Entscheidungsdatum: 09.04.2013
Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 AEUV folgende Frage zur Auslegung des Unionsrechts vorgelegt:
Ist das Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über den Luftverkehr vom 21. Juni 1999 in der Fassung des Beschlusses Nr. 2/2010 des Luftverkehrsausschusses Gemeinschaft/Schweiz vom 26. November 2010 dahin auszulegen, dass die Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 entsprechend ihrem Art. 3 Abs. 1 Buchst. a auch für Fluggäste gilt, die auf Flughäfen in der Schweiz einen Flug in einen Drittstaat antreten?
Das Verfahren wird ausgesetzt.
Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 AEUV folgende Frage zur Auslegung des Unionsrechts vorgelegt:
Ist das Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über den Luftverkehr vom 21. Juni 1999 in der Fassung des Beschlusses Nr. 2/2010 des Luftverkehrsausschusses Gemeinschaft/Schweiz vom 26. November 2010 dahin auszulegen, dass die Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 entsprechend ihrem Art. 3 Abs. 1 Buchst. a auch für Fluggäste gilt, die auf Flughäfen in der Schweiz einen Flug in einen Drittstaat antreten?
I. Die Klägerin verlangt von der Beklagten eine Ausgleichszahlung wegen eines nicht planmäßig durchgeführten Fluges.
Die Klägerin buchte bei der Beklagten, einem Luftverkehrsunternehmen mit Sitz in der Schweiz, für den 3. Februar 2011 einen Flug von Frankfurt am Main nach Zürich (Flugnummer … ) und einen direkten Anschlussflug von Zürich nach Yaundé in Kamerun mit einem Zwischenstopp in Duala (Flugnummer … ). Der Flug von Frankfurt am Main nach Zürich erfolgte planmäßig. Der Abflug des Anschlussflugs in Zürich verzögerte sich um 6 Stunden und 10 Minuten. Dieser Flug endete tatsächlich in Duala. Die Klägerin wurde sodann mit dem Bus von Duala nach Yaundé befördert und erreichte dieses Ziel am Abend des Folgetags mit einer Verspätung von mehr als 20 Stunden.
Die Klägerin macht wegen der Verspätung eine Ausgleichszahlung in Höhe von 600 € geltend. Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen; die Berufung ist ohne Erfolg geblieben. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Klageforderung weiter.
II. Das Berufungsgericht ist der Auffassung, die Klage sei entgegen der Auffassung des Amtsgerichts zulässig, aber unbegründet.
Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte ergebe sich aus § 29 ZPO. Erfüllungsort im Sinne dieser Vorschrift sei für die geltend gemachten Ansprüche nach der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen (im Folgenden: Fluggastrechteverordnung) im Hinblick auf das in deren Erwägungsgrund 1 angestrebte hohe Schutzniveau auch der vereinbarte Abflugort in Frankfurt am Main. Dies gelte auch bei Sachverhalten, bei denen die Verspätung nicht schon an diesem Abflugort, sondern erst im Rahmen eines Anschlussflugs an einem anderen Ort eingetreten sei.
Allerdings sei der Anspruch nicht begründet, weil die Fluggastrechteverordnung gemäß deren Art. 3 Abs. 1 nur bei Verspätungen anzuwenden sei, wenn der Abflug in der Europäischen Union erfolgt sei oder die Fluggesellschaft in deren Gebiet ihren Sitz oder eine Niederlassung habe. Die Verspätung sei jedoch erst bei dem Anschlussflug in Zürich und somit nicht in der Europäischen Union eingetreten. Es handele sich nicht um einen einheitlichen Flug von Frankfurt am Main zum Endziel, vielmehr seien eigenständige Flüge hintereinander geschaltet worden, um letztlich das gewünschte Endziel zu erreichen. Daher sei auf den verspäteten Abflug in Zürich abzustellen.
III. Die Entscheidung über die Revision hängt von der Auslegung des Abkommens zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über den Luftverkehr vom 21. Juni 1999 in der Fassung des Beschlusses Nr. 2/2010 des Luftverkehrsausschusses Gemeinschaft/Schweiz vom 26. November 2010 (im Folgenden: Luftverkehrsabkommen) in Verbindung mit der Fluggastrechteverordnung ab.
