Entscheidungsdatum: 16.06.2015
NV: Hat das FA während des Revisionsverfahrens mehrere Änderungsbescheide sowie einen Aufhebungsbescheid zu einem der Änderungsbescheide erlassen, die teilweise vor und teilweise nach Insolvenzeröffnung ergangen sind, ist die Sache an das FG zurückzuverweisen, wenn aufgrund des Vortrags der Beteiligten sowie der Vorgänge nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens sich im Streitfall tatsächliche Fragen stellen, die bisher nicht geklärt sind .
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Finanzgerichts München vom 20. Februar 2013 3 K 2222/10 aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht München zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens übertragen.
I. Die X-GmbH (GmbH) vertrieb im Streitjahr (2009) u.a. Waren über Telefon, Internet und Printmedien. Dabei bediente sich die GmbH für die Versendung ihrer Waren an Endverbraucher in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) eines in der Schweizerischen Eidgenossenschaft (Schweiz) ansässigen externen Dienstleistungsunternehmens, der Firma Y.
Die Waren der GmbH wurden in das Logistikzentrum der Y in der Schweiz verbracht, logistisch erfasst und gelagert. Nach Eingang einer Bestellung aus Deutschland wurde die Ware konfektioniert, d.h. insbesondere verpackt, mit Adressaufklebern versehen und zum Verteilerzentrum der V in A, Deutschland, oder der Firma F in B, Deutschland, verbracht. Von dort wurde die Ware an die Kunden in Deutschland (weiter) versendet.
Dazu war im Vertrag zwischen der GmbH und der Y vereinbart, dass die für das Ausland aus der Schweiz abgehenden Sendungen durch die Y zur Ausfuhr aus der Schweiz angemeldet werden.
Gegenüber den Kunden verwendete die GmbH Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB), in denen (unabhängig vom Bestellweg) folgende vorformulierte Klausel enthalten war: |
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"Wir können in Ihrem Namen alle für die Einfuhr aus der Schweiz nötigen Erklärungen abgeben. Für alle eventuellen Zölle und Steuern kommt die GmbH für Sie auf. Dieser Service ist gratis." |
Aufgrund dieser Klausel wurden Waren mit einem Warenwert von bis zu 22 € im Sammelanmeldeverfahren aufgrund von Anträgen auf "Freischreibung" (Steuerbefreiung) von Sendungen im Namen der Endkunden beim Zollamt Z (Zollamt) zur Einfuhr nach Deutschland zollamtlich abgefertigt. Dabei wurden die einzelnen Leistungsempfänger in einer separaten Liste mit Namen, Adresse, Ware und Warenwert jeweils dokumentiert.
Bei Lieferungen mit einem Warenwert von über 22 € erfolgte die Zollabfertigung hingegen zwar gleichfalls im Wege einer Sammelzollanmeldung, aber im Namen und für Rechnung der GmbH.
Die GmbH sah die Lieferungen an Endkunden bis zu einem Warenwert von 22 € als nicht im Inland steuerbar an. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) unterwarf dagegen nach Durchführung einer Außenprüfung im Änderungsbescheid über die Umsatzsteuer-Vorauszahlung für den Monat Mai 2009 vom 27. November 2009 diese Lieferungen der deutschen Umsatzsteuer, weil gemäß § 3 Abs. 8 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) der Ort der Lieferung im Inland gelegen habe; es habe keine wirksame Bevollmächtigung der GmbH zur Abgabe von Zollanmeldungen durch die Kunden vorgelegen. Der Einspruch der GmbH blieb erfolglos (Einspruchsentscheidung vom 24. Juni 2010).
