Entscheidungsdatum: 08.08.2013
Auf türkische Bedienstete einer amtlichen türkischen Vertretung in Deutschland und ihre Angehörigen sind u.a. die Rechtsvorschriften von Deutschland über das Kindergeld für Arbeitnehmer nicht anwendbar, sofern der Bedienstete weiterhin in das türkische Sozialversicherungssystem eingegliedert ist.
I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine türkische Staatsangehörige, begehrte (rückwirkend) für die Zeit ab Januar 2007 für ihre Tochter Kindergeld.
Die Klägerin lebte bis 1987 in der Türkei und zog nach der Heirat zu ihrem in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) tätigen Ehemann. Dieser besitzt ebenfalls die türkische Staatsangehörigkeit und war im Jahre 1983 von der konsularischen Vertretung seines Landes in der Türkei angeworben worden. Er verzog 1983 zur Aufnahme der Tätigkeit als Kraftfahrer in die niedersächsische Stadt A. Die Klägerin und ihr Ehemann erhielten vom Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland (AA) "Protokollausweise für Ortskräfte" mit der Kennzeichnung "OK". Steuern und Sozialversicherungsbeiträge wurden für den Ehemann ausschließlich in der Türkei bezahlt bzw. abgeführt. Die Klägerin erzielte keine Einkünfte im Inland. Am 30. August 1988 wurde ihre Tochter in Deutschland geboren und besuchte hier später die Schule.
Im Februar 2011 beantragte die Klägerin Kindergeld rückwirkend ab dem 1. Januar 2007. Die Tochter besuchte zu dieser Zeit die 12. Klasse einer Fachoberschule in A. Sie verfügte im Streitzeitraum über keine eigenen Einkünfte oder Bezüge und besitzt inzwischen eine Niederlassungserlaubnis nach § 35 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG). Mit Bescheid vom 21. März 2011 lehnte die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) den Kindergeldantrag ab. Einspruch und Klage blieben ohne Erfolg. Die Klägerin habe als Ehefrau einer "unechten Ortskraft" weder einen Anspruch auf Kindergeld aufgrund eines Wohnsitzes oder eines gewöhnlichen Aufenthalts im Inland nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) noch aufgrund einer unbeschränkten Steuerpflicht nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 EStG. Überdies lägen die Voraussetzungen eines Kindergeldanspruchs aufgrund des ausländerrechtlichen Status nach § 62 Abs. 2 EStG oder wegen des tatsächlichen Wohnens im Inland seit mehr als sechs Monaten (entsprechend § 62 Abs. 1 EStG) aus dem Vorläufigen Europäischen Abkommen über Soziale Sicherheit unter Ausschluss der Systeme für den Fall des Alters, der Invalidität und zugunsten der Hinterbliebenen vom 11. Dezember 1953 --VEA-- (BGBl II 1956, 507) nicht vor (Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2012, 1862).
Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts. Das Finanzgericht (FG) habe verkannt, dass die Klägerin gemäß §§ 8, 9 der Abgabenordnung (AO) ihren Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt im Inland und deshalb nach § 62 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 EStG Anspruch auf Kindergeld habe.
Sie beantragt sinngemäß,
unter Aufhebung des Urteils des Niedersächsischen FG vom 16. Mai 2012 3 K 352/11, des Ablehnungsbescheides vom 21. März 2011 und des Einspruchsbescheides vom 7. September 2011 die Familienkasse zu verpflichten, der Klägerin ab Januar 2007 Kindergeld in der jeweils gesetzlichen Höhe zu gewähren.
Die Familienkasse beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
II. Die Revision ist unbegründet und zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat im Ergebnis zu Recht darauf erkannt, dass der Klägerin kein Anspruch auf Kindergeld zusteht.
1. Nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG hat --für Kinder i.S. des § 63 EStG-- Anspruch auf Kindergeld, wer im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Eine Erwerbstätigkeit ist nicht erforderlich.
a) Seinen Wohnsitz hat jemand dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird (§ 8 AO). Nach dem unstreitigen Sachverhalt ergeben sich keine Zweifel daran, dass die Klägerin mit ihrer Familie in dem hier in Rede stehenden Zeitraum ihren Wohnsitz in Deutschland hat. Denn nach den bindenden Feststellungen des FG lebt die Klägerin seit 1987 mit ihrem Ehemann und --seit dem 30. August 1988-- ihrer Tochter in einer Wohnung in der niedersächsischen Stadt A. Das Innehaben einer Wohnung in A wird auch von der Familienkasse nicht bestritten.
b) Dieser Erkenntnis stehen völkerrechtliche Vereinbarungen, insbesondere des Konsularrechts, nicht entgegen. Denn der steuerrechtliche Wohnsitzbegriff stellt auf die tatsächlichen Lebensverhältnisse ab (vgl. z.B. Senatsbeschluss vom 5. November 2001 VI B 219/00, BFH/NV 2002, 311; BFH-Beschluss vom 23. Mai 2012 III B 209/11, BFH/NV 2012, 1477; Koenig in Pahlke/Koenig, Abgabenordnung, 2. Aufl., § 8 Rz 4; Klein/ Gersch, AO, 11. Aufl., § 8 Rz 3). Maßgebend ist allein der objektive Zustand - das Innehaben einer Wohnung und die Umstände, die darauf schließen lassen, dass die Wohnung beibehalten und benutzt wird. Anhaltspunkte, die hieran Zweifel begründen, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
2. Allerdings erhält ein nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer gemäß § 62 Abs. 2 EStG nur Kindergeld, wenn er einen der in dieser Vorschrift genannten "Aufenthaltstitel" besitzt.
a) Bei wortgetreuer Auslegung des § 62 Abs. 2 EStG stünde der Klägerin als türkischer Staatsbürgerin und damit nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländerin kein Kindergeld zu, da sie in dem maßgebenden Streitzeitraum keine von der Ausländerbehörde erteilte Niederlassungs- bzw. Aufenthaltserlaubnis i.S. des § 62 Abs. 2 EStG, sondern nur einen vom AA ausgestellten "Protokollausweis für Ortskräfte" besaß (vgl. BFH-Urteil vom 19. Februar 2013 XI R 9/12, BFH/NV 2013, 1077, m.w.N.).
b) Der BFH hat indes mit Urteil in BFH/NV 2013, 1077 unter Bezugnahme auf das BFH-Urteil vom 25. Juli 2007 III R 55/02 (BFHE 218, 356, BStBl II 2008, 758) entschieden, dass ein "Protokollausweis für Ortskräfte" (vormals "gelber Ausweis") bei ausländischen Staatsangehörigen, die vor dem 1. April 1999 eine Tätigkeit als Mitglied des Personals einer Botschaft bzw. eines Konsulats aufgenommen haben und als ständig in Deutschland ansässig behandelt wurden, im Wege der Analogie einer zur Erwerbstätigkeit berechtigenden Aufenthaltserlaubnis i.S. des § 62 Abs. 2 Nr. 2 EStG gleichzustellen ist. Denn § 62 EStG enthalte eine unbewusste planwidrige Gesetzeslücke, soweit ständig ansässige ausländische Mitglieder des nicht amtlich entsandten Verwaltungs- und technischen Personals sowie des dienstlichen Hauspersonals von Botschaften wegen der Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels beim Kindergeld nicht berücksichtigt würden. Der gesetzlichen Regelung liege offensichtlich die Vorstellung zugrunde, ein rechtmäßiger Daueraufenthalt erfordere stets einen von der Ausländerbehörde ausgestellten Aufenthaltstitel. Dabei sei aber nicht bedacht worden, dass unter anderem die Mitglieder des Verwaltungs- und technischen Personals sowie des dienstlichen Hauspersonals einer Botschaft --unabhängig davon, ob sie im Ausland angeworben worden seien oder schon vor Aufnahme der Tätigkeit bei der Botschaft einen Wohnsitz in Deutschland gehabt hätten-- als ständig ansässig angesehen würden und deshalb sozialversicherungs- und einkommensteuerpflichtig seien (BFH-Urteil in BFHE 218, 356, BStBl II 2008, 758, unter II.3.b). Aus der Erteilung des "gelben Ausweises" --jetzt "Protokollausweis für Ortskräfte"-- ergebe sich, dass sich der Ausweisinhaber rechtmäßig in Deutschland aufhalte und hier eine erlaubte Tätigkeit ausübe. Dieser "Ausweis" sei zwar formell kein Titel im Sinne des Ausländergesetzes (AuslG) 1990 oder des AufenthG, die durch ihn dokumentierte Freistellung von einem Aufenthaltstitel (vgl. bis 2004 § 3 Abs. 1 Nr. 3 der Verordnung zur Durchführung des AuslG 1990 vom 18. Dezember 1990, BGBl I 1990, 2983, und seit 2005 § 27 Abs. 1 Nr. 2 der Aufenthaltsverordnung vom 25. November 2004, BGBl I 2004, 2945) wirke aber wie eine ausländerrechtliche Statusentscheidung, die für den Anspruch auf Kindergeld Tatbestandswirkung entfalte (BFH-Urteil in BFHE 218, 356, BStBl II 2008, 758, unter II.3.d).