1. Zurecht hat das Berufungsgericht die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte bejaht. Diese Zuständigkeit ergibt sich im Streitfall aus dem Erfüllungsort der Hauptleistung des dem Flug zugrundeliegenden Vertrages.
a) Gemäß Art. 5 Nr. 1 des Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 30. Oktober 2007 (im Folgenden: Lugano-Übereinkommen), das für die Schweiz am 1. Januar 2011 in Kraft getreten ist (Amtliche Sammlung des Schweizer Bundesrechts 2010, 5609), kann, wenn Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden, eine Person mit Wohnsitz oder Sitz (Art. 60 Abs. 1 Buchst. a Lugano-Übereinkommen) im Gebiet eines anderen Vertragsstaates vor dem Gericht des Ortes verklagt werden, an dem die Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen gewesen wäre. Dabei ist gemäß Art. 5 Nr. 1 Buchst. b zweiter Spiegelstrich Lugano-Übereinkommen bei der Erbringung von Dienstleistungen der Ort als Erfüllungsort anzusehen, an dem die Dienstleistung nach dem Vertrag erbracht worden ist oder hätte erbracht werden müssen.
Diese Regelung entspricht Art. 5 Nr. 1 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 22. Dezember 2000 (Brüssel-I-Verordnung). Wie diese dient sie dem Zweck, für Liefer- und Dienstleistungsverträge eine einheitliche Zuständigkeitsregel für Klagen aus Kauf- und Dienstleistungsverträgen zu bestimmen (vgl. EuGH, Urteile vom 3. Mai 2007 - C386/05, Slg. 2007, I-3699 Rn. 26 und 36 - Color Drack; vom 9. Juli 2009 - C204/08, Slg. 2009, I-6073 Rn. 34 - Rehder). Hierfür wird an den Erfüllungsort der vertragscharakteristischen Leistung angeknüpft, der als Gerichtsstand nach dieser Regelung für sämtliche Klagen und nicht nur für diejenige, die sich auf die vertragscharakteristische Leistung stützt, maßgeblich ist (vgl. EuGH, Urteile vom 23. April 2009 - C-533/07, Slg. 2009, I-3327 Rn. 54 - Falco Privatstiftung und Rabitsch; vom 25. Februar 2010 - C-381/08, Slg. 2010, I-1255 Rn. 49 f. - Car Trim).
b) Auch wenn die im Streitfall geltend gemachte Forderung nicht vertraglich vereinbart ist, knüpft sie gleichwohl an das Bestehen eines Vertrages an, weil sie gemäß Art. 3 Abs. 2 Buchst. a Fluggastrechteverordnung eine bestätigte Buchung für den betreffenden Flug voraussetzt (vgl. BGH, Urteil vom 12. November 2009 - Xa ZR 76/07, NJW 2010, 1070 Rn. 18). Der Gerichtsstand des Erfüllungsorts bestimmt sich deshalb für Klagen auf Ausgleichszahlungen gemäß Art. 7 Fluggastrechteverordnung nach dem Erfüllungsort der vertragscharakteristischen Leistung des dem Flug zugrundeliegenden Vertrages; diese ergibt sich aus den einzelnen Leistungen des Flugunternehmens zur Beförderung des Fluggastes nebst seinem Reisegepäck (vgl. EuGH, Urteil vom 9. Juli 2009 aaO Rn. 40 - Rehder). Da diese Leistungen naturgemäß an mehreren Orten erbracht werden, ist zur Bestimmung des Erfüllungsorts als Anknüpfung für den Gerichtsstand gemäß Art. 5 Nr. 1 Buchst. b zweiter Spiegelstrich Lugano-Übereinkommen auf die Orte abzustellen, an denen nach dem Vertrag die Hauptleistung zu erbringen ist (vgl. EuGH, Urteil vom 9. Juli 2009 aaO Rn. 38 - Rehder). Dies sind die Orte des Abfluges und der Ankunft; hier werden die vertragscharakteristischen Leistungen hauptsächlich erbracht (vgl. EuGH Urteil vom 9. Juli 2009 aaO Rn. 43 - Rehder). Orte, die lediglich überflogen werden, zählen dazu ebenso wenig wie der Ort einer Zwischenlandung (vgl. EuGH, Urteil vom 9. Juli 2009 aaO Rn. 40 - Rehder).
