Entscheidungsdatum: 19.10.2011
1. NV: Die von der Finanzverwaltung vorgesehenen Pauschbeträge für den Betriebsausgabenabzug bei Auslandsübernachtungen sind zur Vermeidung einer offensichtlich unzutreffenden Besteuerung nicht anzuwenden, wenn der Steuerpflichtige nicht im Hotel, sondern bei nahen Angehörigen übernachtet.
2. NV: Eine bestandskräftige Einkommensteuerfestsetzung kann geändert werden, wenn nachträglich Tatsachen bekannt werden, die zu dem sicheren Schluss führen, dass die Anwendung der Pauschbeträge für Auslandsübernachtungen eine offensichtlich unzutreffende Besteuerung darstellen würde.
I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute, die zur Einkommensteuer zusammen veranlagt werden. Der Kläger ist britischer Staatsbürger, jedoch in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtig. Er erzielt seit 2004 als Mediendesigner Einkünfte aus Gewerbebetrieb, die er durch Einnahmen-Überschuss-Rechnung ermittelt.
In den Streitjahren 2004 und 2006 zog er in seinen Gewinnermittlungen jeweils Übernachtungskosten anlässlich von Geschäftsreisen als Betriebsausgaben ab. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) führte die Veranlagungen zunächst erklärungsgemäß durch; die Bescheide für die Streitjahre ergingen nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung.
Im Rahmen einer späteren Außenprüfung erklärte der Kläger der Prüferin, hinsichtlich der Übernachtungskosten habe er die von der Finanzverwaltung hierfür festgelegten Pauschbeträge angesetzt (für 2004: 53 Nächte x 108 €/Nacht = 5.724 €; für 2006: 9 Nächte x 152 €/Nacht = 1.368 €). Tatsächlich habe er bei seiner Mutter übernachtet, die in einer Kleinstadt (K) nordwestlich von London wohne. Von dort aus habe er seine Kunden in und um London aufgesucht.
Erstmals nach Durchführung der Schlussbesprechung und Zusendung des Prüfungsberichts behauptete der Kläger, im Jahr 2004 nicht ausschließlich bei seiner Mutter übernachtet, sondern schätzungsweise 20 Übernachtungen im Hotel durchgeführt zu haben. Die Kosten hierfür schätze er auf 75 € pro Nacht. Zudem habe er anlässlich der Übernachtungen bei seiner Mutter Beiträge zu den Lebenshaltungskosten geleistet, die er --unter Vorlage einer schriftlichen Bestätigung der Mutter-- auf 25 bis 30 Britische Pfund (ca. 40 €) pro Nacht schätze ("25 to 30 pounds would be a good guess").
Die Prüferin setzte pauschale Übernachtungskosten von 25 € pro Nacht an und minderte die als Betriebsausgaben abziehbaren Übernachtungskosten auf 1.325 € (2004) bzw. 225 € (2006). Das FA erließ gegen die Kläger entsprechende, verfahrensrechtlich auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) gestützte Änderungsbescheide zur Einkommensteuer 2004 und 2006.
Im Einspruchs- und Klageverfahren machten die Kläger erfolglos geltend, die Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO lägen nicht vor. Das Finanzgericht (FG) führte aus, maßgebender nachträglich bekannt gewordener Lebenssachverhalt sei, dass der Kläger überwiegend bei seiner Mutter übernachtet habe, die hierfür kein Entgelt gefordert habe. Selbst wenn es sich dabei lediglich um eine Hilfstatsache handeln sollte, ließe sie doch den sicheren Schluss auf die Haupttatsache --das Entstehen bzw. Nichtentstehen tatsächlicher Übernachtungskosten-- zu. Auch die nunmehrige Schätzung der Höhe der Übernachtungskosten durch das FA sei nicht zu beanstanden. Die Pauschbeträge würden hier zu einer offensichtlich unzutreffenden Besteuerung führen. Die vom Kläger behauptete Beteiligung an den Lebenshaltungskosten sei mit dem Ansatz von 25 € eher großzügig berücksichtigt. Hinreichende Anhaltspunkte für tatsächliche Hotelübernachtungen fehlten.
