Entscheidungsdatum: 24.02.2010
Vor Verwerfung einer Berufung wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist ist dem Rechtsmittelführer durch einen Hinweis rechtliches Gehör zu gewähren, um ihm die Möglichkeit zu geben, sich zu der Fristversäumung zu äußern und einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu stellen (im Anschluss an Senatsbeschlüsse vom 15. August 2007, XII ZB 101/07, NJW-RR 2007, 1718; vom 13. Juli 2005, XII ZB 80/05, NJW-RR 2006, 142 und vom 18. Juli 2007, XII ZB 162/06, FamRZ 2007, 1725) .
Auf die Rechtsbeschwerde des Beklagten wird der Beschluss des 1. Familiensenats des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 7. August 2008 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
Wert: 17.532 €
I.
Die Parteien sind Eheleute. Sie streiten um Trennungsunterhalt. Das Amtsgericht - Familiengericht - hat im schriftlichen Vorverfahren am 27. März 2008 ein Teilversäumnisurteil erlassen, das ausweislich der Zustellungsurkunde dem erst- und zweitinstanzlichen Beklagten-Vertreter (im Folgenden: Beklagten-Vertreter) in der B-Straße in M. am 12. April 2008 persönlich zugestellt worden ist. Der Beklagten-Vertreter hat per Telefax, eingehend am 28. April 2008 (Montag), Einspruch eingelegt. Das Einspruchsschreiben trägt den Briefkopf des Rechtsanwalts v.O. in A. und die Unterschrift des Beklagten-Vertreters. Durch Urteil vom 9. Mai 2008 hat das Amtsgericht den Einspruch als unzulässig verworfen. Das Urteil ist ausweislich der Zustellungsurkunde am 23. Mai 2008 dem Beklagten-Vertreter unter der Kanzleiadresse des Rechtsanwalts v.O. in A. durch Übergabe an Rechtsanwalt v.O. zugestellt worden.
Durch undatiertes handschriftliches Schreiben, das beim Oberlandesgericht am 12. Juni 2008 eingegangen ist, hat der Beklagten-Vertreter (Adresse nunmehr: W-Straße in M.) gegen das Urteil "vom 11. Mai 1008" Berufung eingelegt. Eine Berufungsbegründung blieb in der Folgezeit aus. Durch den angefochtenen Beschluss hat das Oberlandesgericht die Berufung wegen Nichteinhaltung der Berufungsbegründungsfrist als unzulässig verworfen, ohne den Beklagten zuvor auf die Fristversäumung hinzuweisen.
Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Beklagten. Er beruft sich darauf, dass das amtsgerichtliche Urteil seinem Prozessbevollmächtigten nicht wirksam zugestellt worden sei.
II.
Die Rechtsbeschwerde führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und Zurückverweisung an das Oberlandesgericht.
1. Auf das Verfahren findet nach Art. 111 FGG-RG noch das bis zum 31. August 2009 geltende Verfahrensrecht Anwendung. Die Rechtsbeschwerde ist nach §§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft. Sie erfüllt auch die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO. Die Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts ist zur Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung erforderlich, denn der Beschluss des Oberlandesgerichts verletzt den Beklagten in seinem Grundrecht auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG.
2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet.
Zwar sieht § 522 Abs. 1 ZPO im Gegensatz zu § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO für den Fall einer Verwerfung eines unzulässigen Rechtsmittels eine Anhörung der Partei nicht ausdrücklich vor. Die Pflicht zur Anhörung des Rechtsmittelführers folgt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs indessen unmittelbar aus Art. 103 Abs. 1 GG (Senatsbeschlüsse vom 15. August 2007 - XII ZB 101/07 - NJW-RR 2007, 1718; vom 13. Juli 2005 - XII ZB 80/05 - NJW-RR 2006, 142 und vom 18. Juli 2007 - XII ZB 162/06 - FamRZ 2007, 1725). Art. 103 Abs. 1 GG gibt dem Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens ein Recht darauf, dass er Gelegenheit erhält, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt (hier: zu der vom Oberlandesgericht angenommenen Fristversäumung) zu äußern.
Das Oberlandesgericht hat dem Beklagten vor seiner Entscheidung den erforderlichen Hinweis auf die Fristversäumung nicht erteilt, so dass die Entscheidung allein aus diesem Grund rechtsfehlerhaft ist. Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Beschluss des Oberlandesgerichts nicht auf dem Verfahrensverstoß beruht oder sich aus anderen Gründen als richtig erweist (§ 577 Abs. 3 ZPO; vgl. Senatsurteil vom 10. Juli 1991 - XII ZR 109/90 -NJW 1991, 3036; Musielak/Ball ZPO 7. Aufl. § 561 Rdn. 3).
3. Das Oberlandesgericht wird nach der Zurückverweisung zu prüfen haben, ob die Zustellung nach § 178 ZPO wirksam war.
Das setzt zunächst voraus, dass es sich bei der Adresse um Geschäftsräume des Beklagten-Vertreters handelte, was bislang noch nicht abschließend aufgeklärt ist. Allein aus den Angaben des Beklagten-Vertreters und des Rechtsanwalts v.O. lässt sich noch nicht ohne weiteres die Unwirksamkeit der Zustellung folgern. Sie haben zwar übereinstimmend angegeben, der Beklagten-Vertreter habe bei Rechtsanwalt v.O. nie eine Kanzleiadresse unterhalten. Nicht erläutert worden ist allerdings, wieso der Beklagten-Vertreter mehrere Schreiben unter dem Briefkopf des Rechtsanwalts v.O. versandte. Unter anderem legte er den Einspruch gegen das Teil-Versäumnisurteil des Amtsgerichts unter dem Briefkopf des Rechtsanwalts v.O. ein und wurde der Schriftsatz von dessen Faxgerät aus versandt. Noch im Prozesskostenhilfeverfahren vor dem Senat hat der Beklagten-Vertreter auf diese Weise korrespondiert und ein Telefax von der Kanzlei des Rechtsanwalts v.O. versandt. Die Zustellung des angefochtenen Beschlusses hat der Beklagte ausweislich der Rechtsbeschwerdeschrift sogar gelten lassen, obwohl auch der angefochtene Beschluss unter der Kanzleiadresse des Rechtsanwalts v.O. - diesmal durch Einlegung in den "zur Wohnung" gehörenden Briefkasten - zugestellt worden ist.
Wenn nicht festzustellen ist, dass sich an der Kanzleiadresse des Rechtsanwalts v.O. ein Geschäftsraum des Beklagten-Vertreters befand, wird zu prüfen sein, ob der Beklagten-Vertreter nicht durch sein Verhalten einen darauf hindeutenden Rechtsschein erzeugt hat, der ebenfalls zur Wirksamkeit der Zustellung führen kann (vgl. Zöller/Stöber ZPO 28. Aufl. § 178 Rdn. 17 m.w.N.). Zudem wäre aber in diesem Fall für die wirksame Zustellung erforderlich, dass die Übergabe an eine "dort beschäftigte Person" erfolgte (§ 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO; vgl. dazu einerseits OLG München OLGZ 1907, 104; andererseits FG Hamburg EFG 2004, 1137).
Schließlich wäre bei einer nicht wirksamen Zustellung im Hinblick auf § 189 ZPO aufzuklären, wie (und wann) der Beklagten-Vertreter von dem Urteil des Amtsgerichts erfahren hat. Denn ohne Kenntnis von dem Urteil hätte er keine Veranlassung gehabt, dagegen Berufung einzulegen.
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