Entscheidungsdatum: 26.02.2013
Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten wird der Beschluss des 19. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 27. Juli 2012 aufgehoben.
Der Beklagten wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Berufung gegen das Urteil der 27. Zivilkammer des Landgerichts München I vom 5. Januar 2012 gewährt.
Der Gegenstandswert für das Beschwerdeverfahren beträgt bis zu 500.000 €.
I.
Der Kläger nimmt die beklagte Bank auf Feststellung, dass ihr aus verschiedenen Swap-Verträgen keine Ansprüche zustehen, auf Schadensersatz und auf Freistellung in Anspruch. Das der Klage im Wesentlichen stattgebende Urteil des Landgerichts ist dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten am 19. Januar 2012 zugestellt worden. Am 23. Januar 2012 ist ihm das Urteil mit folgendem Anschreiben des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle erneut zugestellt worden: "In der Anlage erhalten Sie nochmals das Urteil vom 05.01.2012, da fehlerhafte Ausfertigungen in den Postversand gegeben wurden. Auf der Rückseite wurde ein verfahrensfremdes Urteil abgelichtet. Sie werden gebeten, die bereits übersandten Urteile zu vernichten und das Eingangsdatum der überarbeiteten Fassung auf dem Empfangsbekenntnis zu notieren."
Der Prozessbevollmächtigte der Beklagten hat am 23. Februar 2012 Berufung eingelegt und innerhalb der vom Vorsitzenden des Berufungsgerichts verlängerten Frist begründet. Mit einem am 25. Mai 2012 zugestellten Schreiben hat der Vorsitzende des Berufungsgerichts den Prozessbevollmächtigten der Beklagten darauf hingewiesen, dass die Berufungsschrift nicht fristgemäß bei Gericht eingegangen sei. Die erste Zustellung sei wirksam gewesen und habe die Berufungsfrist in Lauf gesetzt. Am 8. Juni 2012 hat der Prozessbevollmächtigte der Beklagten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt.
Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Berufungsgericht den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Dagegen wendet sich die Beklagte mit der Rechtsbeschwerde.
II.
Die Rechtsbeschwerde ist zulässig und begründet.
1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 522 Abs. 1 Satz 4, § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO statthaft und auch im Übrigen zulässig (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Fall 2, § 575 ZPO). Eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts ist zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich, weil die angefochtene Entscheidung, wie die Rechtsbeschwerde zu Recht rügt, von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes abweicht.
2. Die Rechtsbeschwerde ist begründet.
a) Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:
Die Berufung sei nicht innerhalb der Berufungsfrist, die mit der ersten Zustellung des landgerichtlichen Urteils am 19. Januar 2012 begonnen und am 20. Februar 2012 geendet habe, eingelegt worden. Die erste Zustellung sei ungeachtet des Umstandes, dass die zugestellte Ausfertigung nach dem angefochtenen Urteil eine weitere Entscheidung des Landgerichts zu einem anderen Kläger enthalten habe, wirksam.
Der Wiedereinsetzungsantrag sei unbegründet, weil die Berufungsfrist nicht ohne Verschulden des Prozessbevollmächtigten des Klägers (§ 85 Abs. 2 ZPO) versäumt worden sei. Der Bundesgerichtshof habe zwar durch Beschluss vom 4. Mai 2005 - I ZB 38/04 entschieden, dass die irrige Annahme eines Prozessbevollmächtigten, erst die zweite Zustellung habe die Frist in Lauf gesetzt, ihm nicht zum Verschulden gereiche, wenn eine erneute Zustellung den Eindruck erwecke, das Gericht habe die erste Zustellung als unwirksam angesehen; dies gelte umso mehr, wenn der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle bei der zweiten Zustellung in einem Begleitschreiben bitte, die Mängel der ersten Ausfertigung zu entschuldigen, und erkläre, die zunächst erteilte Ausfertigung könne als gegenstandslos betrachtet werden. Der im vorliegenden Fall gegebene Hinweis könne nicht anders verstanden werden. Der Senat teile aber für den vorliegenden Fall einer Zustellung durch einen bayerischen Justizangestellten als Urkundsbeamten nicht die Auffassung des Bundesgerichtshofs, ein Prozessbevollmächtigter könne auf dessen Erklärung in gleicher Weise vertrauen wie auf die eines Richters. In Bayern sei eine eigene Ausbildung zum Justizfachangestellten nicht vorgesehen. Die Qualifizierung für diese Tätigkeit erfolge am Arbeitsplatz und durch justizinterne Schulungen. Bei den bayerischen Justizangestellten handele es sich um angelernte Arbeitskräfte, auf deren Erklärung ein Rechtsanwalt nicht ebenso vertrauen könne wie auf die eines Richters.