Im Laufe des Klageverfahrens erließ das FA unter dem 11. Juli 2012 den Umsatzsteuer-Jahresbescheid für das Streitjahr; es wich dabei aufgrund der Feststellungen der Außenprüfung von der Umsatzsteuererklärung der GmbH vom 10. August 2011 hinsichtlich der Umsätze der Monate Januar bis Mai 2009 ab.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage der GmbH, mit der sie geltend machte, der Ort der genannten Lieferungen liege in der Schweiz, weil sie, die GmbH, von den Kunden wirksam bevollmächtigt worden sei und diese bei der Zollanmeldung wirksam vertreten habe, ab (Entscheidungen der Finanzgerichte 2013, 970). Das FG vertrat die Auffassung, die Lieferungen der GmbH an ihre Kunden in Deutschland unterlägen der deutschen Umsatzsteuer. Es könne dahingestellt bleiben, ob bei einer Übertragung der Steuerschuldnerschaft auf die in Deutschland ansässigen Kunden der GmbH ein Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten i.S. des § 42 der Abgabenordnung (AO) vorliege; denn mangels einer wirksamen Bevollmächtigung durch die Kunden der GmbH seien die Kunden nicht Steuerschuldner der Einfuhrumsatzsteuer geworden. Die von der GmbH bei Abschluss der Kaufverträge jeweils verwendeten AGB zur Vertretung der Kunden bei der Einfuhranmeldung seien unwirksam und damit nicht Bestandteil der jeweiligen Kaufverträge geworden. Sollte sich aus der Bevollmächtigung keinerlei finanzielle Belastung für die Kunden ergeben können, handelte die GmbH als Vertreter nicht "für Rechnung eines anderen", so dass es an der entsprechenden Voraussetzung für die Vertretung in Art. 5 Abs. 2 der im Streitjahr geltenden Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften vom 19. Oktober 1992 Nr. L 302, S. 1, --ZK--) fehlte und somit ebenfalls keine wirksame Vertretung vorliege.
Im Laufe des Revisionsverfahrens ist am 21. Juni 2013 ein Änderungsbescheid über Umsatzsteuer für das Jahr 2009 ergangen. Dabei hat das FA auch die genannten Umsätze der GmbH in den Monaten Juni bis Dezember 2009 als steuerbar und im Inland steuerpflichtig behandelt. Die Beteiligten haben mitgeteilt, dass die tatsächlichen Grundlagen des Streitstoffs nicht berührt werden. Die GmbH hat erklärt, die verwendete Klausel sei in den Monaten Juni bis Dezember 2009 unverändert geblieben und die rein zahlenmäßige Richtigkeit der Beträge werde nicht in Frage gestellt.
Mit ihrer Revision hat die GmbH die Verletzung von § 3 Abs. 6 und 8, § 13 Abs. 2, § 21 Abs. 2 UStG sowie Art. 201 Abs. 3 Satz 1, Art. 5 Abs. 4 ZK, § 305c des Bürgerlichen Gesetzbuchs gerügt. Die verwendeten AGB seien wirksam. Hilfsweise enthalte der Auftrag des Kunden eine konkludente individuelle Vollmacht. Das Handeln "für fremde Rechnung" sei bei direkter Stellvertretung stets erfüllt.
Die GmbH hat beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und unter Änderung des Umsatzsteuerbescheids für das Jahr 2009 vom 21. Juni 2013 die Umsatzsteuer auf … € herabzusetzen.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Es verteidigt die angefochtene Vorentscheidung.
Durch Beschluss des Amtsgerichts … vom … ist über das Vermögen der GmbH das Insolvenzverfahren eröffnet sowie der Kläger und Revisionskläger (Kläger) zum Insolvenzverwalter bestellt worden. Der Kläger hat die vom FA zur Tabelle angemeldete Forderung wegen Umsatzsteuer 2009 im Prüfungstermin bestritten und durch Schriftsatz vom 28. Oktober 2014 erklärt, dass er das Revisionsverfahren aufnehme.
Mit Schreiben vom 29. Mai 2015 hat das FA einen Änderungsbescheid vom 14. April 2015, mit dem zugleich der Vorbehalt der Nachprüfung aufgehoben worden ist, sowie einen auf "§ 172 Abs. 1 Nr. 2 AO" gestützten Aufhebungsbescheid vom 4. Mai 2015 zum Änderungsbescheid vom 14. April 2015 übersandt. Damit werde wieder der Bescheid vom 21. Juni 2013 Gegenstand des Revisionsverfahrens.
Außerdem hat das FA am 9. Oktober 2014 die Forderungsanmeldung auf … € reduziert und am 23. April 2015 in voller Höhe zurückgenommen, im Schreiben vom 29. Mai 2015 aber mitgeteilt, dass die Forderung in Höhe von … € zur Tabelle nachgemeldet werde.