Mit ihrer Revision bringen die Kläger vor, es reiche für die Befugnis zur Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht aus, wenn das FG aus der Hilfstatsache, wonach ein Teil der Übernachtungen bei der Mutter erfolgt sei, den sicheren Schluss ableite, dass Kosten in Höhe der Verwaltungspauschalen nicht entstanden seien. Vielmehr wäre der sichere Schluss erforderlich gewesen, dass die Höhe der Übernachtungskosten sich auf genau 1.325 € bzw. 225 € belaufen habe. Denn der Ersatz einer Schätzung durch eine andere Schätzung sei in den Fällen des § 173 AO nicht zulässig. Die Vorinstanz habe den Fall so beurteilt, als hätten zuvor keine bestandskräftigen Steuerbescheide vorgelegen, und dem Kläger zu Unrecht die Darlegungs- und Beweislast aufgebürdet. Dieser habe sich auf die einschlägigen Verwaltungsanweisungen verlassen dürfen. Im Übrigen sei die Schätzung des FA zu hoch ausgefallen, weil die Mutter des Klägers einen Betrag von 40 € bestätigt habe.
Die Kläger beantragen sinngemäß,
das angefochtene Urteil, die geänderten Einkommensteuerbescheide für die Jahre 2004 und 2006 vom 27. April 2009 und die Einspruchsentscheidung vom 8. Juli 2009 aufzuheben.
Das FA beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II. Die Revision ist unbegründet und nach § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen. Die Entscheidung ergeht gemäß § 126a FGO durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung. Der Senat hält einstimmig die Revision für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich. Die Beteiligten sind davon unterrichtet worden und hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
1. In revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise hat das FG die Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO als erfüllt angesehen.
a) Danach sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen. Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 AO ist jeder Lebenssachverhalt, der Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Tatbestands sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen, Eigenschaften materieller oder immaterieller Art (ständige Rechtsprechung, vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 30. Oktober 2003 III R 24/02, BFHE 204, 10, BStBl II 2004, 394, unter II.1., m.w.N.). Schlussfolgerungen und Schätzungsergebnisse sind demgegenüber keine Tatsachen in diesem Sinne.
Hilfstatsachen dürfen nur herangezogen werden, wenn sie einen sicheren Schluss auf das Vorliegen der Haupttatsache zulassen; bloße Vermutungen oder Wahrscheinlichkeiten reichen hierfür nicht aus (BFH-Urteil vom 6. Dezember 1994 IX R 11/91, BFHE 176, 221, BStBl II 1995, 192, unter 1.).
b) Das FG hat ausgeführt, maßgebender nachträglich bekannt gewordener Lebenssachverhalt sei, dass der Kläger --jedenfalls überwiegend-- bei seiner Mutter übernachtet und diese hierfür kein Entgelt gefordert habe. Es könne offenbleiben, ob es sich bei dem Umstand, dass die Übernachtungen nicht im Hotel, sondern bei der Mutter durchgeführt worden seien, lediglich um eine Hilfstatsache handele, da diese jedenfalls einen sicheren Schluss auf die Haupttatsache --das Nichtanfallen der als Betriebsausgaben abgesetzten Übernachtungskosten-- zulasse.
c) Dies lässt Rechtsfehler nicht erkennen.
aa) Die Beurteilung dessen, was im konkreten Fall als "Tatsache" --Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Tatbestands-- anzusehen ist, hat von der Regelung des § 4 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) auszugehen. Danach sind Betriebsausgaben die Aufwendungen, die durch den Betrieb veranlasst sind. Der Abzug von Betriebsausgaben setzt daher stets das Vorliegen --in Fällen der Gewinnermittlung durch Einnahmen-Überschuss-Rechnung den Abfluss (§ 11 Abs. 2 EStG)-- von Aufwendungen voraus. Daran fehlt es, wenn anlässlich von Übernachtungen bei der Mutter des Klägers nicht die vom Kläger angesetzten Kosten von 108 € bzw. 152 € täglich, sondern gar keine oder jedenfalls wesentlich geringere Aufwendungen angefallen sind.
bb) Allerdings beruft sich der Kläger im Ausgangspunkt zu Recht auf R 40 Abs. 2 Satz 2 der Lohnsteuer-Richtlinien in der in den Streitjahren geltenden Fassung (LStR 2004), wonach bei Übernachtungen im Ausland die Übernachtungskosten ohne Einzelnachweis der tatsächlichen Aufwendungen mit Pauschbeträgen angesetzt werden dürfen, die vom Bundesministerium der Finanzen (BMF) bekannt gemacht werden (vgl. für die Zeit ab 1. Januar 2002 BMF-Schreiben vom 12. November 2001, BStBl I 2001, 818; ab 1. Januar 2005 BMF-Schreiben vom 9. November 2004, BStBl I 2004, 1052).