c) Bei einer aus mehreren Flügen bestehenden Flugverbindung ohne nennenswerten Aufenthalt auf den Umsteigeflughäfen wie im Streitfall ist als für den Vertrag maßgeblicher Abflugort der Abflugort der ersten Teilstrecke anzusehen (vgl. zu Art. 5 Rom-I-VO: BGH, Urteil vom 28. August 2012 - X ZR 128/11, NJW 2013, 378 Rn. 30; Staudinger/Magnus, BGB, Bearb. 2010, Art. 5 Rom-I-VO Rn. 56, 52; MünchKomm.BGB/Martiny, 5. Aufl., Art. 5 Rom-I-VO Rn. 29). Hier werden die auch für die weitere Flugreise maßgeblichen Leistungen zur Abfertigung der Fluggäste und der Entgegennahme ihres Reisegepäcks nebst dem Start für den die erste Teilstrecke betreffenden Flug erbracht.
Im Streitfall kommt es nicht darauf an, ob die in Zürich als Umsteigeflughafen zu erbringenden Leistungen für die vertragscharakteristische Leistung so wesentlich sind, dass sie neben dem Ankunftsort der Flugreise in Kamerun ebenfalls solche Hauptleistungen darstellen, die einen weiteren Erfüllungsort im Sinne von Art. 5 Nr. 1 Buchst. b zweiter Spiegelstrich Lugano-Übereinkommen zu begründen vermögen. Da die an einem Umsteigeflughafen zu erbringenden Leistungen für den Fluggast von geringer Bedeutung sind und eher einer Zwischenlandung ähneln, vermögen sie den ersten Abflugort als Erfüllungsort im Hinblick auf einen für den Vertrag einheitlichen Gerichtsstand nicht zu verdrängen.
d) Ein Gerichtsstand gemäß Art. 5 Nr. 1 Buchst. b zweiter Spiegelstrich Lugano-Übereinkommen ist im Streitfall folglich an dem Abflugort des die erste vertragliche Teilstrecke betreffenden Flugs in Frankfurt am Main begründet.
2. Ob der Klägerin die geltend gemachte Ausgleichszahlung zusteht, hängt davon ab, ob die Fluggastrechteverordnung auf den von ihr gebuchten direkten Anschlussflug von Zürich nach Yaundé anwendbar ist.
a) Die Fluggastrechteverordnung ist nicht bereits deshalb anwendbar, weil die Klägerin die erste Teilstrecke ihrer Flugreise in Frankfurt am Main und damit in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union angetreten hat. Für diesen Flug war die Anwendbarkeit der Fluggastrechteverordnung zwar gemäß deren Art. 3 Abs. 1 Buchst. a eröffnet. Dieser Flug wurde indessen planmäßig durchgeführt. Er bildet keine Ursache dafür, dass die Klägerin ihr Endziel erst mit erheblicher Verspätung erreicht hat.
Der Gerichtshof der Europäischen Union hat entschieden, dass eine Verspätung von mindestens drei Stunden hinsichtlich der Rechtsfolgen einer Annullierung des Flugs gleichzusetzen ist (vgl. EuGH Urteile vom 19. November 2009 - C402/07, Slg. 2009, I-10923 Rn. 60, 61 - Sturgeon u.a.; vom 23. Oktober 2012 - C-581/10, RRa 2012, 272 Rn. 34-38 - Nelson u.a.; vom 26. Februar 2013 - C-11/11, Rn. 32 - Folkerts u.a.). Dabei kommt es für den erlittenen Zeitverlust nicht auf die Verspätung bei Antritt der Flugreise, sondern auf jene am Endziel an (vgl. EuGH, Urteil vom 26. Februar 2013 aaO Rn. 35 - Folkerts u.a.).
