Entscheidungsdatum: 18.03.2014
NV: Bei einem finanzgerichtlichen Klageverfahren, das kontinuierlich betrieben wird, keine Besonderheiten aufweist und innerhalb von 24 Monaten nach Klageerhebung durch die Zustellung des Urteils beendet wird, ist von einer angemessenen Verfahrensdauer auszugehen .
I. Die Kläger begehren gemäß § 198 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) Entschädigung wegen der von ihnen als unangemessen angesehenen Dauer eines vom 16. November 2010 (Klageeingang) bis zum 13. November 2012 (Zustellung des Urteils an den damaligen Prozessbevollmächtigten der Kläger) vor dem Finanzgericht (FG) Berlin-Brandenburg anhängigen Klageverfahrens.
Dem Ausgangsverfahren liegt der folgende Sachverhalt zugrunde: Das zuständige Finanzamt (FA) erließ für den Veranlagungszeitraum 2007 einen Einkommensteuerbescheid, der einen Vorläufigkeitsvermerk u.a. hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der beschränkten Abziehbarkeit von Vorsorgeaufwendungen enthielt. Die Kläger legten gegen diesen Bescheid Einspruch ein und beantragten das Ruhen des Verfahrens nach § 363 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO). Sie begründeten dies damit, dass die von ihnen gezahlten Rentenversicherungsbeiträge, die den gesetzlichen Höchstbetrag des Sonderausgabenabzugs überstiegen, als vorweggenommene Werbungskosten bei den sonstigen Einkünften i.S. des § 22 des Einkommensteuergesetzes in der im Veranlagungszeitraum 2007 geltenden Fassung (EStG) zu berücksichtigen seien. Während des Einspruchsverfahrens erweiterte das FA die Vorläufigkeitsvermerke um die einfach-gesetzliche Frage der Abziehbarkeit von Rentenversicherungsbeiträgen als Werbungskosten bei den Einkünften aus Leibrenten. Das FA betrachtete den Einspruch deshalb als erledigt. Dem widersprachen die Kläger und verlangten, das Urteil des Bundesfinanzhofs im seinerzeit anhängigen Revisionsverfahren X R 9/07 abzuwarten. Das FA verwarf daraufhin den Einspruch als unzulässig und führte zur Begründung aus, den Klägern fehle wegen der Vorläufigkeitsvermerke das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis.
Am 16. November 2010 erhoben die Kläger Klage. Sie führten in der 32-seitigen Klageschrift, die durch 36 Seiten Anlagen ergänzt wurde, aus, die von ihnen erklärten Altersvorsorgeaufwendungen seien in voller Höhe als vorweggenommene Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit oder bei den Einkünften aus selbständiger Arbeit bzw. bei den sonstigen Einkünften der Kläger i.S. des § 22 EStG anzuerkennen.
Das FA nahm mit Schreiben vom 21. Dezember 2010 Stellung. Die Kläger erwiderten nach Akteneinsicht am 10. Februar 2011. Die weitere Erwiderung des FA vom 14. März 2011 wurde den Klägern am 22. März 2011 übersandt.
Am 9. August 2011 erging ein dreiseitiger Hinweis des Berichterstatters zur Sach- und Rechtslage. Daraufhin haben die Kläger nach beantragter und bewilligter Fristverlängerung ihr Klagebegehren in einem 16-seitigen Schriftsatz vom 26. Oktober 2011 dahingehend modifiziert, die von der Klägerin erklärten Altersvorsorgeaufwendungen seien lediglich als vorweggenommene Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit sowie die vom Kläger erklärten Altersvorsorgeaufwendungen lediglich als vorweggenommene Werbungskosten bei seinen Einkünften aus selbständiger Arbeit anzuerkennen.
Nachdem das FA in seiner Stellungnahme vom 16. Dezember 2011 u.a. darauf hingewiesen hatte, im Hinblick auf die freiberuflichen Einkünfte des Klägers sei das Betriebsfinanzamt X zuständig und auch der Berichterstatter in seinem Hinweis vom 6. Januar 2012 auf die Relevanz der gesonderten Gewinnfeststellung verwiesen hatte, modifizierten die Kläger im Schriftsatz vom 24. Januar 2012 erneut ihr Klagebegehren. Sie begehrten nunmehr lediglich die Berücksichtigung der von der Klägerin erklärten Altersvorsorgeaufwendungen als vorweggenommene Werbungskosten bei deren Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit oder als vorweggenommene Betriebsausgaben bei deren Einkünften aus selbständiger Arbeit. Hilfsweise beantragten sie die Aussetzung des Klageverfahrens zur Einholung einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Verfassungswidrigkeit der Regelungen in § 10 Abs. 3, 4 und 4a EStG.