Der Grundsatz des fairen Verfahrens gebiete keine andere Entscheidung. Die wiederholte Zustellung und das Begleitschreiben des angelernten Justizangestellten seien kaum geeignet gewesen, bei dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten einen nachvollziehbaren Rechtsirrtum über die Wirksamkeit der ersten Zustellung hervorzurufen. Die in dem Begleitschreiben vertretene Auffassung sei - für einen Rechtsanwalt erkennbar - offenkundig fehlerhaft. Dies zeige die ausführliche Kommentierung in den Standardkommentaren zur ZPO. Ob und welche eigene Prüfung der Prozessbevollmächtigte der Beklagten angestellt habe, sei nicht vorgetragen.
b) Diese Ausführungen halten rechtlicher Überprüfung im entscheidenden Punkt nicht stand.
aa) Allerdings ist das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei und von der Rechtsbeschwerde unangegriffen davon ausgegangen, dass die erste Zustellung des landgerichtlichen Urteils am 19. Januar 2012 wirksam war. Das Verständnis des Tatbestandes und der Entscheidungsgründe dieses Urteils ist durch den zusätzlichen Abdruck einer weiteren Entscheidung nicht erschwert oder gar vereitelt worden (vgl. hierzu: BGH, Beschlüsse vom 13. April 2000 - V ZB 48/99, NJW-RR 2000, 1665, 1666 und vom 4. Mai 2005 - I ZB 38/04, NJW-RR 2005, 1658).
bb) Rechtsfehlerhaft ist hingegen die Begründung, mit der das Berufungsgericht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist versagt hat. Den Prozessbevollmächtigten der Beklagten trifft kein der Beklagten zurechenbares Verschulden (§ 85 Abs. 2 ZPO) an der Versäumung der Berufungsfrist.
Mit seiner gegenteiligen Ansicht überspannt das Berufungsgericht die Anforderungen an die Sorgfaltspflichten des Prozessbevollmächtigten der Beklagten. Dessen irrige Annahme, erst die zweite Zustellung habe die Berufungsfrist in Lauf gesetzt, weil die erste Zustellung unwirksam gewesen sei, ist durch die vom Gericht veranlasste erneute Zustellung des Urteils ausgelöst worden. Ein solcher Irrtum gereicht ihm nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht zum Verschulden. Die erneute Zustellung des Urteils musste den Eindruck erwecken, das Gericht habe die erste Zustellung als unwirksam angesehen, da nur in diesem Falle Veranlassung bestand, das Urteil nochmals zuzustellen. Wenn das Gericht eine zweite Zustellung als notwendig ansah, durfte der Anwalt darauf vertrauen, dass es sich dabei um eine sinnvolle Maßnahme handelte, und davon ausgehen, dass erst diese Zustellung die Berufungsfrist in Lauf gesetzt hat (vgl. BGH, Beschlüsse vom 26. Oktober 1994 - IV ZB 12/94, VersR 1995, 680, 681 und vom 4. Mai 2005 - I ZB 38/04, NJW-RR 2005, 1658 f.).