Dieser Zeitverlust muss aber aufgrund eines verspäteten Fluges eingetreten sein (vgl. EuGH, Urteil vom 23. Oktober 2012 aaO Rn. 40 - Nelson u.a.). Es muss also eine kausale Beziehung zwischen einem nicht planmäßig durchgeführten Flug und dem am Endziel erlittenen Zeitverlust bestehen. Der nicht planmäßig durchgeführte Flug muss unter den Anwendungsbereich der Fluggastrechteverordnung fallen, denn Erwägungsgrund 6 Fluggastrechteverordnung zeigt, dass nur solche Fluggäste geschützt werden sollen, die einen Flug in der Europäischen Union antreten oder, wenn es sich um ein Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft handelt, an einem Flughafen der Europäischen Union ankommen. Dieser Schutz wird durch einen planmäßig ablaufenden Flug vollständig erreicht, so dass ein solcher Flug keine weitergehenden Ansprüche begründen kann. Weiterhin sind die Fluggäste eines Fluges in dem Sinne als Kollektiv zu sehen, dass Fluggäste ein und desselben Fluges grundsätzlich nicht unterschiedlich behandelt werden dürfen, ihr Schutz nach der Fluggastrechteverordnung also identisch sein muss (vgl. EuGH, Urteil vom 10. Juli 2008 - C-173/07, Slg. 2008, I-5237 Rn. 38 - Emirates Airlines). Dies wäre nicht gegeben, wenn Fluggäste eines nicht planmäßig durchgeführten Fluges von der Fluggastrechteverordnung unterschiedlich geschützt würden, je nachdem, welche Flugstrecke sie unmittelbar vorher störungsfrei und planmäßig mit einem anderen Flug entweder aus der Europäischen Union oder aus einem Drittstaat kommend zurückgelegt haben. Ansprüche wegen einer großen Verspätung (am Endziel) setzen deshalb nach der Fluggastrechteverordnung voraus, dass diese Verspätung durch einen Flug (mit-)verursacht wurde, der gemäß Art. 3 Abs. 1 der Verordnung in deren Anwendungsbereich fällt (vgl. BGH, Urteil vom 13. November 2012 - X ZR 12/12, MDR 2013, 137 Rn. 13, 14).
Für eine Ausgleichszahlung wegen der von der Klägerin erlittenen Verspätung am Endziel ihrer Flugstrecke reicht es deshalb nicht aus, dass ihr erster Flug von Frankfurt am Main nach Zürich in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union angetreten wurde.
b) Der Klägerin kann eine Ausgleichszahlung für diesen Zeitverlust deshalb nur dann zustehen, wenn ihr Flug von Zürich nach Yaundé in Kamerun in den Anwendungsbereich der Fluggastrechteverordnung fällt.
aa) Weder der Abflugort noch der Zielort dieses Fluges liegen in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union. Gemäß dem Luftverkehrsabkommen und dem Beschluss Nr. 1/2006 des gemäß Art. 23 Abs. 4 dieses Abkommens bestimmten Luftverkehrsausschusses Gemeinschaft/Schweiz (ABl. EU 2006, L298/23) sowie dem Folgebeschluss Nr. 2/2010 (ABl. EU 2010, L347/54; Schweizer AS 2011, 205) ist die Fluggastrechteverordnung jedoch seit dem 1. Dezember 2006 auch für das Gebiet der Schweiz anzuwenden. In beiden Beschlüssen wird die Fluggastrechteverordnung als Teil des Anhangs des Abkommens vom 21. Juni 1999 aufgelistet. Gemäß Art. 2 des Abkommens gelten die im Anhang aufgelisteten Bestimmungen in dem Umfang, in dem sie den Luftverkehr oder unmittelbar damit zusammenhängende Angelegenheiten wie im Anhang aufgeführt betreffen.
bb) Der Senat neigt zu der Auffassung, dass mit dieser Erstreckung der Fluggastrechteverordnung auf das Gebiet der Schweiz auch solche Flüge in den Anwendungsbereich der Verordnung fallen, die vom Gebiet der Schweiz abgehen und ihr Ziel in einem Drittstaat haben.
