Entscheidungsdatum: 25.11.2014
Bei Inhaberschuldverschreibungen mit 100%igem Kapitalschutz oder mit bedingtem Kapitalschutz bezogen auf das Erreichen, Überschreiten oder Unterschreiten bestimmter Schwellenwerte oder Barrierepuffer stellt ein Sonderkündigungsrecht der Emittentin, verbunden mit dem Risiko eines teilweisen oder völligen Kapitalverlustes, eine für die Anlageentscheidung eines an Zertifikaten mit Kapitalschutz interessierten Anlegers wesentliche Anleihebedingung dar, über die ein solcher Kunde durch die ihn beratende Bank ungefragt aufzuklären ist.
Die Revision der Beklagten und die Anschlussrevision des Klägers gegen das Urteil des 6. Zivilsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Hamburg vom 11. April 2013 werden zurückgewiesen. Von den Kosten des Revisionsverfahrens tragen der Kläger 17% und die Beklagte 83%.
Von Rechts wegen
Der minderjährige Kläger verlangt von der beklagten Bank Schadensersatz im Zusammenhang mit dem Erwerb von Inhaberschuldverschreibungen.
Die Eltern des im Jahr 2002 geborenen Klägers eröffneten im selben Jahr für den Kläger bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten (nachfolgend: Beklagte) ein Wertpapierdepot, wobei sie sich wechselseitig das alleinige Verfügungsrecht einräumten. Die Mutter des Klägers erwarb im Mai 2008 auf Empfehlung eines Mitarbeiters der Beklagten (nachfolgend: Berater) für den Kläger "Lehman Brothers Aktien Kupon Anleihen auf sechs DAX Werte" zum Kurswert von insgesamt 33.099 €. Emittentin der Zertifikate war die niederländische Lehman Brothers Treasury Co. B.V. (nachfolgend: Emittentin), deren Verbindlichkeiten die US-amerikanische Lehman Brothers Holdings Inc. garantierte (nachfolgend: Garantin). In zwei Kurzinformationen über die Zertifikate heißt es u.a. "100% Kapitalschutz am Laufzeitende" bzw. "Kapitalschutz bzw. Rückzahlung: 100% des Emissionspreises (EUR 1.000,00)". Die Zertifikate hatten eine Laufzeit von sechs Jahren bis zum 23. Mai 2014 und waren auf die Aktienkurse von sechs DAX-Unternehmen als Basiswerte (Underlyings) bezogen. Nach den Anleihebedingungen sollten Anleger an sechs jährlichen Beobachtungstagen bis zu einem Kursrückgang der Basiswerte um 50% Kuponzahlungen in Höhe von 8,25% erhalten. Bei Berührung dieser Barriere durch einen der Basiswerte sollte die Kuponzahlung für die jeweilige Beobachtungsperiode entfallen. Entfallene Kuponauszahlungen sollten jedoch in den nachfolgenden Beobachtungsperioden nachgezahlt werden, wenn keiner der Basiswerte die 50%-Barriere berührte.
Den Zertifikaten lagen die Endgültigen Bedingungen der Emittentin vom 20. Mai 2008 zum Basisprospekt vom 28. August 2007 zu Grunde. Weder der Basisprospekt noch die Endgültigen Bedingungen einschließlich der darin enthaltenen Konsolidierten Bedingungen wurden der Mutter des Klägers ausgehändigt. Im Basisprospekt vom 28. August 2007 heißt es unter der Überschrift "Zusammenfassung der Risikofaktoren" unter anderem:
"Sollte einer oder sollten mehrere der unten beschriebenen Umstände eintreten, könnte es zu wesentlichen und nachhaltigen Kursrückgängen der Schuldverschreibung oder im Extremfall zu einem Totalverlust der Zinsen und des vom Anleger eingesetzten Kapitals kommen."
An anderer Stelle enthält der Basisprospekt folgende Hinweise:
"Die vorzeitige Rückzahlung der Schuldverschreibungen kann dazu führen, dass negative Abweichungen gegenüber der erwarteten Rendite eintreten und das eingesetzte Kapital zum Teil oder vollständig verloren ist.