Bereits mit Schreiben vom 22. Dezember 2011 hatten die Kläger Verzögerungsrüge erhoben und beantragt, unverzüglich einen Termin zur mündlichen Verhandlung anzuberaumen. Die Verzögerungsrüge haben die Kläger im Schriftsatz vom 24. Januar 2012 ausdrücklich aufrechterhalten. Einer Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter zur Entscheidung nach § 6 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) widersprachen sie.
Mit Schreiben vom 26. Januar 2012 bat der Berichterstatter die damaligen Prozessbevollmächtigten, offensichtliche Widersprüche im Schriftsatz vom 24. Januar 2012 zum Umfang des eingelegten Einspruchs bis zum 2. März 2012 zu klären.
Im Schriftsatz vom 2. März 2012 stellten die Kläger daraufhin ihr Klagebegehren richtig und begründeten erneut, warum nach ihrer Ansicht ein Fall der Zwangsruhe des Einspruchsverfahrens nach § 363 Abs. 2 AO vorgelegen habe.
Durch Beschluss vom 11. Juli 2012 wurde die Entscheidung des Rechtsstreits auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen.
Die Kläger baten mit Schriftsatz vom 1. August 2012 um Anberaumung eines Termins zur mündlichen Verhandlung.
Mit Verfügung vom 27. September 2012 bestimmte das FG den Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 30. Oktober 2012. Die Ladung ging dem damaligen Prozessbevollmächtigten am 1. Oktober 2012 zu.
Mit Urteil vom 30. Oktober 2012, das dem damaligen Prozessbevollmächtigten am 13. November 2012 zugestellt wurde, wies das FG die Klage ab. Die Kosten des Verfahrens hatten die Kläger zu tragen. Die Entscheidung wurde rechtskräftig.
Am 28. Februar 2013 haben die Kläger die vorliegende Entschädigungsklage erhoben. Sie verweisen darauf, dass die durchschnittliche Dauer finanzgerichtlicher Klageverfahren in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) in den Jahren 2009 und 2010 (Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2011, 1578) bei ca. 18 Monaten gelegen habe, während das FG im Streitfall 24 Monate benötigt habe, ohne dass hierfür ein anderer Grund als die schlechte Personalausstattung der Gerichte erkennbar sei. Die Sache sei --auch unter Beachtung der vom Senat entwickelten "Drei-Phasen-Theorie"-- spätestens im August 2011 entscheidungsreif gewesen. Eine weitere Sachaufklärung sei zu diesem Zeitpunkt nicht mehr nötig gewesen. Dennoch sei es erst 12 Monate nach diesem Hinweis zur Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter gekommen.
Als Entschädigung sei für jedes angefangene Jahr der Verzögerung ein Betrag von 1.200 € zu gewähren. Im Streitfall sei auch zu berücksichtigen, dass die Kläger aufgrund der Ungewissheit des Klageausgangs die Einkommensteuerbescheide für die Jahre 2008 bis 2011 mit einem Einspruch hätten anfechten müssen. Die insoweit angefallenen Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von insgesamt 1.814,52 € seien bei der Ermittlung der Höhe der Entschädigung nach § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG zu berücksichtigen.
Die vom Senat im Zwischenurteil vom 7. November 2013 X K 13/12 (BFHE 243, 126, BStBl II 2014, 179) entwickelte "Drei-Phasen-Theorie" sei rechtlich unbeachtlich, da sie dem Sinn und Zweck des § 198 GVG nicht gerecht werde. Auch verbiete sich nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts --BVerwG-- (Urteil vom 11. Juli 2013 5 C 23/12 D, BVerwGE 147, 146, unter Tz. 29) eine Pauschalierung verwaltungsgerichtlicher Verfahren.
