Entscheidungsdatum: 29.03.2011
1. Zur Auslegung einer "Anschlussberufung", die die Anforderungen an die Zulässigkeit einer eigenständigen Berufung erfüllt (im Anschluss an BGH, Beschluss vom 30. April 2003, V ZB 71/02, NJW 2003, 2388) .
2. Stellt das Berufungsgericht durch Beschluss die Wirkungslosigkeit einer "Anschlussberufung" nach § 524 Abs. 4 ZPO fest, so ist hiergegen die Rechtsbeschwerde statthaft, wenn keine Anschlussberufung, sondern eine eigenständige Berufung eingelegt worden ist und daher der Ausspruch des Berufungsgerichts einer Verwerfung der Berufung als unzulässig gleichkommt (im Anschluss an BGH, Beschluss vom 30. April 2003, V ZB 71/02, NJW 2003, 2388) .
Auf die Rechtsbeschwerde der Kläger wird der Beschluss der 6. Zivilkammer des Landgerichts Kleve vom 19. Februar 2010 aufgehoben, soweit zum Nachteil der Kläger erkannt worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Gegenstandswert der Rechtsbeschwerde: 700,80 €
I.
Die Beklagten sind Mieter einer Wohnung (mit Garage) der Kläger in R. Die Kläger, seit Anfang des Jahres 2008 Eigentümer der Wohnung, haben zum 1. November 2008 die Zustimmung der Beklagten zu einer Erhöhung der monatlichen Nettomiete von bisher 313,65 € auf nunmehr 376,38 € und zu einer Anhebung der Garagenmiete von 17 € auf 20 € verlangt. Zudem haben sie rückständige Miete in Höhe von 132,32 € nebst Zinsen geltend gemacht. Das Amtsgericht hat dem Zahlungsbegehren in voller Höhe entsprochen, dem Mieterhöhungsverlangen aber nur teilweise stattgegeben. Es hat die Beklagten "als Gesamtschuldner" verurteilt, einer Erhöhung der monatlichen Nettomiete für die Wohnung auf 320,60 € und für die Garage auf 17,38 € ab 1. November 2008 zuzustimmen; im Übrigen hat es die Klage abgewiesen.
Das Urteil ist den Beklagten am 16. Dezember 2009 und den Klägern am 21. Dezember 2009 zugestellt worden. Die Beklagten haben mit einem am 8. Januar 2010 beim Landgericht eingegangenen Anwaltsschriftsatz Berufung gegen das Urteil eingelegt. Am 21. Januar 2010 hat der Prozessbevollmächtigte der Kläger beim Landgericht einen auf diesen Tag datierten Anwaltsschriftsatz eingereicht, der das Begehren der Kläger als Anschlussberufung bezeichnet, daneben den Vermerk "Original vorab per Fax" trägt und zudem auf die am 21. Dezember 2009 erfolgte Zustellung des angefochtenen Urteils verweist. Weiter wird mitgeteilt, dass Anträge und Begründung einem gesonderten Schriftsatz vorbehalten bleiben. Außerdem ist in dem Schriftsatz folgender Passus enthalten: "Zum Wert für das Rechtsmittel wird schon jetzt ausgeführt: Der Wert der Beschwer richtet sich nach § 8 ZPO, so dass der Wert des Beschwerdegegenstands den Betrag von 600,00 € übersteigt." Mit am 12. Februar 2010 beim Landgericht eingegangenen Schriftsatz haben die Kläger ihr Begehren begründet.
Das Landgericht hat mit Beschluss vom 19. Februar 2010 die Berufung der Beklagten als unzulässig verworfen, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes 600 € nicht übersteige. Zugleich hat es festgestellt: "Die Anschlussberufung der Kläger ist wirkungslos." Hiergegen richtet sich die frist- und formgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde der Kläger. Diese machen geltend, bei der mit Anwaltsschriftsatz vom 21. Januar 2010 eingelegten "Anschlussberufung" handele es sich bei zutreffender Auslegung um eine selbständige Berufung, die durch die Verwerfung des Rechtsmittels der Beklagten nicht ihre Wirkung verloren habe.
II.
Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht, soweit zum Nachteil der Kläger erkannt worden ist.