…
Schuldverschreibungen können aus Steuergründen, nach Eintritt eines Kündigungsgrundes oder eines anderen in den Endgültigen Bedingungen festgelegten zusätzlichen Kündigungsereignisses vorzeitig zurückgezahlt werden. Die Endgültigen Bedingungen können vorsehen, [dass] der in diesem Zusammenhang zu zahlende vorzeitige Rückzahlungsbetrag der marktgerechte Wert der Schuldverschreibungen ist, der angepasst wurde, um etwaigen angemessenen Aufwendungen und Kosten bei der Auflösung von damit in Zusammenhang stehende[n] Absicherungs- und Finanzierungsvereinbarungen der Emittentin [Rechnung zu tragen]."
In den Endgültigen Bedingungen vom 20. Mai 2008 zum Basisprospekt vom 28. August 2007 heißt es unter der Überschrift "Vorzeitige Rückzahlung der Schuldverschreibungen":
"Gemäß den Konsolidierten Bedingungen kann die Emittentin die Schuldverschreibungen (unter anderem aus steuerlichen Gründen gemäß § 6(I) der Konsolidierten Bedingungen oder als mögliche, durch die Berechnungsstelle bestimmte Folge eines Fusionsereignisses, Übernahmeangebots, Delistings, einer Verstaatlichung oder Insolvenz gemäß § 4(f) der Konsolidierten Bedingungen) vor dem Endfälligkeitstag zurückzahlen. …
Der in einem solchen Fall fällige Vorzeitige Rückzahlungsbetrag (wie in § 4(b) definiert) wird von der Berechnungsstelle nach deren billigem Ermessen in kaufmännisch vernünftiger Weise als der zu diesem Zeitpunkt marktgerechte Wert der Schuldverschreibungen festgestellt, wie näher in den Konsolidierten Bedingungen beschrieben.
[Im Original fett gedruckt:] Investoren sollten beachten, dass im Falle einer solchen Vorzeitigen Rückzahlung dieser marktgerechte Wert unter Umständen unter dem Festgelegten Nennbetrag pro Schuldverschreibung bzw. dem Betrag, den ein Investor für die Schuldverschreibungen gezahlt hat, liegen kann und möglicherweise Null betragen kann."
In den Konsolidierten Bedingungen, die in den Endgültigen Bedingungen der Emittentin enthalten sind, werden als steuerliche Gründe geplante oder durchgeführte Veränderungen oder Ergänzungen steuerrechtlicher Vorschriften in den Ländern genannt, in denen die Emittentin und die Garantin ihren Sitz haben. Außerdem heißt es in der Zusammenfassung der Konsolidierten Anleihebedingungen in den Endgültigen Bedingungen unter der Überschrift "Vorzeitige Rückzahlung":
"Die Schuldverschreibungen können aufgrund bestimmter Ereignisse, wie in § 4(f), § 6(l) oder § 8 der Konsolidierten Bedingungen ausgeführt, vorzeitig zurückgezahlt werden.
[Im Original fett gedruckt:] In einem solchen Fall kann der Vorzeitige Rückzahlungsbetrag pro Schuldverschreibung unter dem Festgelegten Nennbetrag pro Schuldverschreibung liegen oder Null betragen."
Im September 2008 wurde die Garantin insolvent, was die Insolvenz der Emittentin nach sich zog. Forderungen gegen die Garantin konnten in deren Insolvenzverfahren bis zum 2. November 2009 angemeldet werden, wovon der Kläger allerdings keinen Gebrauch machte.
Mit seiner Klage verlangt der Kläger die Rückzahlung des Anlagebetrages in Höhe von 33.099 € sowie die Zahlung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten. Das Landgericht hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht das landgerichtliche Urteil abgeändert und die Beklagte zur Zahlung von 27.472,17 € Zug um Zug gegen Übertragung der Zertifikate sowie der Ansprüche des Klägers aus dem Insolvenzverfahren der Emittentin verurteilt und die Klage im Übrigen abgewiesen. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihr Klageabweisungsbegehren weiter. Mit seiner Anschlussrevision verfolgt der Kläger sein ursprüngliches Klagebegehren weiter.
A. Revision der Beklagten
Die Revision der Beklagten ist unbegründet.
I.
