Entscheidungsdatum: 18.12.2014
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Finanzgerichts Baden-Württemberg vom 19. März 2013 8 K 518/11 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.
I. Streitig ist, ob der Einkommensteuerbescheid 2005 nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) geändert werden durfte.
Nach Eingang der Einkommensteuererklärung der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) am 31. Januar 2007 setzte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) mit Bescheid vom 21. Februar 2007 gegenüber der Klägerin die Einkommensteuer für das Streitjahr (2005) fest. Gegen diese Steuerfestsetzung legte die Klägerin mit Schreiben vom 8. März 2007 Einspruch ein. Sie beantragte einen Entlastungsbetrag für Alleinerziehende gemäß § 24b des Einkommensteuergesetzes (EStG) in Höhe von 1.308 € sowie die Übertragung des Hinterbliebenen-Pauschbetrags der Tochter … gemäß 33b Abs. 4 EStG in Höhe von 370 €. Darüber hinaus bat sie um Ruhen des Verfahrens hinsichtlich folgender Punkte wegen anhängiger Musterverfahren beim Bundesfinanzhof (BFH) bzw. beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG):
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Vollständiger Abzug der Arbeitnehmeranteile für die Rentenversicherung als Sonderausgaben gemäß § 10 EStG |
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unbeschränkter Abzug von Krankenversicherungsbeiträgen als Vorsorgeaufwendungen. |
Am 12. April 2007 erließ das FA einen Änderungsbescheid, in dem der beantragte Entlastungsbetrag für Alleinerziehende sowie der Hinterbliebenen-Pauschbetrag berücksichtigt wurden. In den Erläuterungen dazu heißt es u.a.: "Ihrem Antrag auf Ruhen des Verfahrens wird entsprochen. Hierdurch erledigt sich Ihr Einspruch/Antrag vom 08.03.07. Dieser Bescheid ändert den Bescheid vom 21.02.07."
Im Anschluss ruhte das Einspruchsverfahren wegen der o.g. Punkte.
Mit Schreiben vom 23. April 2009 teilte das FA der Klägerin im vergleichbar gelagerten Einspruchsverfahren wegen Einkommensteuer 2004 mit, dass ein Ruhen des Verfahrens nicht länger in Betracht komme. Dieses Verfahren hatte wegen der o.g. beiden Punkte sowie wegen zweier zusätzlicher Musterverfahren ebenfalls geruht. Das FA stellte der Klägerin in diesem Schreiben bezüglich der Einkommensteuer 2004 jedoch in Aussicht, hinsichtlich einiger im Einzelnen aufgeführter Punkte "im Hinblick auf die Verfassungsmäßigkeit und verfassungskonforme Auslegung der Norm" die Steuerfestsetzung vorläufig vorzunehmen. Am Ende des Schreibens heißt es: "Die für Sie in Betracht kommenden Vorläufigkeitspunkte werden programmgesteuert für jeden Veranlagungszeitraum ermittelt! Sie werden gebeten, bis spätestens 10.05.2009 mitzuteilen, ob Sie mit der Erledigung des o.g. Einspruchs in vorgenannter Weise einverstanden sind."
Mit Bescheid vom 23. November 2009 nahm das FA zwei zusätzliche Vorläufigkeitsvermerke in den Einkommensteuerbescheid 2005 auf. Im Übrigen blieb dieser --auch betragsmäßig-- unverändert. In den Erläuterungen heißt es: "Durch den erweiterten Vorläufigkeitsvermerk (s. unten) erledigt sich Ihr Einspruch gegen die von Ihnen angegriffenen Regelungen bzw. die von Ihnen angegriffenen Regelungen sind durch Urteil/Beschluss erledigt. Ihr Rechtsschutzinteresse wird dadurch gewahrt."
Am 26. Februar 2010 erließ das FA erneut einen geänderten Einkommensteuerbescheid, in dem eine Prüfungsmitteilung vom 6. März 2008, resultierend aus einer beim Arbeitgeber der Klägerin durchgeführten Lohnsteuer-Außenprüfung, ausgewertet wurde. Angesetzt wurde ein geldwerter Vorteil aufgrund einer Kfz-Überlassung an die Klägerin. Der Bescheid enthält die Feststellung: "Der Bescheid ist nach § 129 AO berichtigt."
