandanten eventuell vermitteln. Eine derart nach „kosmetischen“ Gesichtspunkten bestimmte Strafe habe die Strafkammer abgelehnt. Sie habe noch darauf hingewiesen, dass auch eine im Verlauf des Verfahrens abgegebene Erklärung, die als Geständnis und/oder Schuldeinsicht gewertet werden kann, eine strafmildernde Bedeutung hätte. Die Festlegung einer Strafuntergrenze oder einer Strafobergrenze sei nicht erfolgt. Das Urteil beruhe nicht auf einer Absprache, auch nicht auf einer informellen Absprache. Nie sei mit einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren, etwa im Zusammenhang mit einem Rechtsmittelverzicht, gedroht worden. Der Angeklagte sei bei der Rechtsmittelbelehrung ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass er nun eine Woche Zeit habe, sich zu überlegen, ob er Rechtsmittel einlegen wolle. Der Verteidiger habe um Unterbrechung gebeten. Nach dieser sei der Rechtsmittelverzicht erklärt worden.
Der Senat holte noch eine Stellungnahme des Verteidigers, der beim Landgericht tätig war, dazu ein, ob Rechtsgespräche stattgefunden haben, wie es ggf. dazu kam, wer beteiligt war sowie welchen Verlauf und welches Ergebnis diese Erörterungen hatten. Sie hat folgenden Wortlaut:
„Im seinerzeitigen Verfahren sind zu keinem Zeitpunkt Absprachen gemäß § 257c StPO vorangegangen. Eine Verständigung gemäß § 273 Abs. 1a Satz 3 StPO hat nicht stattgefunden; am vorletzten Verhandlungstag, den 19.10.2011 wurde die Sitzung von 9.13 Uhr bis 10.05 Uhr unterbrochen, da dringender Beratungsbedarf bestand. Die durch den Unterzeichner abgegebene Erklärung beinhaltete ein pauschales Geständnis; der Angeklagte machte sich diese Erklärung zu Eigen. Es wurde auf Initiative bzw. Anregung der Verteidigung ein Gespräch im Beratungszimmer geführt, jedoch nicht im Sinne einer verfahrensbeendenden Absprache. Beteiligt an diesem Gespräch war die Kammer, Staatsanwaltschaft und die Verteidigung. Es wurden die jeweiligen Rechtsauffassungen diskutiert, hinsichtlich eines zu findenden Strafmaßes wurden lediglich die jeweiligen Argumente ausgetauscht.“
In seinem Schlussantrag beantragte der Staatsanwalt eine Verurteilung wegen versuchten Mordes zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren, der Verteidiger eine Freiheitsstrafe von neun Jahren.
II.
Es ist damit erwiesen, dass die Verurteilung auf keiner Verständigung beruht. Ein Rechtsmittelverzicht ist damit zulässig.
III.
Zur Wirksamkeit des in diesem Verfahren beim Landgericht erklärten Verzichts auf Rechtsmittel hat der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift vom 30. März 2012 ausgeführt:
„Der im Anschluss an die Urteilsverkündung nach Rücksprache mit seinem ehemaligen Verteidiger erklärte Rechtsmittelverzicht des Angeklagten (§ 302 Abs. 1 StPO) ist auch nicht wegen der Art und Weise seines Zustandekommens oder wegen schwerwiegender Willensmängel, etwa weil der Angeklagte sich der Tragweite seiner Erklärung nicht bewusst war, unwirksam.