Das Berufungsgericht hat - soweit für die Revision der Beklagten von Interesse - im Wesentlichen ausgeführt:
Dem Kläger stehe gegen die Beklagte ein Schadensersatzanspruch wegen einer Falschberatung zu. Die Beklagte habe den Kläger nicht zutreffend über die Risiken der Kapitalanlage aufgeklärt, weil sie ihn nicht darüber informiert habe, dass es infolge des Sonderkündigungsrechts der Emittentin zu einer vorzeitigen Rückzahlung mit einem Kapitalverlust kommen könne. Die Beklagte habe hierüber aufklären müssen, weil durch die Betonung des 100%igen Kapitalschutzes am Laufzeitende der Zertifikate der Eindruck erweckt worden sei, die Emittentin sei in jedem Fall verpflichtet, das eingesetzte Kapital in vollem Umfang zurückzuzahlen und ein Risiko bestehe lediglich hinsichtlich der Verzinsung. Die als Kündigungsgründe der Emittentin genannten Ereignisse einer Fusion, einer Übernahme, einer Hedging-Störung oder eines Delistings eines der Basiswerte seien nicht von vornherein völlig unwahrscheinlich und würden beim Anleger im Fall einer vorzeitigen Rückzahlung der Schuldverschreibungen einen nicht unerheblichen finanziellen Schaden verursachen. Bei den in den Anleihebedingungen geregelten Kündigungsfolgen handele es sich auch nicht um Fälle eines Wegfalls der Geschäftsgrundlage, da vertragliche Regelungen nicht Geschäftsgrundlage sein könnten. Die Anleger würden im Falle einer Kündigung der Emittentin wirtschaftlich auch erheblich schlechter gestellt, da der versprochene Kapitalschutz entfalle und der kostenbereinigte Rückzahlungswert unterhalb des Nennbetrages liegen und sogar Null betragen könne. Der in den für verschiedene Anlageprodukte geltenden "Basisinformationen über Vermögensanlagen in Wertpapieren" enthaltene Hinweis auf das Kündigungsrecht der Emittentin, die die Mutter des Klägers bei Depoteröffnung erhalten habe, sei nicht ausreichend gewesen. Bei den streitgegenständlichen Zertifikaten sei durch die Betonung des 100%igen Kapitalschutzes der Eindruck erweckt worden, die Emittentin müsse das eingesetzte Kapital auf jeden Fall in voller Höhe zurückzahlen.
II.
Diese Beurteilung hält revisionsrechtlicher Prüfung stand, so dass die Revision zurückzuweisen ist.
1. Die Klage ist - wie die Revision nunmehr einräumt - zulässig, da der Vater des Klägers durch seine Erklärung vom 2. Oktober 2014 sämtliche Prozesshandlungen und -erklärungen der Mutter im bisherigen Verfahren genehmigt hat und dem Revisionsverfahren als gesetzlicher Vertreter des Klägers beigetreten ist. Damit wurde der auch in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu berücksichtigende Vertretungsmangel geheilt (st. Rspr., vgl. BGH, Urteil vom 19. Juli 2010 - II ZR 56/09, WM 2010, 1654 Rn. 8 mwN).
2. Soweit das Berufungsgericht den Inhalt der Endgültigen Bedingungen der streitgegenständlichen Zertifikate auf der Internetseite der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) unter www.bafin.de nach der Wertpapierkennnummer der Zertifikate WKN A0TVK2 recherchiert und als offenkundige Tatsache im Sinne von § 291 ZPO behandelt hat, ohne diese Bedingungen zu den Akten zu nehmen, verfolgt die Revision ihren Einwand eines Tatbestands- oder Begründungsmangels im Sinne von § 547 Nr. 6 ZPO nicht mehr weiter.
3. Das Berufungsgericht hat dem Kläger auch zu Recht einen Anspruch auf Schadensersatz aus § 280 Abs. 1 BGB zuerkannt, weil die Beklagte seine Mutter bei ihrer Empfehlung der streitgegenständlichen Zertifikate nicht ungefragt über das in den Anleihebedingungen vorgesehene Sonderkündigungsrecht der Emittentin aufgeklärt hat.
a) Nach den rechtsfehlerfreien und von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts ist zwischen dem Kläger, vertreten durch seine Mutter, und der Beklagten in Bezug auf die Empfehlung der Zertifikate ein Anlageberatungsvertrag zu Stande gekommen.
b) Zu Recht ist das Berufungsgericht auch davon ausgegangen, dass die Beklagte ihre Pflichten aus diesem Beratungsvertrag schuldhaft verletzt hat.