Der durch den Beschluss Nr. 2/2010 vom Luftverkehrsausschuss neu gefasste Anhang zum Luftverkehrsabkommen bestimmt im zweiten Spiegelstrich, dass für die im Anhang aufgeführten Rechtsakte eine darin enthaltene Bezugnahme auf die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft oder der Europäischen Union für die Zwecke des Abkommens so zu verstehen ist, dass damit auch auf die Schweiz verwiesen wird. Art. 3 Abs. 1 Fluggastrechteverordnung könnte folglich in der Weise anzuwenden sein, dass es für Ansprüche nach dieser Verordnung ausreicht, wenn der Abflugort eines Fluges oder, wenn der Sitz des Luftfahrtunternehmens in der Europäischen Union oder in der Schweiz liegt, der Ankunftsort in der Schweiz liegt.
Eine solche Auslegung des Luftverkehrsabkommens nebst Anhang entspräche nicht nur seinem Wortlaut, sondern auch dem in der Präambel dieses Abkommens formulierten Ziel, die Vorschriften für den Luftverkehr innerhalb Europas unter Einbeziehung des Gebietes der Schweiz einander anzugleichen. Danach sollen die Luftverkehrsunternehmen in der Schweiz unter den gleichen Bedingungen operieren können und müssen wie jene in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Die Verbraucher und Kunden der Luftverkehrsunternehmen sollen denselben Qualitätsstandard in der Schweiz vorfinden und folglich auch die gleichen Rechte gegenüber diesen Unternehmen in der Schweiz geltend machen können wie in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, und die Luftverkehrsunternehmen sollen ihrerseits den gleichen Wettbewerbsbedingungen unterliegen. Damit ließe es sich schwer vereinbaren, wenn die Fluggastrechteverordnung nur auf Fluggäste anzuwenden wäre, die auf dem Gebiet der Schweiz einen Flug zu einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaates der Europäischen Union antreten. Denn gemäß Art. 3 Abs. 1 Buchst. a Fluggastrechteverordnung ist die Verordnung auch auf Fluggäste anzuwenden, die von einem Flughafen der Europäischen Union in einen Drittstaat fliegen.
cc) Vom Zivilgericht des Kantons Basel-Stadt wird indessen die Auffassung vertreten, dass die Fluggastrechteverordnung für Fluggäste, die in der Schweiz einen Flug antreten, nur gelte, wenn ihr Ziel in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union liegt (Zivilgericht Basel-Stadt, Entscheide vom 11. März 2011 - V.2010.1734 und vom 15. Mai 2012 - V.2012.213; aA Bundesamt für Zivilluftfahrt (Schweiz), www.bazl.admin.ch/dienstleistungen/passagierrechte/01019/index.html). Diese Entscheidungen stützen sich auf die Erwägung, Art. 15 des Luftverkehrsabkommens sehe Verkehrsrechte der Luftfahrtunternehmen der Schweiz und der Europäischen Union nur für Strecken zwischen der Schweiz einerseits und der Europäischen Union andererseits sowie innerhalb der Europäischen Union vor; deshalb komme auch die Anwendung der Fluggastrechteverordnung nur in diesem Umfang in Betracht. In der schweizerischen Literatur wird ergänzend argumentiert, eine Ausdehnung der Fluggastrechteverordnung auf Flüge von der Schweiz in Drittstaaten führe zu einem Widerspruch zu Bestimmungen des schweizerischen Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht (IPRG) (vgl. Dettling-Ott, Das bilaterale Luftverkehrsabkommen der Schweiz und der EG, in Thürer/Weber/Portmann/Kellerhals, Bilaterale Verträge I & II Schweiz-EU, S. 557 Rn. 156).
dd) Der Senat hält diese Bedenken gegen eine Anwendbarkeit der Fluggastrechteverordnung auf Flüge von der Schweiz in Drittstaaten nicht für durchgreifend. Die Beschränkung der Regelung von Verkehrsrechten in Art. 15 des Luftverkehrsabkommens auf Flüge von der Schweiz in die Europäische Union betrifft einen anderen Regelungsgegenstand, der nicht zwingend auf das gesamte Abkommen und die darin vorgesehenen Regelungen für den Luftverkehr insgesamt übertragbar ist. Als völkerrechtlicher Vertrag ist das Abkommen dem schweizerischen Bundesgesetz über das Internationale Privatrecht nicht untergeordnet, weshalb (geringfügige) Abweichungen von dessen Regeln keinen Einfluss auf die Auslegung des Abkommens haben müssen.
