Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 08.11.2016


BGH 08.11.2016 - VI ZR 512/15

Arzthaftung: Gehörsverletzung im Prozess wegen einer Nervschädigung bei einer Krampfader-Entfernungsoperation


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
6. Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
08.11.2016
Aktenzeichen:
VI ZR 512/15
ECLI:
ECLI:DE:BGH:2016:081116BVIZR512.15.0
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend KG Berlin, 2. Juli 2015, Az: 20 U 91/14vorgehend LG Berlin, 29. April 2014, Az: 8 O 495/12
Zitierte Gesetze

Leitsätze

Zum Vorliegen eines Gehörsverstoßes in einem Arzthaftungsprozess.

Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin wird das Urteil des 20. Zivilsenats des Kammergerichts Berlin vom 2. Juli 2015 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert für das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren wird auf bis 45.000 € festgesetzt.

Gründe

I.

1

Im November 2011 wurden der Klägerin im Krankenhaus der Beklagten operativ Krampfadern im linken Bein entfernt. Postoperativ zeigten sich infolge einer Schädigung des Nervus Peroneus eine Fußheberschwäche und eine Gefühlsstörung. Unter anderem mit der Behauptung, die Nervschädigung beruhe auf Behandlungsfehlern der sie operierenden Ärzte der Beklagten, nimmt die Klägerin die Beklagte auf materiellen und immateriellen Schadensersatz in Anspruch.

2

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Kammergericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Die Revision hat es nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde.

II.

3

Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Die Klägerin rügt zu Recht, das Berufungsgericht habe ihren Anspruch aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt.

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1. Land- und Berufungsgericht haben einen Schadensersatzanspruch der Klägerin verneint und zur Begründung unter anderem ausgeführt, der Beklagten seien keine Behandlungsfehler unterlaufen. Der gerichtliche Sachverständige habe - so das Landgericht - zwar erläutert, dass eine Durchtrennung des Nervs bei der Operation nicht geschehen dürfe und folglich einen Behandlungsfehler darstelle, angesichts der beginnenden Reinnervation habe er eine solche Durchtrennung aber ausgeschlossen. Es sei deshalb von einer bloßen Druckschädigung auszugehen, bei der es sich um ein typisches Operationsrisiko handle, die sich auch bei sorgfältigem Vorgehen nicht immer ausschließen lasse und auch im Streitfall nicht auf ein behandlungsfehlerhaftes Verhalten der Ärzte der Beklagten zurückzuführen sei. Das Berufungsgericht hat insoweit ausgeführt, einer (weiteren) sachverständigen neurologischen Abklärung, dass bei der Klägerin "nur" ein Kompressionsschaden vorliege, bedürfe es nicht. Denn der (Privat-) Sachverständige K. - Facharzt für Neurologie und Psychiatrie - habe bereits in seinem von der Klägerin selbst eingereichten Gutachten Zeichen einer beginnenden Reinnervation beschrieben und festgestellt, dass damit eine komplette Durchtrennung des Nervus Peroneus ausgeschlossen sei. Gleichermaßen habe sich der Gerichtssachverständige, bei dem es sich allerdings nicht um einen Neurologen handle, geäußert.

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2. Diese Ausführungen verletzen die Klägerin in entscheidungserheblicher Weise in ihrem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Die Nichtzulassungsbeschwerde legt zutreffend dar, gehörswidrig übergangen worden sei der Vortrag der Klägerin, vom Ausschluss einer - dann behandlungsfehlerhaften - vollständigen Durchtrennung des Nervs dürfe nicht darauf geschlossen werden, dass nur eine - dann nicht behandlungsfehlerhafte - Druckschädigung des Nervs vorliege, weil in Betracht komme, dass der Nerv teilweise durchtrennt worden sei, was dann auch als behandlungsfehlerhaft anzusehen sei.

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a) Gerichte sind nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen einer Partei ausdrücklich auseinanderzusetzen (BVerfG, Beschluss vom 12. September 2016 - 1 BvR 1311/16 Rn. 3, juris; BVerfGE 115, 166, 180; 54, 86, 91 f.; jeweils mwN). Vielmehr ist auch ohne ausdrückliche Erwähnung von Parteivorbringen grundsätzlich davon auszugehen, dass das Gericht das von ihm entgegengenommene Vorbringen eines Beteiligten auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat (BVerfG, Beschluss vom 12. September 2016 - 1 BvR 1311/16 aaO). Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör kann aber dann festgestellt werden, wenn sich aus den besonderen Umständen des einzelnen Falles deutlich ergibt, dass das Gericht Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei seiner Entscheidung nicht in Erwägung gezogen hat (BVerfGE 54, 86, 91). Davon ist unter anderem dann auszugehen, wenn das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags eines Beteiligten zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, nicht eingegangen ist, sofern er nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts nicht unerheblich oder aber offensichtlich unsubstantiiert war (BVerfG, Beschluss vom 12. September 2016 - 1 BvR 1311/16 aaO, mwN).