aa) Die beratende Bank ist zu einer anleger- und objektgerechten Beratung verpflichtet. Inhalt und Umfang der Beratungspflichten hängen dabei von den Umständen des Einzelfalls ab. Maßgeblich sind einerseits der Wissensstand, die Risikobereitschaft und das Anlageziel des Kunden und andererseits die allgemeinen Risiken, wie etwa die Konjunkturlage und die Entwicklung des Kapitalmarktes, sowie die speziellen Risiken, die sich aus den Besonderheiten des Anlageobjekts ergeben. Die Beratung hat sich auf diejenigen Eigenschaften und Risiken des Anlageobjekts zu beziehen, die für die jeweilige Anlageentscheidung wesentliche Bedeutung haben oder haben können. Während die Bank über diese Umstände richtig, sorgfältig, zeitnah, vollständig und für den Kunden verständlich zu unterrichten hat, muss die Bewertung und Empfehlung des Anlageobjekts unter Berücksichtigung der genannten Gegebenheiten lediglich ex ante betrachtet vertretbar sein. Das Risiko, dass sich eine aufgrund anleger- und objektgerechter Beratung getroffene Anlageentscheidung im Nachhinein als falsch erweist, trägt der Anleger (vgl. Senatsurteile vom 27. September 2011 - XI ZR 182/10, BGHZ 191, 119 Rn. 22 und vom 29. April 2014 - XI ZR 130/13, WM 2014, 1221 Rn. 16, jeweils mwN).
bb) Ausgehend von diesen Maßstäben hat das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei angenommen, dass die Beklagte verpflichtet war, die Mutter des Klägers vor dem Erwerb der streitgegenständlichen Zertifikate darüber aufzuklären, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Folgen der Emittentin bereits vor dem Laufzeitende ein Sonderkündigungsrecht zusteht. Die hiergegen von der Revision vorgebrachten Einwände bleiben ohne Erfolg.
(1) Nach den unangegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts hat die Beklagte der Mutter des Klägers im Zusammenhang mit dem Beratungsgespräch am 20. Mai 2008 weder den Basisprospekt vom 28. August 2007 noch die auf dessen Grundlage erstellten Endgültigen Bedingungen vom 20. Mai 2008, in denen eine Zusammenfassung der Konsolidierten Anleihebedingungen enthalten war, übergeben und der Mutter des Klägers auch sonst keinen Hinweis auf das Sonderkündigungsrecht der Emittentin erteilt.
(2) Anders als die Revision meint, handelt es sich bei dem Sonderkündigungsrecht um einen Umstand, der für die Anlageentscheidung des Klägers zum Erwerb der streitgegenständlichen Zertifikate wesentliche Bedeutung hatte. Bei der Empfehlung von Inhaberschuldverschreibungen mit einem unbedingten Kapitalschutz zum Laufzeitende oder einem bedingten Kapitalschutz bis zum Erreichen, Überschreiten oder Unterschreiten einer bestimmten Sicherheitsbarriere ist die beratende Bank deshalb verpflichtet, einen Anleger ungefragt über ein Sonderkündigungsrecht der Emittentin aufzuklären, bei dessen Ausübung für den Anleger das Risiko eines teilweisen oder vollständigen Kapitalverlustes besteht.
(a) Kennzeichnend für Inhaberschuldverschreibungen mit einem 100%igen Kapitalschutz ist, dass durch den Kapitalschutz dem Anleger die Rückzahlung seines Anlagebetrages zum Laufzeitende vorbehaltlos garantiert wird. Dadurch beschränkt sich das über das Bonitätsrisiko der Emittentin hinausgehende Risiko des Anlegers bei solchen Zertifikaten darauf, dass er mit dem Anlagebetrag keinen Gewinn erwirtschaftet. Bei Zertifikaten mit bedingtem Kapitalschutz bezogen auf das Erreichen, Überschreiten oder Unterschreiten von bestimmten Schwellenwerten oder Barrierepuffern der Basiswerte führt der Kapitalschutz demgegenüber dazu, dass dem Anleger die Rückzahlung seines Anlagebetrages jedenfalls bis zum Eintritt eines prozentual bestimmten Anstieges oder Rückganges der Basiswertkurse gewährleistet wird. Bis zu diesem Zeitpunkt trägt auch hier der Anleger lediglich das Bonitätsrisiko der Emittentin, nicht jedoch ein Kapitalverlustrisiko.
