Entscheidungsdatum: 19.01.2017
Der Umstand, dass der Betroffene vor seiner Einreise seinen Pass vernichtet hat, ist nicht geeignet, eine über sechs Monate hinausgehende Haftdauer zu begründen.
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss des Landgerichts Traunstein - 4. Zivilkammer - vom 15. Juni 2016 aufgehoben und festgestellt, dass die Anordnung der Haft in dem Beschluss des Amtsgerichts Mühldorf am Inn vom 2. Juni 2016 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.
Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden der Bundesrepublik Deutschland auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.
I.
Der Betroffene ist marokkanischer Staatsangehöriger. Er reiste, nachdem er Ende November 2015 wegen unerlaubter Einreise nach Österreich zurückgewiesen worden war, erneut unerlaubt nach Deutschland ein. Mit Beschluss vom 4. Dezember 2015 ordnete das Amtsgericht Haft bis längstens 3. Juni 2016 zur Sicherung der Abschiebung des Betroffenen nach Marokko an. Die Beschwerde und die Rechtsbeschwerde des Betroffenen waren erfolglos.
Mit Beschluss vom 2. Juni 2016 hat das Amtsgericht die Verlängerung der Abschiebungshaft bis zum 15. Juni 2016 angeordnet. Das Landgericht hat die Beschwerde zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde beantragt der zwischenzeitlich nach Marokko abgeschobene Betroffene die Feststellung, dass der Haftverlängerungsbeschluss ihn in seinen Rechten verletzt hat. Die beteiligte Behörde hält die Rechtsbeschwerde für unbegründet.
II.
Nach Ansicht des Beschwerdegerichts durfte die Sicherungshaft gemäß § 62 Abs. 4 Satz 2 AufenthG über sechs Monate hinaus verlängert werden. Der Betroffene habe seine Abschiebung verhindert, indem er seinen Pass ins Meer geworfen habe, um einer eventuellen Rückführung in sein Heimatland zu entgehen. Dadurch sei ein langwieriges Verfahren zur Beschaffung eines Passersatzpapieres erforderlich geworden. Zudem habe er gegen die ihm gemäß § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylG, § 48 AufenthG obliegende Verpflichtung verstoßen, an der Beschaffung eines Identitätspapiers mitzuwirken, da er keine näheren Angaben zu seiner Herkunft im Heimatland und seinen Verwandtschaftsverhältnissen gemacht und sich nicht bemüht habe, Kopien seiner Geburtsurkunde oder seines Passes beizubringen.
III.
Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet. Die Feststellungen des Amtsgerichts und des Beschwerdegerichts sind nicht geeignet, die Verlängerung der Abschiebungshaft über sechs Monate hinaus zu tragen.
1. Die Verlängerung der Abschiebungshaft über sechs Monate hinaus setzt nach § 62 Abs. 4 Satz 2 AufenthG voraus, dass der Ausländer seine Abschiebung verhindert.
a) Die Vorschrift des § 62 AufenthG enthält im Hinblick auf die zulässige Haftdauer eine abgestufte Regelung. § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG lässt erkennen, dass Abschiebungshaft in der Regel nicht länger als drei Monate dauern soll (Senat, Beschluss vom 9. Februar 2012 - V ZB 305/10, juris Rn. 27). Eine über diesen Zeitraum hinausgehende Haftanordnung bis zu sechs Monaten ist zulässig, wenn aus von dem Ausländer zu vertretenden Gründen die Abschiebung erst nach mehr als drei Monaten durchgeführt werden kann (§ 62 Abs. 3 Satz 3, Abs. 4 Satz 1 AufenthG). Zu vertreten hat der Ausländer nicht nur solche Umstände, die für die Behebung des Abschiebungshindernisses von Bedeutung sein können, sondern auch Gründe, die - von ihm zurechenbar veranlasst - dazu geführt haben, dass ein Hindernis für seine Abschiebung überhaupt erst entstanden ist, etwa indem er seinen Pass weggegeben hat (vgl. Senat, Beschluss vom 25. März 2010 - V ZA 9/10, NVwZ 2010, 1175 Rn. 20; Beschluss vom 11. Juli 1996 - V ZB 14/96, BGHZ 133, 235, 238).