(1) Der Senat kann offenlassen, ob diese Pauschalierung auf eine hinreichende Rechtsgrundlage gestützt werden kann. In den genannten BMF-Schreiben wird insoweit zwar die Vorschrift des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 5 EStG herangezogen. Satz 4 dieser Regelung ermächtigt das BMF allerdings lediglich zur Festlegung von Pauschbeträgen für Verpflegungsmehraufwand, nicht hingegen für Übernachtungskosten.
Auch ist zweifelhaft, ob die Pauschbeträge auf die --unter dem Gesichtspunkt des "steuerlichen Massenverfahrens" dem Grunde nach gegebene-- allgemeine Typisierungsbefugnis der Finanzverwaltung gestützt werden können. Denn es ist nicht ersichtlich, weshalb gerade ein Nachweis der Kosten von im Ausland durchgeführten Hotelübernachtungen für die Steuerpflichtigen wesentlich schwieriger zu erbringen ist als der Nachweis sonstiger --in- oder ausländischer-- Betriebsausgaben, für die die Finanzverwaltung aber keine Pauschalierungen vorsieht.
Dementsprechend lässt die Finanzverwaltung ab 2009 einen Abzug von Übernachtungskosten beim Betriebsinhaber ausschließlich im Falle des Einzelnachweises zu und wendet die Pauschbeträge nur noch auf Erstattungen durch den Arbeitgeber an (vgl. BMF-Schreiben vom 17. Dezember 2008, BStBl I 2008, 1077).
(2) Jedenfalls steht die Anwendung der Pauschalen bereits nach der eigenen Auffassung der Finanzverwaltung unter dem Vorbehalt, dass sie nicht im Einzelfall zu einer offensichtlich unzutreffenden Besteuerung führt, was bei einer vom Normaltypus abweichenden Art der Reise der Fall sei (H 40 LStR 2004 "Übernachtungen im Ausland"). Dies entspricht auch der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. BFH-Entscheidungen vom 11. Mai 1990 VI R 140/86, BFHE 160, 546, BStBl II 1990, 777, unter 2.c; vom 9. Mai 2005 VI B 3/05, BFH/NV 2005, 1550, und vom 23. März 2011 X R 44/09, BFHE 233, 297, BStBl II 2011, 884, unter II.3.d).
Selbst wenn der "gesetzliche Tatbestand", auf den für die Beurteilung, ob eine "Tatsache" i.S. des § 173 AO gegeben ist, abzustellen ist, aufgrund der Heranziehung der dargestellten Verwaltungsregelungen über die Vorschrift des § 4 Abs. 4 EStG hinaus zu erweitern wäre, so dass es auf einen Einzelnachweis und die tatsächliche Höhe der Aufwendungen grundsätzlich nicht ankäme, gehörte zu diesem "gesetzlichen Tatbestand" doch zugleich der Vorbehalt, dass es nicht zu einer offensichtlich unzutreffenden Besteuerung kommen dürfe. Dies ist aber bei Übernachtungen, die nicht im Hotel, sondern bei nahen Angehörigen des Steuerpflichtigen durchgeführt werden, ersichtlich der Fall, da derartige Übernachtungen vom Normaltypus einer Geschäftsreise erheblich abweichen.
Der Umstand, dass der Kläger bei seiner Mutter übernachtet hat, ist in diesem Sinne Haupttatsache, die Teilstück des "gesetzlichen Tatbestands" einer offensichtlich unzutreffenden Besteuerung ist.