Ein Sonderkündigungsrecht als zusätzliche einseitige Einwirkungsbefugnis der Emittentin auf diese Rahmenbedingungen schafft demgegenüber für den Anleger ein zusätzliches Risiko (Podewils, ZHR 174 (2010), 192, 193), das dem Wesensmerkmal des Kapitalschutzes diametral entgegensteht, denn der im Kündigungsfall von der Berechnungsstelle der Emittentin festzulegende kostenbereinigte Marktwert der Zertifikate kann den Anlagebetrag unterschreiten, dessen Garantie dann gerade entfällt. Dabei handelt es sich um eine für die Anlageentscheidung eines an Zertifikaten mit Kapitalschutz interessierten Anlegers wesentliche Anleihebedingung, über die ein solcher Kunde durch die ihn beratende Bank aufzuklären ist. In entsprechender Anwendung der für die bürgerlich-rechtliche Prospekthaftung im engeren Sinne entwickelten Grundsätze, wonach ein Prospekt über alle Umstände sachlich richtig, vollständig und zeitnah unterrichten muss, die für die Anlageentscheidung von wesentlicher Bedeutung sein können, ist eine Anleihebedingung als wesentlich anzusehen, wenn sie Umstände betrifft, die den Zweck der Kapitalanlage vereiteln können und die ein Anleger deshalb bei seiner Anlageentscheidung "eher als nicht" berücksichtigen würde (st. Rspr., zuletzt Senatsurteil vom 18. September 2012 - XI ZR 344/11, BGHZ 195, 1 Rn. 23 f. mwN). Dies ist bei einem Kündigungsrecht der Emittentin, dessen Ausübung zu einer Reduzierung des Rückzahlungsbetrages einer Anleihe mit Kapitalschutz bis auf Null führen kann, ohne weiteres der Fall.
Auch die Emittentin hat dies offensichtlich so gesehen, denn sie hat in ihren - dem Kläger freilich vorenthaltenen - Anleihebedingungen gleich an mehreren Stellen im Fettdruck hervorgehoben, dass Investoren beachten sollten, dass der im Falle einer Kündigung der Emittentin zu ermittelnde Marktwert der Zertifikate unter Umständen unter dem festgelegten Nennbetrag pro Schuldverschreibung bzw. dem Betrag, den ein Investor für die Schuldverschreibungen gezahlt hat, liegen kann und möglicherweise Null betragen kann.
(b) Entgegen der Auffassung der Revision entfällt diese Aufklärungspflicht der beratenden Bank nicht deshalb, weil in den Anleihebedingungen ein Sonderkündigungsrecht der Emittentin nur für Ausnahmekonstellationen geregelt wäre, deren Eintritt von vornherein völlig unwahrscheinlich wäre. Zutreffend ist das Berufungsgericht demgegenüber davon ausgegangen, dass auch der wenig wahrscheinliche Eintritt eines solchen Kündigungsgrundes, wie etwa eines Delistings, einer Verstaatlichung oder einer Insolvenz einer Großbank oder eines DAX-Unternehmens, für einen auf den Erhalt seines eingesetzten Kapitals bedachten Anleger von entscheidender Bedeutung sein kann. Da die Berechnungsstelle der Emittentin den kostenbereinigten Rückzahlungsbetrag nach billigem Ermessen festsetzen kann, droht bei einer Kündigung der Emittentin dem Erwerber von Zertifikaten mit 100%igem oder mit bedingtem Kapitalschutz bereits vor dem Erreichen des Barrierepuffers ein erheblicher finanzieller Schaden bis hin zum Totalverlust seines eingesetzten Kapitals.
Zu Recht weist die Revisionserwiderung auch darauf hin, dass dies hinsichtlich des streitgegenständlichen Zertifikats umso mehr gilt, als zu den Gründen für das Sonderkündigungsrecht der Emittentin nicht nur eine tatsächlich erfolgte, sondern bereits eine nur geplante Änderung oder Ergänzung steuerrechtlicher Vorschriften in einem der Herkunftsländer der Emittentin bzw. der Garantin zählt. Da Planungen zur Änderung oder Ergänzung steuerrechtlicher Vorschiften angesichts der Komplexität und der Dauer nationalstaatlicher Gesetzgebungsverfahren im Grunde immer stattfinden und darüber hinaus völlig offen ist, ab wann im Sinne der Anleihebedingungen von der "Planung" einer Steuerrechtsänderung auszugehen ist, wird der Emittentin durch diesen Sonderkündigungsgrund praktisch die Möglichkeit eingeräumt, sich bei einer für sie ungünstigen Entwicklung der Underlyings ohne Weiteres ihren Verpflichtungen aus dem Kapitalschutz der Zertifikate zu entziehen.
