Entscheidungsdatum: 12.04.2011
Zur Beschwer des Berufungsklägers, wenn im Urteil über einen erstinstanzlichen Antrag nicht ausdrücklich entschieden worden ist .
Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin wird der Beschluss der 43. Zivilkammer des Landgerichts Berlin vom 16. August 2010 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Beschwerdewert: 723,35 €
I.
Die Klägerin begehrt von der Beklagten Zahlung und Freistellung von Rechtsanwaltskosten für die Geltendmachung von Ansprüchen aus einem von einem Versicherungsnehmer der Beklagten verursachten Verkehrsunfall. Sämtliche weiteren von der Klägerin wegen des Unfalls erhobenen Ansprüche einschließlich eines Großteils der ursprünglich geltend gemachten Rechtsanwaltskosten hat die Beklagte bereits außergerichtlich reguliert.
Die Klägerin hat einen Mahnbescheid erwirkt, gegen den die Beklagte Widerspruch eingelegt hat. Mit Schriftsatz vom 6. Dezember 2009 hat die Klägerin ihren Anspruch begründet. Sie hat zunächst restliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 493,80 € nebst Zinsen verlangt und ausgeführt, die Beklagte habe bisher lediglich eine 1,6-fache statt der geforderten 1,8-fachen Anwaltsgebühr erstattet. Mit Schriftsatz vom 12. Januar 2010 hat die Klägerin die Klage erweitert und den Antrag angekündigt, die Beklagte zu verurteilen, sie von weiteren Gebührenansprüchen ihres Prozessbevollmächtigten in Höhe von 229,55 € nebst Zinsen freizustellen. Diese Gebühren seien in der Verkehrsunfallsache für die Einholung der Deckungszusage des Rechtsschutzversicherers angefallen.
Das Amtsgericht hat das Verfahren gemäß § 495a ZPO durchgeführt und einen frühen ersten Termin anberaumt, in dem der Klägervertreter laut Protokoll den "Antrag aus der Klageschrift" gestellt hat. Durch Urteil vom 7. Juni 2010 hat es die Klage abgewiesen und die Kosten des Rechtsstreits der Klägerin auferlegt. Das Urteil enthält keinen Tatbestand. In dem in das Protokoll aufgenommenen wesentlichen Inhalt der Entscheidungsgründe heißt es, die Klage sei nicht begründet; der Umfang des anwaltlichen Aufwands rechtfertige keine 1,8-fache Gebühr. Das Urteil ist dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 10. Juni 2010 zugestellt worden. Die von der Klägerin mit Schriftsatz vom 24. Juni 2010 erhobene Anhörungsrüge hat das Amtsgericht - ohne inhaltlich auf den als übergangen gerügten klageerweiternden Antrag einzugehen - mit Beschluss vom 3. August 2010 als unbegründet zurückgewiesen. Das Landgericht hat die Berufung der Klägerin durch Beschluss vom 16. August 2010 als unzulässig verworfen, weil die erforderliche Berufungssumme von 600 € nicht erreicht sei. Der Wert des Beschwerdegegenstands betrage lediglich 493,80 €. Die Auslegung des Sitzungsprotokolls ergebe, dass der Klägervertreter in erster Instanz nur den Antrag vom 6. Dezember 2009 gestellt habe. Deshalb habe das Amtsgericht allein über diesen entscheiden können. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der Rechtsbeschwerde.
II.
1. Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO) und zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Die Annahme des Berufungsgerichts, die Berufung sei im Hinblick auf die Wertgrenze des § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO unzulässig, verletzt die Klägerin in ihrem aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden Verfahrensgrundrecht auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes. Dieses Verfahrensgrundrecht verbietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise zu erschweren (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 11. Januar 2011 - VIII ZB 62/10, WuM 2011, 177 Rn. 3 mwN).