Gegen den geänderten Bescheid legte die Klägerin am 29. März 2010 Einspruch ein. Sie führte aus, dass § 129 AO nicht die richtige Änderungsvorschrift sei. Einschlägig sei vielmehr § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO. Zum Zeitpunkt der Änderung am 23. November 2009 (Vornahme der Vorläufigkeitsvermerke) seien die Feststellungen der Lohnsteuer-Außenprüfung bereits bekannt gewesen. Bei der erneuten Änderung am 26. Februar 2010 seien die fraglichen Feststellungen nicht mehr neu gewesen. Eine Änderung gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO scheide daher aus.
Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage wies das Finanzgericht (FG) als unbegründet ab.
Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts.
Sie beantragt,
das Urteil des FG Baden-Württemberg vom 19. März 2013 8 K 518/11 und den Einkommensteuerbescheid 2005 vom 26. Februar 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 4. Januar 2011 aufzuheben.
Das FA beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II. Die Entscheidung ergeht gemäß § 126a der Finanzgerichtsordnung (FGO). Der Senat hält einstimmig die Revision für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich. Die Beteiligten sind davon unterrichtet worden und hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO). Zu Recht hat das FG entschieden, dass der Änderungsbescheid 2005 vom 26. Februar 2010 rechtmäßig ist.
1. Nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen.
a) Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 AO ist jeder Lebenssachverhalt, der Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Tatbestands sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen, Eigenschaften materieller oder immaterieller Art (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Urteil vom 19. Februar 2013 IX R 24/12, BFHE 240, 265, BStBl II 2013, 484, m.w.N., und BFH-Beschluss vom 19. Oktober 2011 X R 29/10, BFH/NV 2012, 227, m.w.N.).
b) Nachträglich werden Tatsachen oder Beweismittel bekannt, wenn deren Kenntnis nach dem Zeitpunkt erlangt wird, in dem die Willensbildung über die Steuerfestsetzung abgeschlossen ist (Senatsurteil vom 13. Juni 2012 VI R 85/10, BFHE 238, 295, BStBl II 2013, 5). Maßgeblich ist grundsätzlich der letzte Bescheid, der für eine abschließende Sachprüfung in Betracht kommt (von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler --HHSp--, § 173 AO Rz 212).
aa) Ist der ursprüngliche Steuerbescheid (hier der Änderungsbescheid vom 12. April 2007) geändert und sind im Änderungsbescheid (hier vom 23. November 2009) bestimmte Tatsachen nicht berücksichtigt worden (hier die Prüfungsmitteilung vom 6. März 2008), sind diese Tatsachen bei einer beabsichtigten späteren Änderung nach § 173 AO nicht (mehr) neu, wenn nach § 88 AO Anlass bestand, sie bereits bei Erlass des Änderungsbescheids zu berücksichtigen. Denn der Änderungsbescheid tritt verfahrensrechtlich an die Stelle des ursprünglichen Bescheids (BFH-Urteil vom 13. September 2001 IV R 79/99, BFHE 196, 195, BStBl II 2002, 2). Tatsachen und Beweismittel, die bei der abschließenden Zeichnung des Änderungsbescheids schon vorhanden waren, aber nicht berücksichtigt wurden, berechtigen nach Eintritt der Bestandskraft nicht mehr zur Korrektur nach § 173 AO (von Groll in HHSp, § 173 AO Rz 212 f.; Klein/Rüsken, AO, 12. Aufl., § 173 Rz 54 f.; Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 173 AO Rz 50; von Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO § 173 Rz 49; Forchhammer in Leopold/Madle/ Rader AO, § 173 Rz 18).