(c) Gleichfalls ohne Erfolg beruft sich die Revision darauf, dass der wirtschaftliche Nachteil, den der Anleger bei einer Kündigung durch die Emittentin vor Ablauf des Anlagezeitraumes erleidet, nur gering und deshalb zu vernachlässigen sei. Davon kann angesichts der in den Anleihebedingungen geregelten Folgen einer Emittentenkündigung schon deshalb keine Rede sein, weil die Emittentin selbst davon ausgeht, dass der von der Berechnungsstelle im Kündigungsfalle zu ermittelnde marktgerechte Wert der Zertifikate deren Nennbetrag bzw. den Anlagebetrag nicht nur unterschreiten, sondern sogar Null betragen kann. Für den auf die Sicherheit seines Kapitals bedachten Erwerber eines Zertifikats mit Kapitalschutz ist dies kein zu vernachlässigender Nachteil.
(d) Soweit die Revision außerdem geltend macht, bei den Fällen, in denen der Emittentin ein Sonderkündigungsrecht zusteht, handle es sich um Sachverhalte, in denen das aus dem Zertifikat resultierende Schuldverhältnis zwischen ihr und dem Anleger ohnehin nicht mehr durchführbar bzw. so erheblich gestört sei, dass eine Anpassung der Anleihebedingungen schon nach § 313 BGB geboten sei, ist dieser Einwand für die Beantwortung der Frage nach den Anforderungen an eine objektgerechte Beratung der Bank bei der Empfehlung von Zertifikaten mit Kapitalschutz ohne Aussagekraft. Einer Emittentin, die eine Kapitalgarantie in den Fällen einer schwerwiegenden Veränderung der bei Vertragsschluß maßgeblichen Umstände nicht mehr übernehmen will, ist es unbenommen, dem Instrumentarium des § 313 BGB nachgebildete Regelungen in ihre Anleihebedingungen aufzunehmen. Versieht sie ihre Schuldverschreibungen jedoch gleichwohl mit werbenden Bezeichnungen wie z.B. "Garantiezertifikat", "Kapitalschutz", "Sicherheitsschwelle" oder "Barrierepuffer", so handelt es sich bei den dazu im Widerspruch stehenden Rechtsfolgen ihrer Kündigung um für den Anlageentschluss eines Kapitalanlegers wesentliche Umstände, über die er durch die ihn beratende Bank, wenn diese ihm - wie hier - die Anleihebedingungen der Emittentin nicht zur Verfügung stellt, jedenfalls auf andere Weise aufgeklärt werden muss. Denn anders als die Revision meint, entsprechen die streitgegenständlichen Regelungen zu den Voraussetzungen und Rechtsfolgen einer Sonderkündigung der Emittentin weder bei Zertifikaten mit 100%igem noch bei solchen mit bedingtem Kapitalschutz dem allgemeinen Erwartungshorizont eines Anlegers.
(3) Schließlich hat das Berufungsgericht auch rechtsfehlerfrei und von der Revision nicht angegriffen das Verschulden der Beklagten hinsichtlich der Verletzung ihrer Pflicht zur objektgerechten Beratung des Klägers über das Kündigungsrecht der Emittentin bejaht (§ 276 BGB).
4. Da die Beklagte somit ihre Verpflichtung zur objektgerechten Beratung durch die unterlassene Aufklärung über das Kündigungsrecht der Emittentin schuldhaft verletzt hat, bedarf es vorliegend keiner Entscheidung darüber, ob ihr - wie das Berufungsgericht gemeint hat - auch deshalb ein Beratungsfehler vorzuwerfen ist, weil sie die Mutter des Klägers vor der Anlageentscheidung im Mai 2008 nicht auf Presseberichte aus dem Zeitraum März/April 2008 hingewiesen hat, in denen Zweifel an der Liquidität und wirtschaftlichen Stabilität der Emittentin geäußert worden waren.
B. Anschlussrevision des Klägers
Die Anschlussrevision des Klägers ist gleichfalls unbegründet.
I.