Grundsätzlich ist ein auf einem Irrtum beruhender oder durch Täuschung oder Drohung herbeigeführter Rechtsmittelverzicht nicht anfechtbar oder kann auch sonst nicht zurückgenommen oder widerrufen werden (st. Rspr., vgl. nur Senat, Beschl. vom 25. Oktober 2005 - 1 StR 416/05 m.w.N.; BGHR StPO § 302 Abs. 1 Satz 1 Rechtsmittelverzicht 1, 4, 8, 12). Daher ist die mit Schriftsatz vom 17.11.2011 (SA Bd. IV, Bl. 740 f.) erfolgte Anfechtung des Rechtsmittelverzichts unbehelflich. Nur in eng begrenztem Umfang erkennt die Rechtsprechung Ausnahmen an (vgl. dazu BGHSt 45, 51, 53 m.w.N.). Ein solcher Ausnahmefall, in dem die Berücksichtigung von Willensmängeln in Betracht kommt, ist hier nicht gegeben. Zwingende Gründe der Rechtssicherheit lassen die Berücksichtigung von Willensmängeln - zumal eines Irrtums im Beweggrund jedenfalls dann nicht zu, wenn sie nicht die Folge einer (durch das Gericht zu verantwortenden) Drohung oder einer unrichtigen richterlichen Auskunft sind (BGHR Rechtsmittelverzicht 8). So liegt es nach dem Revisionsvortrag auch hier. Der Revisionsführer hat lediglich behauptet, dass sein früherer Verteidiger auf ihn eingeredet und unter Druck gesetzt habe (RB S. 4, 13). Auch in der behaupteten Empfehlung des früheren Verteidigers, das aus seiner Sicht milde Urteil anzunehmen, weil sonst (bei Revision der Staatsanwaltschaft) mit einer höheren Strafe zu rechnen sei, ist weder eine Drohung noch eine Täuschung zu sehen (vgl. BGH, NStZ-RR 2003, 100) und stellt somit keine unzulässige Willensbeeinflussung dar. Ob eine Anfechtung des Rechtsmittelverzichts bei Drohung oder Irreführung durch den Verteidiger überhaupt möglich wäre, kann daher offenbleiben. Auch hat das Gericht die Erklärung nicht durch unlautere Mittel erlangt, etwa weil dem Angeklagten vom Gericht eine Rechtsmittelverzichtserklärung abverlangt wurde, ohne dass ihm gleichzeitig angeboten worden wäre, sich zuvor eingehend mit dem Verteidiger zu beraten (BGH, NStZ-RR 1997, 305). Im Übrigen ist der Beschwerdeführer auch insoweit den Beweis derartiger Einwirkungen schuldig geblieben. Nichts hätte näher gelegen, als eine Erklärung des früheren Verteidigers herbeizuschaffen.
Dass der Beschwerdeführer bei seiner daraufhin abgegebenen Verzichtserklärung der Tragweite seiner Erklärung nicht bewusst gewesen sein will, ist nicht glaubhaft. Es ist auf der Grundlage des Vorbringens des Beschwerdeführers selbst des weiteren aber auch nichts dafür zu ersehen, dass der Angeklagte nicht verhandlungsfähig war. Die Verhandlungsfähigkeit wird in der Regel nur durch schwere körperliche oder seelische Mängel ausgeschlossen; auf die Geschäftsfähigkeit im Sinne des bürgerlichen Rechts kommt es nicht an (BGHR StPO § 302 Abs. 1 Satz 1 Rechtsmittelverzicht 3, 16). Allein das Bestehen eines psychischen Drucks genügt nicht (vgl. auch Senat, NStZ-RR 2005, 261). Wenn aber weder das Landgericht Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten hatte noch solche von der Verteidigung geltend gemacht worden sind, so kann diese grundsätzlich auch vom Revisionsgericht ohne Bedenken bejaht werden (vgl. BGHR StPO § 302 Abs. 1 Satz 1 Rechtsmittelverzicht 16).
Vielmehr ergibt sich aus dem Revisionsvorbringen, dass dem Angeklagten die Bedeutung des Rechtsmittelverzichts bekannt war, er also jedenfalls das Wissen, das erforderlich ist, um eine eigenverantwortliche Entscheidung zu treffen, bereits hatte. Dass er letztlich zum Zeitpunkt der Abgabe der Erklärung Angst vor einer noch höheren Strafe hatte und daher - unter psychischen Druck stehend - auf Rechtsmittel verzichtet hat, zeigt gerade, dass er sich der Bedeutung und Tragweite seiner Erklärung bewusst war. Dass der Angeklagte etwa ihre Abgabe nachträglich bereut hat, vermag an ihrer Wirksamkeit erst recht nichts zu ändern.
Infolge des wirksamen Verzichts ist das Urteil des Landgerichts Aschaffenburg vom 27. Oktober 2011 in Rechtskraft erwachsen. Die dagegen eingelegte Revision ist somit nach § 349 Abs. 1 StPO als unzulässig zu verwerfen.“
Dem tritt der Senat bei.
Nack Wahl Hebenstreit
Sander Cirener