Hinzu kommt, wie der Streitfall zeigt, dass durch den Beförderungsvertrag auch bei Fluggästen, die in der Schweiz einen Flug in einen Drittstaat antreten, eine Verbindung mit dem Luftverkehr zwischen der Europäischen Union und der Schweiz bestehen kann und häufig bestehen wird.
Denn der verspätete Flug war für die Klägerin, die im Gebiet eines Mitgliedstaats der Europäischen Union einen Zubringerflug in die Schweiz angetreten hatte, ein direkter Anschlussflug. Der Umstand, dass nach der Fluggastrechteverordnung für jeden Flug gesondert zu prüfen ist, ob er der Verordnung unterfällt und welche Rechte die Verordnung den Fluggästen dieses Flugs im Falle der Nichtbeförderung, Annullierung oder Verspätung verleiht, besagt nicht notwendigerweise, dass auch der Anwendungsbereich der Fluggastrechteverordnung im Rahmen des Luftverkehrsabkommens ausschließlich danach zu bestimmen ist, auf welchem Flug es zu einer Störung der ordnungsgemäßen Erfüllung des Luftbeförderungsvertrags gekommen ist, den der Fluggast mit dem Luftverkehrsunternehmen geschlossen hat und der mindestens einen aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Union abgehenden Flug umfasst. Die Verordnung verknüpft eine solche Mehrzahl von Flügen gegebenenfalls miteinander, insbesondere indem sie bei der Bemessung der Ausgleichszahlung nach Art. 7 Fluggastrechteverordnung auf das Endziel und damit bei den ausdrücklich geregelten direkten Anschlussflügen nach Art. 2 Buchst. h Fluggastrechteverordnung auf den letzten Zielort abstellt, an dem der einzelne Fluggast infolge der Nichtbeförderung oder der Annullierung später als zur planmäßigen Ankunftszeit ankommt. Ebenso geht die Verordnung bei den ein ausführendes Luftverkehrsunternehmen treffenden Verpflichtungen davon aus, dass dieses Unternehmen im Namen der Person handelt, die in einer Vertragsbeziehung mit dem betreffenden Fluggast steht (Art. 3 Abs. 5 Fluggastrechteverordnung). Daher könnte schon ein Beförderungsvertrag zwischen dem Luftverkehrsunternehmen und dem Fluggast, der einen Flug zwischen der Europäischen Union und der Schweiz umfasst, die Anwendung der Fluggastrechteverordnung erfordern.
Diese Anwendung könnte nach dem Verständnis des Senats jedoch nicht in der Weise erfolgen, dass die Verordnung nur für Fluggäste gilt, die ihre Reise in der Europäischen Union begonnen haben und in der Schweiz einen direkten Anschlussflug in einen Drittstaat antreten. Denn dies wäre mit dem oben dargestellten Grundsatz unvereinbar, dass die Fluggastrechteverordnung der Gesamtheit der Fluggäste eines Fluges grundsätzlich die gleichen Rechte einräumt und nur bei der Höhe der Ausgleichsleistung gegebenenfalls nach dem Endziel des einzelnen Fluggastes differenziert. Auch unter diesem Gesichtspunkt sprechen nach Auffassung des Senats die besseren Gründe für eine umfassende Geltung der Fluggastrechteverordnung für Fluggäste, die in der Schweiz einen Flug in einen Drittstaat antreten.
ee) Gleichwohl handelt es sich nicht um eine Rechtsfrage, deren Antwort derart offenkundig und klar ist, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum mehr bliebe und sich damit eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union erübrigen würde. Insbesondere besteht angesichts der genannten Entscheidungen des schweizerischen Gerichts die Gefahr dauerhaft voneinander abweichender Entscheidungen (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 - C-283/81, Slg. 1982, 3415 Rn. 16 - Cilfit u.a.).
Meier-Beck Grabinski Bacher
Hoffmann Schuster