bb) Verpflichtet hingegen die beabsichtigte Änderung nach ihrer Art nicht zur weiteren Sachprüfung, bleibt eine spätere Änderung des (vorherigen) Änderungsbescheids nach § 173 AO möglich. Eine solche Pflicht zur (umfassenden) Berücksichtigung aller bis dahin bekanntgewordenen Tatsachen besteht insbesondere nicht bei Änderungen nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO, bei denen das Finanzamt den Grundlagenbescheid ohne eigene Sachprüfung übernehmen muss (BFH-Urteil vom 12. Januar 1989 IV R 8/88, BFHE 156, 4, BStBl II 1989, 438; von Groll in HHSp, § 173 AO Rz 212, 214; Klein/Rüsken, a.a.O., § 173 Rz 54 f.; Loose, a.a.O., § 173 AO Rz 50; von Wedelstädt, a.a.O., AO § 173 Rz 49; Forchhammer, a.a.O., § 173 Rz 18). Entsprechendes gilt --wie das FG zutreffend erkannt hat-- in Fällen des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO. Auch in diesen Massenrechtsbehelfsverfahren, die allein darauf abzielen, dem Steuerpflichtigen eine spätere materielle Änderung zu ermöglichen, wenn das Musterverfahren Erfolg hat, ist das Finanzamt lediglich zu einer punktuellen Überprüfung des Steuerbescheids im Hinblick auf den Vorläufigkeitsausspruch verpflichtet. Denn § 165 Abs. 1 Satz 2 AO erlaubt eine vorläufige Steuerfestsetzung nur im Rahmen der dort aufgeführten Katalogtatbestände. Nur soweit im Einzelfall eine dort benannte "Ungewissheit über das anzuwendende Recht" vorliegt, darf insbesondere zur Vermeidung von Massenrechtsbehelfsverfahren eine Vorläufigkeitserklärung erfolgen. Darüber haben die Finanzbehörden nach pflichtgemäßem Ermessen (§ 5 AO) zu entscheiden. Dementsprechend wird dem Antrag (Einspruch) des Steuerpflichtigen, den Einkommensteuerbescheid hinsichtlich eines der in § 165 Abs. 1 Satz 2 AO benannten Vorläufigkeitsgründe für vorläufig zu erklären, ohne nähere Prüfung stattgegeben, sofern dies verwaltungsinternen Anweisungen entspricht. Deshalb brauchen auch bei einer Änderung der Steuerfestsetzung nach § 165 Abs. 1 Satz 2 AO andere als die die Ungewissheit betreffenden Tatsachen nicht berücksichtigt werden, auch wenn sie den Finanzbehörden zum Zeitpunkt dieser Änderung bekannt sind oder als Bestandteil der Akten des zu veranlagenden Steuerpflichtigen als bekannt gelten (Senatsurteile in BFHE 238, 295, BStBl II 2013, 5, und vom 13. Januar 2011 VI R 61/09, BFHE 232, 5, BStBl II 2011, 479, jeweils m.w.N.). Vielmehr ist insoweit auch nach der Vorläufigkeitserklärung noch eine Änderung nach § 173 AO möglich (Frotscher in Schwarz, AO, § 173 Rz 114; von Wedelstädt, a.a.O., AO § 173 Rz 49; Forchhammer, a.a.O., § 173 Rz 18; Klein/Rüsken, a.a.O., § 173 Rz 57; FG Düsseldorf vom 18. September 1996 7 K 1562/91 GE, Entscheidungen der Finanzgerichte 1997, 140).
2. Nach diesen Grundsätzen hat das FG zutreffend entschieden, dass der Einkommensteuerbescheid 2005 vom 23. November 2009 durch das FA nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO geändert werden durfte und der Änderungsbescheid 2005 vom 26. Februar 2010 rechtmäßig ist.
a) Zutreffend gehen die Beteiligten übereinstimmend davon aus, dass der geldwerte Vorteil aus der Überlassung eines betrieblichen PKW auch zur privaten Nutzung eine Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 AO ist.
b) Entgegen der Auffassung der Revision ist diese Tatsache dem FA erst nach dem Erlass des Einkommensteuer(änderungs)bescheids vom 23. November 2009 und damit nachträglich bekannt geworden. Denn vorliegend hat das FA die (geänderte) Einkommensteuerfestsetzung 2005 vom 12. April 2007 mit Bescheid vom 23. November 2009 lediglich insoweit geändert, als es die ursprüngliche Steuerfestsetzung im Hinblick auf beim BVerfG und beim BFH anhängige Musterverfahren gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 AO für vorläufig erklärt hat. Zu einer über die Rechtmäßigkeit dieser Änderung hinausgehenden materiellen Überprüfung dieses Steuerbescheids war das FA dabei nicht verpflichtet. Damit gelten die Erkenntnisse aus der Prüfungsmitteilung vom 6. März 2008 als neu, auch wenn diese zum Zeitpunkt der punktuellen Änderung der Steuerfestsetzung mit Bescheid vom 23. November 2009 bereits Inhalt der Akten waren.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.