Anders als die Kläger meinen, ist diese rechtliche Beurteilung dessen, was "Merkmal des gesetzlichen Tatbestands" sowie "Tatsache" ist, unabhängig davon, ob der Kläger seine Mitwirkungspflichten im Besteuerungsverfahren verletzt hat oder nicht.
d) Die weiteren Einwendungen der Kläger können der Revision nicht zum Erfolg verhelfen.
aa) So trifft es zwar zu, dass im Falle von Schätzungen die Vorschrift des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht dazu berechtigt, auf eine neue Schätzungsmethode überzugehen. Allerdings dürfen auch im Rahmen einer Schätzung neue Erkenntnisse berücksichtigt werden (vgl. BFH-Urteil vom 2. März 1982 VIII R 225/80, BFHE 136, 28, BStBl II 1984, 504). Insofern geht der Einwand der Kläger fehl, dass in derartigen Fällen das neue Schätzungsergebnis "sicher" feststehen müsse und daher denknotwendig jede neue Schätzung ausgeschlossen sei.
Dies zeigt sich im Streitfall --von den Beteiligten bisher nicht angesprochen-- schon daran, dass die vom Kläger angesetzten Pauschbeträge von 108 € bzw. 152 €, bei denen es sich ebenfalls um Schätzungen handelt, ausschließlich für Übernachtungen innerhalb von London gelten. Für Übernachtungen in K, dem Wohnort der Mutter des Klägers, belaufen sich die Verwaltungspauschalen hingegen auf lediglich 57 € (Streitjahr 2004) bzw. 110 € (Streitjahr 2006). Es ist unzweifelhaft, dass das FA die Steuerbescheide dem Grunde nach schon deshalb auf der Grundlage des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ändern durfte, weil ihm nachträglich bekannt geworden ist, dass der Kläger nicht in London, sondern in K übernachtet hat, einem Ort, für den die Verwaltung geringere Übernachtungspauschalen ansetzt. Dies gilt ungeachtet dessen, dass sowohl die für London als auch die für den Rest des Vereinigten Königreichs geltenden Pauschalen jeweils Schätzungen i.S. des § 162 AO darstellen.
In diesem Sinne haben nunmehr FA und FG unter Berücksichtigung der nachträglich bekannt gewordenen Erkenntnisse unter Beibehaltung der Schätzungsmethode --Pauschbeträge statt Einzelnachweis-- die ursprüngliche Schätzung des Klägers (108 € bzw. 152 € je Übernachtung) in zulässiger Weise durch einen Pauschbetrag von 25 € ersetzt.
bb) Anders als die Kläger behaupten, hat das FG nicht etwa festgestellt, dass der Kläger im Jahr 2004 tatsächlich etwa 20 mal im Hotel übernachtet hätte. Vielmehr hat das FG ausdrücklich ausgeführt, es fehlten hinreichende Anhaltspunkte für tatsächliche Hotelübernachtungen.
cc) Die Vorinstanz hat auch nicht die Grundsätze über die Feststellungslast verkannt. Vielmehr hat sie sich die volle Überzeugung (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO) davon verschafft, dass die tatsächlichen Voraussetzungen für eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO gegeben sind. Eine Entscheidung nach den Grundsätzen der --hier beim FA liegenden-- Feststellungslast, bei der es sich lediglich um eine "ultima ratio" handelt, wäre nur dann in Betracht gekommen, wenn das FG sich keine eigene Überzeugung hätte bilden können (vgl. Senatsurteile vom 15. Februar 1989 X R 16/86, BFHE 156, 38, BStBl II 1989, 462, unter 2., und in BFHE 233, 297, BStBl II 2011, 884, unter II.2.). Auch diese prozessualen Grundsätze sind im Ausgangspunkt unabhängig davon, ob ein Beteiligter seine Mitwirkungspflichten verletzt hat oder nicht.
2. Soweit die Kläger rügen, die Schätzung der Übernachtungskosten sei angesichts der von der Mutter des Klägers vorgelegten Bestätigung zu gering ausgefallen, ist der erkennende Senat an die entsprechenden Feststellungen des FG gebunden (§ 118 Abs. 2 FGO).
Die Kläger haben in Bezug auf diese Feststellungen keine zulässigen Verfahrensrügen vorgebracht. Die Schätzung ist angesichts des Fehlens von Belegen über die Höhe der tatsächlichen Kosten bzw. Kostenbeiträge auch erkennbar nicht willkürlich.