Die Kläger beantragen sinngemäß,
den Beklagten zu verurteilen, ihnen wegen der überlangen Dauer des Verfahrens vor dem FG Berlin-Brandenburg 3 K 3321/10 eine Entschädigung in Höhe von 2.400 € nebst Zinsen seit Rechtshängigkeit in Höhe von 5 % p.a. über dem Basiszinssatz zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Verfahrensdauer von 24 Monaten sei im vorliegenden Fall hinzunehmen gewesen.
II. Die Klage ist unbegründet.
a) Gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG richtet sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter. Diese gesetzlichen Maßstäbe beruhen auf der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des BVerfG (vgl. hierzu und zum Folgenden ausführlich Senatsurteil in BFHE 243, 126, BStBl II 2014, 179, unter II.2.).
Nach dieser Entscheidung ist der Begriff der "Angemessenheit" für Wertungen offen, die dem Spannungsverhältnis zwischen dem Interesse an einem möglichst zügigen Abschluss des Rechtsstreits einerseits und anderen, ebenfalls hochrangigen sowie verfassungs- und menschenrechtlich verankerten prozessualen Grundsätzen --wie dem Anspruch auf Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes durch inhaltlich möglichst zutreffende und qualitativ hochwertige Entscheidungen, der Unabhängigkeit der Richter und dem Anspruch auf den gesetzlichen Richter-- Rechnung tragen. Für finanzgerichtliche Verfahren kann dabei die Vermutung aufgestellt werden, die Dauer des Verfahrens sei angemessen, wenn das Gericht gut zwei Jahre nach dem Eingang der Klage mit Maßnahmen beginnt, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollen, und die damit begonnene ("dritte") Phase des Verfahrensablaufs nicht durch nennenswerte Zeiträume unterbrochen wird, in denen das Gericht die Akte unbearbeitet lässt. Dies gilt nicht, wenn der Verfahrensbeteiligte rechtzeitig und in nachvollziehbarer Weise auf Umstände hinweist, aus denen eine besondere Eilbedürftigkeit des Verfahrens folgt.
Diese Vermutungsregel steht nicht im Widerspruch zur Rechtsprechung des BVerwG in BVerwGE 147, 146 (dazu Senatsurteil vom 19. März 2014 X K 3/13, www.bundesfinanzhof.de/ entscheidungen, unter II.2.c).
b) Nach diesen Grundsätzen war die Dauer des Ausgangsverfahrens nicht unangemessen.
aa) Die Anwendung der in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG beispielhaft genannten Kriterien vermitteln im Streitfall das Bild eines durchaus als schwierig anzusehenden Falles.
Der Schwierigkeitsgrad des Verfahrens war schon deshalb nicht als gering anzusehen, weil das Gericht nicht nur überdurchschnittlich umfangreiche Schriftsätze der Klägerseite zu bearbeiten hatte, sondern auch, weil es durch die wiederholten Modifizierungen des Klagebegehrens umfangreicher richterlicher Hinweise --wie etwa im Schriftsatz vom 6. Januar 2012-- bedurfte. Dies erforderte wiederum, dem FA die Möglichkeit zur Stellungnahme einzuräumen. Aufgrund der letzten Modifizierung des Klagebegehrens war eine individuelle auf den Streitfall zugeschnittene Begründung der Entscheidung des FG nötig geworden, die sich in dessen Urteil auch tatsächlich findet. Weiter musste das FG ausgehend vom Klägerantrag über die Aussetzung des Verfahrens zur Einholung einer Entscheidung des BVerfG mittels konkreter Normenkontrolle gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes entscheiden.
Die Bedeutung des Verfahrens für die Kläger ist zwar aufgrund der Relevanz der Rechtsfrage in weiteren Veranlagungszeiträumen nicht auf das Klageverfahren beschränkt gewesen. Allerdings hätte eine inhaltliche Entscheidung des FG über die Frage des Betriebsausgaben- bzw. Werbungskostenabzugs der Altersvorsorgeaufwendungen der Kläger --unabhängig von der Frage, ob nicht die erteilten Vorläufigkeitsvermerke nach § 165 Abs. 1 AO und das Ruhen von Einspruchsverfahren für nachfolgende Veranlagungszeiträume zur Wahrung der Rechtsposition der Kläger ausreichend waren-- nicht endgültig beenden können. Bis heute sind in diesem Zusammenhang zahlreiche Verfassungsbeschwerden anhängig (zur Frage der Zuweisung der Altersvorsorgeaufwendungen zu den Sonderausgaben z.B. 2 BvR 288/10, darüber hinaus zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 10 Abs. 3 EStG z.B. 2 BvR 289, 290, 323/10). Dies relativiert die Bedeutung des Verfahrensabschnitts "erstinstanzliches Klageverfahren" für die Kläger.
bb) Die Würdigung, dass die Verfahrensdauer noch angemessen war, ergibt sich aus einer Betrachtung des konkreten Verfahrensablaufs.