II. Die Revision ist aus verfahrensrechtlichen Gründen begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG (§ 127 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Es ist aufgrund des Vortrags der Beteiligten sowie der Vorgänge nach Insolvenzeröffnung nicht auszuschließen, dass sich im Streitfall tatsächliche Fragen stellen, die bisher nicht geklärt sind.
1. Der Senat ist nicht gehindert, über die Revision zu entscheiden; die gemäß § 155 FGO i.V.m. § 240 der Zivilprozessordnung mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der GmbH eingetretene Unterbrechung des Revisionsverfahrens wurde durch die Aufnahmeerklärung des Klägers beendet. Da der Antrag des Klägers im Erfolgsfall dazu führen würde, dass Umsatzsteuer in die Masse zu gelangen hätte, liegt ein sog. insolvenzrechtlicher Aktivprozess vor (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 27. Oktober 2011 III R 60/09, BFH/NV 2012, 576, Rz 10; vom 19. Februar 2014 XI R 1/12, BFH/NV 2014, 1398, Rz 16; BFH-Beschluss vom 2. Juli 2009 X S 4/08 (PKH), BFH/NV 2009, 1660, Rz 15). Der Kläger als Insolvenzverwalter der GmbH ist gemäß § 85 Abs. 1 der Insolvenzordnung befugt, den Rechtsstreit aufzunehmen (BFH-Urteil vom 7. März 2006 VII R 11/05, BFHE 212, 11, BStBl II 2006, 573, unter II.2.; BFH-Beschluss vom 10. August 2011 V B 84/10, BFH/NV 2011, 2010, Rz 2).
2. Das Urteil des FG vom 20. Februar 2013 ist aus verfahrens-rechtlichen Gründen aufzuheben. Das FA hat nach Ergehen dieses Urteils den Umsatzsteuerbescheid vom 11. Juli 2012, der Gegenstand des Urteils war, geändert. Zunächst ist der Änderungsbescheid vom 21. Juni 2013 nach § 68 Satz 1, § 121 Satz 1 FGO Gegenstand des Revisionsverfahrens geworden. Da dem Urteil des FG ein nicht mehr existierender Bescheid zugrunde liegt, kann es keinen Bestand haben (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 14. Dezember 2011 XI R 33/10, BFH/NV 2012, 1009; vom 24. April 2013 XI R 3/11, BFHE 242, 410, BStBl II 2014, 86).
3. Ist während des Revisionsverfahrens ein neuer oder geänderter Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens geworden, so kann der BFH nach § 127 FGO das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverweisen (vgl. dazu z.B. BFH-Urteil vom 21. Januar 2015 XI R 12/14, BFH/NV 2015, 957, Rz 25 ff., m.w.N.).
Von dieser Möglichkeit macht der Senat im Streitfall Gebrauch; denn durch den Umsatzsteuerbescheid vom 21. Juni 2013 wurden erstmals auch die Umsätze der Monate Juni bis Dezember 2009 der deutschen Umsatzsteuer unterworfen.
Außerdem sind die notwendigen tatsächlichen Feststellungen zu treffen, um beurteilen zu können, ob der nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens ergangene Änderungsbescheid vom 14. April 2015 (vgl. dazu BFH-Urteile vom 13. Mai 2009 XI R 63/07, BFHE 225, 278, BStBl II 2010, 11, unter II.2.a; vom 25. Juli 2012 VII R 29/11, BFHE 238, 307, BStBl II 2013, 36, Rz 19; vom 11. Dezember 2013 XI R 22/11, BFHE 244, 209, BStBl II 2014, 332, Rz 20 ff., Tz. 4.3.1 des Anwendungserlasses zu § 251 AO), mit dem auch der Vorbehalt der Nachprüfung aufgehoben worden ist, sowie der Aufhebungsbescheid vom 4. Mai 2015 wirksam sind.
4. Bezüglich der zwischen den Beteiligten streitigen materiellen Rechtsfrage weist der Senat auf die BFH-Urteile vom 21. März 2007 V R 32/05 (BFHE 217, 66, BStBl II 2008, 153) und vom 29. Januar 2015 V R 5/14 (BStBl II 2015, 567, BFH/NV 2015, 934) sowie das anhängige Revisionsverfahren XI R 17/13, das einen ähnlichen Streitfall betrifft, hin.
5. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.