Es widerspräche dem Zweck der Kindergeldregelung und wäre auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten bedenklich, wenn ausländische Staatsangehörige, die sich rechtmäßig in Deutschland aufhalten, voraussichtlich auf Dauer in Deutschland einer erlaubten Erwerbstätigkeit nachgehen, in das Sozialversicherungssystem eingegliedert und einkommensteuerpflichtig sind, vom Kindergeld ausgeschlossen würden, weil sie für ihren rechtmäßigen Aufenthalt kraft gesetzlicher Regelung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels befreit sind und deshalb keinen Aufenthaltstitel erhalten.
3. Der erkennende Senat schließt sich den dargestellten Erwägungen in den BFH-Urteilen in BFH/NV 2013, 1077 und in BFHE 218, 356, BStBl II 2008, 758 an, auf deren Begründung im Einzelnen verwiesen wird. Gleichwohl steht der Klägerin kein Anspruch auf Kindergeld zu.
a) Sie ist zwar als Angehörige einer (unechten) Ortskraft im Inland konsularisch als ständig ansässig zu behandeln und damit nach Art. 71 Abs. 2 des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen vom 24. April 1963 (BGBl II 1969, 1585) weder vom deutschen System der sozialen Sicherheit noch von der Besteuerung befreit. Denn nach allgemeiner völkerrechtlicher Praxis werden echte wie unechte Ortskräfte und ihre Angehörigen als ständig Ansässige behandelt (Rundschreiben des AA vom 19. September 2008, Zur Behandlung von Diplomaten und anderen bevorrechtigten Personen in der Bundesrepublik Deutschland, Gemeinsames Ministerialblatt 2008, 1154, 1160, 1162; vgl. auch Richtsteig, Wiener Übereinkommen über diplomatische und konsularische Beziehungen, 2. Aufl., 2010, Art. 38 Anm. 3a; Wagner/Raasch/Pröpstl, Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen vom 18. April 1961, 2007, S. 325; BFH-Urteil in BFHE 218, 356, BStBl II 2008, 758; BFH-Urteil vom 25. Juli 2007 III R 81/03, BFH/NV 2008, 196; FG Köln vom 24. Januar 2001 12 K 7040/98, EFG 2001, 552; Niedersächsisches FG vom 27. Februar 2003 14 K 526/00, EFG 2003, 868; a.A. Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes, Stand 2012 --DA-FamEStG--, BStBl I 2012, 739, Abschn. 62.6 Abs. 2). Hiervon wird regelmäßig nur abgesehen, wenn der ausländische Staat im Einzelfall verbindlich zusichert, die betreffende Ortskraft in absehbarer Frist in den Entsendestaat oder in ein drittes Land zu versetzen (Richtsteig, a.a.O., Art. 38 Anm. 3a). Auch die Finanzverwaltung sieht in ihren Weisungen zur einkommensteuerlichen Behandlung von Mitgliedern ausländischer Botschaften Ortskräfte nur dann als nicht ständig ansässig in Deutschland an, wenn der Leiter der ausländischen Botschaft im Einzelfall ausdrücklich darlegt, dass und aus welchen Gründen die betreffende Ortskraft sich nur vorübergehend in Deutschland aufhält und die Absicht hat, später in den Entsendestaat oder in ein drittes Land auszuwandern (vgl. BFH-Urteile in BFHE 218, 356, BStBl II 2008, 758; in BFH/NV 2008, 196; vom 25. Juli 2007 III R 56/00, juris; jeweils m.w.N.; a.A. DA-FamEStG Abschn. 62.6 Abs. 2).