2. Die Rechtsbeschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Die Berufung der Klägerin kann nicht mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung als unzulässig verworfen werden. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts übersteigt der Wert des Beschwerdegegenstandes die Wertgrenze von 600 € (§ 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO).
a) Fehlt es - wie im Streitfall - an einer Zulassung der Berufung durch das Erstgericht (§ 511 Abs. 2 Nr. 2 ZPO), ist eine Berufung gemäß § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 600 € übersteigt. Für die Beurteilung der Zulässigkeit des Rechtsmittels eines Klägers ist grundsätzlich von der "formellen Beschwer" auszugehen. Danach ist der Kläger, soweit das angefochtene Urteil von seinen Anträgen abweicht, beschwert (Senatsbeschluss vom 26. Oktober 2010 - VI ZB 74/08, NJW 2011, 615 Rn. 5 mwN).
b) Der Auffassung des Berufungsgerichts, das Amtsgericht habe nur über den mit Schriftsatz vom 6. Dezember 2009 begründeten Antrag aus dem Mahnbescheid entschieden, kann nicht beigetreten werden.
aa) Da das Urteil keinen Tatbestand enthält und die Anträge nicht wiedergegeben sind, lässt es nicht erkennen, mit welchen prozessualen Ansprüchen sich das Gericht befasst hat. Auch den zur Auslegung des Tenors heranzuziehenden Entscheidungsgründen (vgl. Senatsurteil vom 21. Januar 1986 - VI ZR 63/85, NJW 1986, 2703, 2704) kann nicht mit der aus Gründen der Rechtssicherheit zu fordernden Gewissheit entnommen werden, ob sich die erfolgte Klageabweisung auch auf den Antrag vom 12. Januar 2010 erstrecken sollte. Denn wenn ein bestimmter Antrag in den Entscheidungsgründen eines - nicht mit einem Tatbestand versehenen - Urteils keine Erwähnung gefunden hat, bedeutet dies nicht notwendigerweise, dass das Gericht den Antrag versehentlich übergangen hat und deswegen hierzu keine Ausführungen erfolgt sind (BGH, Urteil vom 30. September 2009 - VIII ZR 29/09, NJW-RR 2010, 19 Rn. 16). Das Schweigen der Entscheidungsgründe kann auch darauf beruhen, dass das Gericht zwar die Abweisung aller Anträge beabsichtigt, die Abweisung aber nicht hinsichtlich aller Anträge begründet hat (vgl. BGH, Urteil vom 30. September 2009 - VIII ZR 29/09, aaO Rn. 17).
bb) Zutreffend geht das Berufungsgericht auch davon aus, dass sich aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung, wonach der "Antrag aus der Klageschrift" gestellt worden ist, mangels Vorliegens einer Klageschrift nicht mit Sicherheit ergibt, welchen Antrag der Klägervertreter gestellt hat. Eine Rücknahme des Antrags aus dem Schriftsatz vom 12. Januar 2010 lässt sich dem Protokoll indessen auch nicht entnehmen. Da das Gericht bei einer unvollständigen Antragstellung jedoch hierauf hinweisen oder die Gründe dafür hätte aufklären müssen (vgl. BGH, Urteil vom 28. Mai 1998 - VII ZR 160/97, NJW 1998, 2977, 2978; Zöller/Greger, ZPO, 28. Aufl., § 297 Rn. 8; § 139 Rn. 3), was vorliegend nicht geschehen ist, spricht die Formulierung des Sitzungsprotokolls dafür, dass beide Anträge gestellt worden sind und sich das Amtsgericht mit beiden Anträgen befasst hat.
cc) Die Durchführung des vereinfachten Verfahrens gemäß § 495a ZPO, das nur bei einem Streitwert von bis zu 600 € zulässig ist, und die Zurückweisung der Anhörungsrüge ohne inhaltliche Befassung mit dem als übergangen gerügten Antrag könnten darauf hindeuten, dass das Amtsgericht den mit der Klageerweiterung angekündigten und nicht ausdrücklich beschiedenen Antrag als eine den Streitwert nicht erhöhende Nebenforderung behandelt und mit Rücksicht darauf eine besondere Begründung der Abweisung dieses Antrags für entbehrlich gehalten hat.