1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft und auch im Übrigen zulässig.
a) Zwar unterliegt die Feststellung der Wirkungslosigkeit einer Anschlussberufung (§ 524 Abs. 4 ZPO) nicht der Anfechtung, wenn sie sich darauf beschränkt, eine kraft Gesetzes eintretende Rechtsfolge deklaratorisch auszusprechen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. Mai 1984 - III ZB 9/84, NJW 1986, 852 unter II 1; vom 12. Oktober 1989 - VII ZB 4/89, BGHZ 109, 41, 46; vom 6. Juli 2000 - VII ZB 29/99, NJW 2000, 3215 unter II 1; Urteil vom 14. Mai 1998 - III ZR 182/97, BGHZ 139, 12, 15 [jeweils zur Rechtslage vor der ZPO-Reform 2002]; Zöller/Heßler, ZPO, 28. Aufl., § 524 Rn. 29; Prütting/Gehrlein/Lemke, ZPO, 2. Aufl., § 524 Rn. 31; aA MünchKommZPO/Rimmelspacher, 3. Aufl., § 524 Rn. 58). Etwas anderes hat jedoch zu gelten, wenn der Ausspruch über die Feststellung der Wirkungslosigkeit der Anschlussberufung erfolgt ist, obwohl die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen, so dass ihm konstitutive Wirkung zukommt (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Oktober 1989 - VII ZB 4/89, aaO; Musielak/Ball, ZPO, 7. Aufl., § 524 Rn. 26; Prütting/Gehrlein/Lemke, aaO). Dies gilt insbesondere dann, wenn keine Anschlussberufung im Sinne des § 524 ZPO, sondern eine selbständige Berufung eingelegt worden ist und daher die Feststellung der Wirkungslosigkeit der "Anschlussberufung" einer Verwerfung der Berufung als unzulässig gleichkommt (vgl. BGH, Beschluss vom 30. April 2003 - V ZB 71/02, NJW 2003, 2388). So liegen die Dinge hier. Denn die Kläger haben - wie nachfolgend noch darzulegen sein wird - eine selbständige (Haupt-)Berufung (§ 511 Abs. 1, 2 ZPO) und keine Anschlussberufung eingelegt.
b) Die statthafte Rechtsbeschwerde ist auch im Übrigen zulässig, weil eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung gefordert ist (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO). Der angefochtene Beschluss beruht auf einer Würdigung, die den Klägern den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert. Dies verletzt den verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch der Kläger auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip; vgl. dazu etwa Senatsbeschluss vom 27. September 2005 - VIII ZB 105/04, NJW 2005, 3775 unter II 1; BGH, Beschluss vom 30. April 2003 - V ZB 71/02, aaO unter II 1; jeweils mwN).
2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Das Berufungsgericht hat das Vorliegen der Voraussetzungen des § 524 Abs. 4 ZPO rechtsfehlerhaft bejaht. Denn bei zutreffender Auslegung der im Anwaltsschriftsatz vom 21. Januar 2010 abgegebenen Prozesserklärung ist das Rechtsmittelbegehren der Kläger als Berufung nach § 511 Abs. 1, 2 ZPO und nicht als - unselbständige - Anschlussberufung (§ 524 ZPO) zu werten. Bei der Auslegung dieser Prozesserklärung ist der Senat nicht an die Würdigung des Berufungsgerichts gebunden (BGH, Beschluss vom 30. April 2003 - V ZB 71/02, aaO unter II 2 mwN).
a) Bei der Auslegung der von den Klägern mit Anwaltsschriftsatz vom 21. Januar 2010 abgegebenen Erklärung ist - wie stets bei der Auslegung von Prozesserklärungen - der Grundsatz zu beachten, dass im Zweifel dasjenige gewollt ist, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der wohlverstandenen Interessenlage entspricht (vgl. BGH, Beschluss vom 30. April 2003 - V ZB 71/02, aaO unter II 2 b mwN; Urteil vom 7. Dezember 2007 - V ZR 210/06, NJW 2008, 1953 Rn. 16). Gemessen daran haben die Kläger im Streitfall ein eigenständiges Rechtsmittel und keine Anschlussberufung nach § 524 ZPO eingelegt.
aa) Der in der Rechtsmittelschrift verwendeten Bezeichnung "Anschlussberufung" kommt entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts keine ausschlaggebende Bedeutung zu. Denn die weiteren Ausführungen im Schriftsatz vom 21. Januar 2010 machen deutlich, dass die Kläger ihre Prozesserklärung an den bei einer Berufung zu beachtenden Anforderungen (§§ 511, 517, 519 ZPO) ausgerichtet haben.