Das Berufungsgericht hat - soweit für die Anschlussrevision des Klägers von Interesse - im Wesentlichen ausgeführt:
Die Beklagte könne sich mit Erfolg auf eine Verletzung der Schadensminderungspflicht des Klägers berufen, weil dieser seine Forderung im Insolvenzverfahren der Garantin in den USA nicht angemeldet habe. Nach der Insolvenz der Emittentin sei klar gewesen, dass der Kläger seinen Schaden nicht allein durch eine Anmeldung seiner Insolvenzforderung gegenüber der Emittentin würde ausgleichen können. Bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt habe er seine Forderung auch im Insolvenzverfahren der Garantin anmelden müssen, worauf er seinerzeit in der Presse und durch Verbraucherzentralen hingewiesen worden sei. Zudem sei die Frist zur Forderungsanmeldung in den USA auch bei Rechtshängigkeit der Klage noch nicht abgelaufen gewesen, so dass die Mutter des Klägers bereits fachkundigen Rechtsbeistand gehabt habe. Soweit der Kläger für die Forderungsanmeldung eigene finanzielle Mittel hätte aufwenden müssen, hätte er diese als Schaden geltend machen können. Den Mitverschuldensanteil könne das Gericht gemäß § 287 ZPO auf 17% des Anlagebetrages, mithin auf 5.626,83 € schätzen. Die Beklagte habe belegt, dass sämtliche Insolvenzforderungen bis zu einem Betrag von 50.000 US-Dollar pauschal mit 17% vergütet würden.
II.
Diese Ausführungen halten rechtlicher Nachprüfung stand. Entgegen der Rechtsauffassung der Anschlussrevision hat das Berufungsgericht den Schadensersatzanspruch des Klägers gemäß § 254 Abs. 2 Satz 1 BGB i.V.m. § 287 ZPO rechtsfehlerfrei um 17% gekürzt.
1. Die im Rahmen des § 254 Abs. 2 Satz 1 BGB gebotene Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensbeiträge ist grundsätzlich dem Tatrichter vorbehalten und kann vom Revisionsgericht nur eingeschränkt daraufhin überprüft werden (BGH, Urteile vom 8. Juli 1986 - VI ZR 47/85, BGHZ 98, 148, 158 und vom 28. Mai 2002 - XI ZR 336/01, WM 2002, 1502, 1503), ob der Tatrichter alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und seiner Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt hat (BGH, Urteil vom 25. März 2003 - VI ZR 161/02, NJW 2003, 1929, 1931 mwN). Nach diesen Maßstäben ist die Entscheidung des Berufungsgerichts nicht zu beanstanden.
2. Anders als die Anschlussrevision meint, hat das Berufungsgericht weder die Anforderungen an die Schadensminderungspflicht des Klägers überspannt (a) noch die in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes für vergleichbare Fälle entwickelten Grundsätze verkannt (b) noch den Mitverschuldensanteil des Klägers zu hoch bemessen (c).
a) Für das Bestehen der aus dem Grundsatz von Treu und Glauben abgeleiteten Verpflichtung des Geschädigten zur Schadensminderung ist es - anders als die Anschlussrevision meint - ohne Belang, dass der dem Kläger durch den Beratungsfehler der Beklagten zugefügte Vermögensschaden bereits mit dem Erwerb des streitgegenständlichen Zertifikats im Mai 2008 entstanden ist (Senatsurteil vom 8. März 2005 - XI ZR 170/04, BGHZ 162, 306, 309 f. mwN).
Bei der Schadensminderungspflicht des Geschädigten im Sinne von § 254 BGB handelt es sich um ein Verschulden in eigener Angelegenheit, infolge dessen derjenige, der die Sorgfalt außer Acht lässt, die nach Lage der Sache erforderlich erscheint, um sich selbst vor Schaden zu bewahren, den Verlust oder die Kürzung seines eigenen Schadensersatzanspruches in Kauf nehmen muss (BGH, Urteil vom 22. Januar 1959 - VIII ZR 15/58, WM 1959, 347 mwN). Dass die Obliegenheit des Geschädigten zur Schadensminderung über den Zeitpunkt der Schadensentstehung hinaus fortbesteht, ergibt sich denknotwendig bereits daraus, dass nur ein bereits entstandener Schaden gemindert werden kann. Eine zeitliche Grenze für die diesbezügliche Obliegenheit des Geschädigten besteht nicht.