dd) Die Auslegung des Urteils als Entscheidung über beide Klageanträge entspricht auch der im Interesse der Parteien anzustrebenden Rechtsklarheit und Rechtssicherheit. Bei einer Fallgestaltung, wie sie hier gegeben ist, darf eine Partei nicht auf den verfahrensmäßig unsicheren Weg des § 321 ZPO verwiesen werden (vgl. BGH, Urteil vom 30. September 2009 - VIII ZR 29/09, aaO Rn. 20 ff.). Wäre davon auszugehen, dass das Amtsgericht bewusst nur über den Antrag aus dem Mahnbescheid entschieden hat, läge ein Teilurteil - mit unrichtiger Kostenentscheidung - vor (§ 301 ZPO), mit dem beiden Parteien nicht gedient wäre. Dies gilt für die Beklagte schon deshalb, weil sie uneingeschränkt die Abweisung der Klage begehrt hat. Die Klägerin, deren Anhörungsrüge keinen Erfolg gehabt hat, könnte, wenn der Rechtsstreit vor dem Amtsgericht fortgesetzt und ein Schlussurteil über den Antrag aus ihrem Schriftsatz vom 12. Januar 2010 zu ihrem Nachteil ergehen würde, diese Entscheidung mangels Erreichens der Berufungssumme (§ 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) grundsätzlich nicht anfechten. Würde sie den Anspruch anderweitig erneut geltend machen, liefe sie Gefahr, dass sich die Beklagte darauf beruft, hierüber sei bereits rechtskräftig entschieden worden.
ee) Bei dieser Sachlage gebieten Rechtsklarheit und Rechtssicherheit die Annahme, dass sich die Klageabweisung auf beide Anträge der Klägerin bezieht.
c) Hat das Amtsgericht über beide Klageanträge entschieden, übersteigt der Wert des Beschwerdegegenstands mit 723,35 € die Wertgrenze von 600 €. Denn die mit der Klageerweiterung geltend gemachten Rechtsanwaltskosten in Höhe von 229,55 € sind ebenso wie die schon mit dem Mahnbescheid verlangten Rechtsanwaltskosten von 493,80 € nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs als gleichrangige Hauptforderungen zu behandeln und jeweils streitwerterhöhend zu berücksichtigen.
aa) Zwar wirken vorprozessual aufgewendete Kosten zur Durchsetzung eines im laufenden Verfahren geltend gemachten Hauptanspruchs nicht werterhöhend. Soweit aber die Hauptforderung nicht oder nicht mehr Prozessgegenstand ist, wird die Nebenforderung zur Hauptforderung, weil sie sich von der sie bedingenden Forderung "emanzipiert" hat und es ohne Hauptforderung keine Nebenforderung gibt (Senatsbeschlüsse vom 4. Dezember 2007 - VI ZB 73/06, NJW 2008, 999 Rn. 5; vom 13. Februar 2007 - VI ZB 39/06, NJW 2007, 1752 Rn. 9 und vom 17. Februar 2009 - VI ZB 60/07, VersR 2009, 806 Rn. 6; BGH, Beschlüsse vom 21. September 2010 - VIII ZB 39/09, juris Rn. 4 und vom 11. Januar 2011 - VIII ZB 62/10 aaO Rn. 5). So liegt der Fall hier. Über die zugrunde liegende Schadensersatzforderung aus dem Verkehrsunfall wurde außergerichtlich Einigkeit erzielt; sie steht nicht mehr im Streit. Damit besteht kein Abhängigkeitsverhältnis mehr zwischen den hier verlangten Rechtsanwaltsgebühren und der Geltendmachung des ursprünglich gestellten Schadensersatzanspruchs.
bb) Die Ersatzfähigkeit der Kosten für die Einholung der Deckungszusage hängt auch nicht davon ab, ob der Prozessvertreter eine 1,6- oder 1,8-fache Gebühr für sein Tätigwerden bei der Regulierung mit dem Unfallgegner abrechnen darf. Beide Forderungen bilden vielmehr gleichwertige Berechnungsposten des insgesamt geltend gemachten Schadensersatzanspruchs. Sie sind gleichrangig bei der Festsetzung des Streitwerts und der Beschwer zu berücksichtigen (vgl. Senatsbeschluss vom 13. Februar 2007 - VI ZB 39/06, aaO Rn. 10).
3. Danach ist der angefochtene Beschluss aufzuheben und die Sache an das Landgericht zurückzuverweisen.
Galke Zoll Diederichsen
Pauge von Pentz