In dem seit dem 16. November 2010 beim FG anhängigen Klageverfahren endete der Wechsel der vorbereitenden Schriftsätze zwischen den Beteiligten am 14. März 2011. Am 9. August 2011 richtete der Berichterstatter einen rechtlichen Hinweis an die Beteiligten, der weiteren umfangreichen Schriftwechsel sowie Modifizierungen des Klageantrags auslöste. Dieser Schriftwechsel dauerte --begleitet von einem weiteren Hinweis des Berichterstatters-- bis zum 2. März 2012 an. Die mündliche Verhandlung wurde am 30. Oktober 2012 durchgeführt, das Urteil am 13. November 2012 zugestellt.
Geht man nach den vorstehend unter a) dargelegten Grundsätzen davon aus, dass die Angemessenheit der Verfahrensdauer zu vermuten ist, wenn das Gericht gut zwei Jahre nach dem Eingang der Klage mit Maßnahmen beginnt, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollen, zeigt sich, dass diese Angemessenheitsvermutung im Streitfall erfüllt ist. Das FG hat das Verfahren seit August 2011 --beginnend bereits neun Monate nach Klageeingang-- bis März 2012 zunächst kontinuierlich gefördert. Auch die verfahrensabschließenden Handlungen (Einzelrichterübertragung im Juli 2012, Ladung im September 2012, Durchführung der mündlichen Verhandlung im Oktober 2012, Zustellung der Entscheidung im November 2012) lagen noch innerhalb der Zwei-Jahres-Frist.
Umstände, die für eine besondere Eilbedürftigkeit des Ausgangsverfahrens sprechen, sind dem FG weder vom Kläger unterbreitet worden noch waren derartige Umstände für das FG sonst ersichtlich.
cc) Lediglich ergänzend weist der Senat darauf hin, dass die Gesamtverfahrensdauer von 24 Monaten sich innerhalb der --bezogen auf alle deutschen Finanzgerichte-- durchschnittlichen Dauer der durch Urteil erledigten zulässigen Klagen bewegt, die im Geschäftsbericht der Finanzgerichte Deutschlands für die Jahre 2009 und 2010 (EFG 2011, 1578, 1581) mit ca. 25 Monaten angegeben wird. Zwar sind statistische Durchschnittswerte nur von sehr eingeschränkter Aussagekraft für die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer, weil es nach § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG auf die Verhältnisse des jeweiligen Einzelfalls ankommt (BVerwG-Urteil in BVerwGE 147, 146, unter 1.b aa (2)). Ihre Nichtüberschreitung kann aber jedenfalls dann als Indiz für die Angemessenheit der Verfahrensdauer herangezogen werden, wenn keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die durchschnittliche Verfahrensdauer, die den genannten statistischen Werten zugrunde liegt, unangemessen sein könnte.
Solche Anhaltspunkte sind hier nicht ersichtlich. Insbesondere hat der EGMR Deutschland in Bezug auf Streitigkeiten um nicht existenzsichernde Geldansprüche in Fällen, in denen die Verfahrensdauer 25 Monate betrug, --soweit ersichtlich-- bisher nicht wegen Verletzung des Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten verurteilt.
2. Mangels unangemessener Dauer des Ausgangsverfahrens nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG erübrigen sich Ausführungen zur Höhe des Entschädigungsanspruchs nach § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG oder § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG ebenso wie zu der Frage, ob eine zur Begründung eines Entschädigungsanspruchs geeignete Verzögerungsrüge erhoben worden ist.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
4. Mit Einverständnis der Beteiligten (§ 90 Abs. 2 FGO i.V.m. § 155 Satz 2 FGO) hat der erkennende Senat ohne mündliche Verhandlung entschieden.