bb) Dem genannten Schriftsatz ist zunächst zu entnehmen, dass hierdurch die Berufungsfrist des § 517 ZPO gewahrt werden sollte. Dies ergibt sich aus der Angabe des Datums der Zustellung des angefochtenen Urteils (21. Dezember 2009) und dem Vermerk "Original vorab per Fax". Denn wenn sich die Kläger nur dem Rechtsmittel der Beklagten hätten anschließen wollen, hätte für eine vorab per Telefax erfolgende Übermittlung dieses Schriftsatzes keine Veranlassung bestanden. Die bei einer Anschlussberufung zu beachtende Frist nach § 524 Abs. 2 Satz 2 ZPO hätte erst mit der - noch nicht bewirkten - Zustellung der gegnerischen Berufungsbegründung zu laufen begonnen. Der gewählten Übersendungsart kommt allein vor dem Hintergrund einer selbständigen Berufung Bedeutung zu (vgl. zu diesem Gesichtspunkt auch BGH, Beschluss vom 30. April 2003 - V ZB 71/02, aaO unter II 2 b bb). Da die mit der Zustellung des angefochtenen Urteils in Lauf gesetzte Berufungsfrist (§ 517 ZPO) mit Ablauf des 21. Januar 2010 endete, war zur Wahrung dieser Frist eine Übermittlung des auf diesen Tag datierten Schriftsatzes am selben Tag per Telefax erforderlich.
cc) Die im Schriftsatz vom 21. Januar 2010 weiter enthaltenen Ausführungen zur Höhe der geltend gemachten Beschwer, die nach zutreffender Einschätzung der Kläger den Betrag von 600 € übersteigt, lassen sich bei verständiger Würdigung ebenfalls nur mit einem Rechtsmittel nach § 511 ZPO, nicht aber mit einer Anschlussberufung nach § 524 ZPO in Einklang bringen. Denn eine Berufung ist nach § 511 Abs. 2 ZPO nur zulässig, wenn mit ihr eine Beschwer beseitigt werden soll, deren Wert 600 € übersteigt oder wenn - was vorliegend nicht der Fall ist - das erstinstanzliche Gericht die Berufung zugelassen hat (§ 511 Abs. 2 ZPO). Dagegen setzt eine Anschlussberufung keine Beschwer voraus (BGH, Urteil vom 7. Dezember 2007 - V ZR 210/06, aaO Rn. 24 mwN). Die Ausführungen zum Wert des Beschwerdegegenstandes wären daher überflüssig, wenn die Kläger mit dem Schriftsatz vom 21. Januar 2010 lediglich die Einlegung einer Anschlussberufung nach § 524 ZPO beabsichtigt hätten.
dd) Auch der Umstand, dass die Kläger angekündigt haben, ihre Anträge und die Begründung ihres Begehrens in einem späteren Schriftsatz nachzureichen, ist nur vor dem Hintergrund der Bestimmung des § 520 Abs. 2 ZPO verständlich (vgl. hierzu auch BGH, Beschluss vom 30. April 2003 - V ZB 71/02, aaO unter II 2 b cc). Denn während für die Begründung einer Berufung (nebst Antragstellung) eine eigenständige Frist läuft, verlangt das Gesetz für die Anschlussberufung eine Begründung in der Anschlussschrift selbst (§ 524 Abs. 3 Satz 1 ZPO).
b) Da die Kläger bei der Einreichung des ordnungsgemäß von einem postulationsfähigen Rechtsanwalt unterzeichneten und verantworteten Schriftsatzes vom 21. Januar 2010 die formalen Anforderungen an die Zulässigkeit einer eigenständigen Berufung beachtet und in der Folgezeit auch die Frist für die Einreichung einer Berufungsbegründung (§ 520 Abs. 2 ZPO) gewahrt haben, ist das Begehren der Kläger unter Würdigung der Gesamtumstände nicht als Anschlussberufung im Sinne von § 524 ZPO auszulegen, sondern als Berufung nach § 511 ZPO, die durch die Verwerfung des gegnerischen Rechtsmittels nicht wirkungslos geworden ist.
Ball |
Dr. Milger |
Dr. Hessel |
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Dr. Fetzer |
Dr. Bünger |