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b) So liegt der Fall hier:

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aa) Nachdem der Sachverständige in seinem Gutachten vom 3. August 2013 zum einen ausgeführt hatte, dass aufgrund der beginnenden Reinnervation des verletzten Nervs eine - in jedem Fall behandlungsfehlerhafte - vollständige Durchtrennung des Nervs nicht angenommen werden könne, und er zum anderen davon ausgegangen war, dass eine bloße Druckschädigung nicht zwingend auf einen Behandlungsfehler zurückzuführen sei, behauptete die Klägerin, die Ärzte der Beklagten hätten ihren Nerv (behandlungsfehlerhaft) teilweise durchtrennt. Nachdem der Vorwurf einer kompletten Durchtrennung entkräftet worden war, handelte es sich dabei um einen der Hauptvorwürfe der Klägerin, den sie bereits erstinstanzlich mehrfach wiederholte und auch im Berufungsverfahren wieder aufgriff. Der Vorwurf einer teilweisen Durchtrennung des Nervs gehörte damit - nach Entkräftung des Vorwurfs einer vollständigen Durchtrennung des Nervs - zum wesentlichen Kern des klägerischen Vortrags zur für das Verfahren zentralen Frage nach dem Vorliegen eines Behandlungsfehlers.

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bb) Land- und Berufungsgericht haben sich mit diesem Vorwurf nicht befasst. Weder die Entscheidungsgründe des landgerichtlichen Urteils noch die Gründe des Berufungsurteils gehen auf ihn ein. Sie befassen sich insoweit allein mit der Abgrenzung einer - behandlungsfehlerhaften - kompletten Durchtrennung des Nervs einerseits und einer - nicht behandlungsfehlerhaften - Druckschädigung andererseits, nicht aber mit den Fragen, ob von einer teilweisen Durchtrennung des Nervs ausgegangen werden kann und ob eine solche gegebenenfalls einen Behandlungsfehler darstellte. Hinzu kommt, dass der Vorwurf der Klägerin, Ärzte der Beklagten hätten den Nervus Peroneus behandlungsfehlerhaft teilweise durchtrennt, im Verfahren auch sonst nicht aufgeklärt wurde. Zwar wurde der gerichtliche Sachverständige - ein Gefäßchirurg - im Rahmen seiner mündlichen Anhörung vor dem Landgericht vom Prozessbevollmächtigten der Klägerin darauf ausdrücklich angesprochen; er vermochte die diesbezüglich an ihn gerichtete Frage aber nicht abschließend zu beantworten, sondern erklärte:

"Wenn ich danach gefragt werde, ob es nicht auch sein kann, dass die Nervenbahnen angeritzt worden sind oder teildurchtrennt, so möchte ich darauf hinweisen, dass also viele Nervenfasern und -bündel gemeinsam verlaufen. Dabei ist es natürlich auch denkbar, dass es zu einer partiellen Durchtrennung kommt. Dann müsste es aber gleichwohl einen bleibenden Effekt geben. Der aktuelle neurologische Befund der Klägerin ist mir nicht bekannt. Im Übrigen ist dieser Bereich auch nicht der Bereich, für den ich sachverständig bin."

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Eine weitere Aufklärung erfolgte - trotz entsprechender Hinweise und Rügen auch im Berufungsverfahren - nicht.

11

c) Der Gehörsverstoß ist entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht im Falle, es hätte sich mit der Möglichkeit einer teilweisen Durchtrennung des Nervs befasst, eine solche teilweise Durchtrennung und in der Folge auch einen von der Beklagten zu vertretenden Behandlungsfehler festgestellt hätte.

12

3. Gemäß § 544 Abs. 7 ZPO war das angefochtene Urteil deshalb aufzuheben und der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Im weiteren Verfahren wird insbesondere zu klären sein, ob der Nervus Peroneus bei der Operation - wie von der Klägerin behauptet - teilweise durchtrennt wurde und, wenn ja, ob darin ein Behandlungsfehler zu sehen ist. Die erste Frage dürfte nur unter Hinzuziehung neurologischen Sachverstands beantwortet werden können, die zweite Frage - dem Grundsatz fachgleicher Begutachtung entsprechend - unter Inanspruchnahme gefäßchirurgischen Sachverstands.

Galke                             Offenloch                             Oehler

                  Roloff                                  Müller