b) Die Klägerin ist aber nicht in das deutsche Sozialversicherungssystem eingegliedert. Sie nimmt weder selbst als Beschäftigte noch als Familienangehörige eines sozialversicherungspflichtig Beschäftigten am deutschen System der sozialen Sicherheit teil. Denn nach Art. 8 Abs. 1 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über Soziale Sicherheit vom 30. April 1964 (BGBl II 1965, 1170) i.d.F. des Änderungsabkommens vom 28. Mai 1969 (BGBl II 1972, 2) und des Zwischenabkommens vom 25. Oktober 1974 (BGBl II 1975, 374) und des Zusatzabkommens vom 2. November 1984 (BGBl II 1986, 1040) --SozSichAbk TUR-- sind u.a. die Rechtsvorschriften von Deutschland über das Kindergeld für Arbeitnehmer auf türkische Bedienstete einer amtlichen türkischen Vertretung in Deutschland und ihre Angehörigen nicht anwendbar. Das bilaterale Abkommen verweist in diesen Fällen den Bediensteten und seine Angehörigen auf die türkischen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit; überdies ist hier zu berücksichtigen, dass der Ehemann der Klägerin nicht von der (Options) Möglichkeit des Art. 8 Abs. 2 SozSichAbk TUR Gebrauch gemacht und sich nicht für eine Anwendung der deutschen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit entschieden hat. Einer dem Zweck des Kindergeldes und verfassungsrechtlichen Vorschriften entsprechenden analogen Anwendung des § 62 Abs. 2 EStG bedarf es in einem solchen Fall daher nicht. Insofern unterscheidet sich der Rechtsstreit von den Fällen in BFH/NV 2013, 1077 und in BFHE 218, 356, BStBl II 2008, 758, die Ortskräfte betrafen, die sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren (vgl. Richtsteig, a.a.O., Art. 33 Anm. 3, Art. 38 Anm. 3, Art. 71 Anm. 3).
4. Dem steht das VEA, das weiter in Kraft ist (vgl. BFH-Urteil vom 17. Juni 2010 III R 42/09, BFHE 230, 337) nicht entgegen.
a) Gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. d VEA haben die Staatsangehörigen eines der Vertragschließenden Anspruch auf die Leistungen nach den Gesetzen und Regelungen jedes anderen Vertragschließenden unter denselben Bedingungen wie die Staatsangehörigen des letzteren, sofern sie bezüglich der nicht auf Beiträgen beruhenden Leistungen, unter Ausschluss der Leistungen bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten, seit wenigstens sechs Monaten im Gebiet des letzteren Vertragschließenden "wohnen". Danach steht türkischen Staatsangehörigen, die seit wenigstens sechs Monaten in Deutschland wohnen, wie deutschen Staatsangehörigen Kindergeld unter den Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 EStG zu (BFH-Urteil in BFHE 230, 337).
b) Allerdings ist das VEA wegen der spezielleren und zeitlich nachfolgenden Vorschriften des Sozialabkommens mit der Türkei auf vorliegenden Sachverhalt nicht anwendbar, obwohl die Klägerin und ihr Ehemann hier seit mehr als sechs Monaten wohnen. Das rund zehn Jahre später bilateral abgeschlossene Sozialabkommen mit der Türkei regelt die Rechte und Ansprüche nach dem VEA von türkischen Bediensteten einer in Deutschland belegenen amtlichen Vertretung und ihren Angehörigen genauer und geht diesem deshalb in seinem besonderen Regelungsgehalt --hier dem Verlust der deutschen Kindergeldberechtigung-- nach den allgemeinen Auslegungsregeln vor. Dies hat das FG zu Recht erkannt.