b) Entgegen der Rechtsauffassung der Anschlussrevision hat das Berufungsgericht auch die Anwendbarkeit der im dem Urteil des Bundesgerichtshofes vom 22. Januar 1959 (VIII ZR 15/58, WM 1959, 347 f.) entwickelten Rechtsprechungsgrundsätze auf den vorliegenden Fall zu Recht verneint, da dieser Entscheidung kein vergleichbarer Sachverhalt zugrunde lag. Insbesondere hat der Bundesgerichtshof in der o.g. Entscheidung die Inanspruchnahme einer Bank aus einer Garantie mit der Begründung abgelehnt, dass es dem in § 771 BGB geregelten Schutz des Bürgen durch die Einrede der Vorausklage zuwiderlaufe, wenn ein Geschädigter zuerst von einem Bürgen oder einem Garanten Erfüllung verlange, um die Hauptschuldner vor einer Inanspruchnahme aus einem Schadensersatzanspruch wegen Nichterfüllung zu bewahren (BGH, Urteil vom 22. Januar 1959 - VIII ZR 15/58, WM 1959, 347, 348).
Vorliegend geht es demgegenüber - worauf die Anschlussrevisionserwiderung zu Recht hinweist - um eine damit nicht vergleichbare Konstellation, denn die Lehman Brothers Holding Inc. hat keineswegs die Erfüllung der Schadensersatzansprüche des Klägers gegen die Beklagte, sondern die Erfüllung der im streitgegenständlichen Zertifikat verbrieften Rückzahlungsansprüche des Klägers gegen die Emittentin garantiert. Eine Inanspruchnahme der Beklagten ist deshalb - anders als in dem der o.g. Entscheidung des VIII. Zivilsenats zugrunde liegenden Fall - gerade nicht vorrangig im Sinne von § 771 BGB gegenüber einer Inanspruchnahme der Garantin. Zudem würde die Erlangung von Zahlungen aus dem Insolvenzverfahren der Garantin durch den Kläger - ebenfalls anders als in dem o.g. Fall - durchaus dazu führen, dass die Beklagte von ihrer Verpflichtung zum Schadensersatz gegenüber dem Kläger frei würde.
c) Das Berufungsgericht hat den Mitverschuldensanteil des Klägers mit 17% des Anlagebetrages auch nicht zu hoch bemessen. Bei ihrer gegenteiligen Auffassung verkennt die Anschlussrevision, dass das Berufungsgericht eine Schadensschätzung gemäß § 254 Abs. 2 Satz 1 BGB i.V.m. § 287 ZPO vorgenommen hat. Diese hat der Tatrichter - anders als eine Ursachenabwägung gemäß § 286 ZPO - nach freiem Ermessen vorzunehmen. Sie unterliegt nur einer beschränkten Nachprüfung durch das Revisionsgericht dahingehend, ob der Tatrichter erhebliches Vorbringen der Parteien unberücksichtigt gelassen, Rechtsgrundsätze der Schadensbemessung verkannt, wesentliche Bemessungsfaktoren außer Acht gelassen oder seiner Schätzung unrichtige Maßstäbe zugrunde gelegt hat (st. Rspr., vgl. nur Senatsurteil vom 26. Februar 2013- XI ZR 345/10, BKR 2013, 283 Rn. 48 mwN).
In Anwendung dieser Grundsätze ist die Schätzung des Berufungsgerichts nicht zu beanstanden. Soweit die Anschlussrevision geltend macht, dass das Berufungsgericht nicht berücksichtigt habe, dass es sich bei der vom Insolvenzverwalter der Garantin auf Forderungen bis zu einer Höhe von 50.000 US-Dollar pauschal geleisteten Zahlung von 17% nicht um eine feste und endgültige Insolvenzquote, sondern lediglich um eine geschätzte Erwartung gehandelt habe, trifft dies nicht zu. Das Berufungsgericht ist im Rahmen seiner Schätzung ausdrücklich davon ausgegangen, dass die von ihm als Anhaltspunkt gewählten Zahlungen in Höhe von 17% auf Insolvenzforderungen bis zu 50.000 US-Dollar vor der ordnungsgemäßen Beendigung des Insolvenzverfahrens der Garantin lediglich pauschal erfolgt waren. Anders als die Anschlussrevision meint, hat das Berufungsgericht damit sein Ermessen gemäß § 287 ZPO tatsächlich ausgeübt.
Joeres Ellenberger Maihold
Matthias Derstadt