Dies gilt umso mehr, als der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle bei der zweiten Zustellung in einem Begleitschreiben ausdrücklich die zunächst zugestellte Ausfertigung als fehlerhaft bezeichnet und gebeten hat, sie zu vernichten und das Eingangsdatum der überarbeiteten Fassung auf dem Empfangsbekenntnis zu notieren. Diese Erklärung konnte der Prozessbevollmächtigte der Beklagten, ohne fahrlässig zu handeln, so verstehen, dass das Datum der zweiten Zustellung für den Fristbeginn maßgeblich sein sollte. Hierauf durfte er mit Rücksicht auf die Zuständigkeit des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle im Bereich der Zustellung vertrauen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 26. Oktober 1994 - IV ZB 12/94, VersR 1995, 680, 681 und vom 4. Mai 2005 - I ZB 38/04, NJW-RR 2005, 1658, 1659). Der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle führt gemäß § 168 Abs. 1 Satz 1 ZPO die Zustellungen aus. Er hat sie nach eigener Prüfung zu veranlassen, ihre Durchführung zu überwachen und gegebenenfalls für die Wiederholung einer mangelhaften Zustellung zu sorgen (BGH, Beschluss vom 26. Oktober 1994 - IV ZB 12/94, VersR 1995, 680, 681 zu § 209 ZPO aF; Zöller/Stöber, ZPO, 29. Aufl., § 168 Rn. 3 f. zu § 168 ZPO nF). Aus dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 20. Oktober 2005 (IX ZB 147/01, NJW-RR 2006, 563 f.) ergibt sich nichts anderes. In dem zugrunde liegenden Fall konnte aus der zweiten Zustellung nicht abgeleitet werden, dass der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle die erste als unwirksam angesehen hatte; er hatte eine entsprechende Erklärung nicht abgegeben.
Die Ausführungen des Berufungsgerichts geben keine Veranlassung, diese Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zu ändern. Das Berufungsgericht meint, auf die Erklärung eines bayerischen Justizangestellten, der eine angelernte Arbeitskraft sei und für den eine eigene Ausbildung nicht vorgesehen sei, könne nicht in gleicher Weise wie auf die Erklärung eines Richters vertraut werden. Auf die Ausbildung eines Urkundsbeamten der Geschäftsstelle kommt es aber nicht entscheidend an. Maßgeblich ist vielmehr, dass er das für die Ausführung der Zustellung zuständige, unabhängige Organ der Rechtspflege ist (OLG Frankfurt, OLGR 2002, 167, 168; Zöller/Stöber, ZPO, 29. Aufl., § 168 Rn. 1). Aufgrund seiner Zuständigkeit für die Zustellung durfte der Prozessbevollmächtigte der Beklagten auf seine Erklärung vertrauen. Deshalb war der Prozessbevollmächtigte der Beklagten auch nicht gehalten, die Wirksamkeit der Zustellung selbständig zu prüfen.
3. Der angefochtene Beschluss ist somit aufzuheben (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO). Der Beklagten ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Berufung zu gewähren (§ 577 Abs. 5 Satz 1 ZPO), da auch die weiteren Voraussetzungen der Wiedereinsetzung vorliegen. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeerwiderung musste die Beklagte nicht darlegen, wann das Hindernis, d.h. der Irrtum hinsichtlich der Zustellung, weggefallen ist. Die Darlegung, wann das der Fristwahrung entgegenstehende Hindernis behoben worden ist, ist entbehrlich, wenn die Wahrung der Frist des § 234 ZPO aktenkundig ist (BGH, Beschluss vom 5. Dezember 1979 - VIII ZB 42/79, VersR 1980, 264). Dies ist hier der Fall. Das Hindernis ist durch das am 25. Mai 2012 zugestellte Hinweisschreiben des Vorsitzenden des Berufungsgerichts weggefallen. Danach ist die Wiedereinsetzungsfrist durch den am 8. Juni 2012 bei Gericht eingegangenen Antrag gewahrt worden.
Wiechers Joeres Matthias
Pamp Menges