Über sechs Monate hinaus - bis maximal 18 Monate - kann die Haft nur ausnahmsweise verlängert werden (vgl. BT-Drs. 11/6321, S. 76), nämlich nur in den Fällen, in denen der Ausländer seine Abschiebung verhindert (§ 62 Abs. 4 Satz 2 AufenthG).
b) Ein Verhindern im Sinne des § 62 Abs. 4 Satz 2 AufenthG liegt vor, wenn ein von dem Willen des Ausländers abhängiges pflichtwidriges Verhalten ursächlich dafür ist, dass die Abschiebung nicht erfolgen konnte. Erforderlich ist, dass das für die Abschiebung bestehende Hindernis auf ein Tun des Ausländers zurückgeht, zu dessen Unterlassen er verpflichtet ist, oder auf ein Unterlassen trotz bestehender Verpflichtung zu einem Tun (Senat, Beschluss vom 25. Februar 2010 - V ZA 2/10, juris Rn. 13). Ein vor seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland liegendes Verhalten des Ausländers genügt aber nicht (vgl. KG, FGPrax 2000, 83, 84; BayObLG, Beschluss vom 16. September 2004, 4Z BR 70/04, juris Rn. 11; OLG Frankfurt, InfAuslR 1998, 112, 113 f.). Es bedarf vielmehr eines Verhaltens, mit dem der Ausländer eine - etwa aufgrund der Anordnung, Deutschland zu verlassen (vgl. Senat, Beschluss vom 11. Juli 1996 - V ZB 14/96, BGHZ 133, 235, 239) - sich bereits konkretisierende Abschiebung zu vereiteln oder zu erschweren versucht. Nur wenn das Verhalten des Ausländers einen Bezug zu einer konkret zu erwartenden und sich bereits abzeichnenden Abschiebung aufweist, ist es geeignet, die ausnahmsweise Verlängerung der Haft über sechs Monate hinaus zu begründen.
Schließlich muss das Verhinderungsverhalten ursächlich dafür sein, dass der Ausländer bisher nicht abgeschoben werden konnte (vgl. Senat, Beschluss vom 13. Oktober 2011 - V ZB 126/11, juris Rn. 9). Ergibt sich, dass die Abschiebung (z.B. wegen zögerlicher Bearbeitung der Heimatbehörden) auch ohne das Verhinderungsverhalten des Ausländers nicht innerhalb der ersten sechs Monate möglich gewesen wäre, ist dieses nicht ursächlich für die Verzögerung (BayObLG, Beschluss vom 16. September 2004, 4Z BR 70/04, juris Rn. 13).
2. Gemessen daran haben die Vorinstanzen zu Unrecht ein Verhinderungsverhalten des Betroffenen bejaht.
a) Mangels einer zu diesem Zeitpunkt bereits bestehenden oder sich abzeichnenden konkreten Abschiebungssituation kann eine Verhinderung der Abschiebung nicht darin gesehen werden, dass der Betroffene vor seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland seinen Pass vernichtet hat.
b) Soweit das Beschwerdegericht zusätzlich darauf abstellt, dass der Betroffene durch die Beibringung von Kopien seiner Geburtsurkunde oder seines Passes und durch nähere Angaben zu seiner Herkunft, seinen Verwandtschaftsverhältnissen oder zu Behörden, die Unterlagen über ihn führen, zur Beschleunigung des Verfahrens hätte beitragen können, trägt dies die Annahme einer Abschiebungsverhinderung durch ein Unterlassen nicht.
aa) Von einem Unterlassen trotz bestehender Verpflichtung zu einem Tun kann im Regelfall nur ausgegangen werden, wenn die Ausländerbehörde den Betroffenen über den Umfang seiner nicht ohne weiteres auf der Hand liegenden Mitwirkungspflichten (vgl. §§ 48, 49 AufenthG, § 15 AsylG) belehrt hat, sie ihn zur Vornahme der im jeweiligen Einzelfall erforderlichen konkreten Mitwirkungshandlung aufgefordert und der Betroffene deren Vornahme verweigert hat (vgl. BayObLG, InfAuslR 2001, 176, 177; Saarländisches OLG, FGPrax 1999, 243, 244; HK-AuslR/Keßler, AufenthG, 2. Aufl., § 62 Rn. 36).
bb) Hierzu lassen sich der Beschwerdeentscheidung keine ausreichenden Feststellungen entnehmen. Das Beschwerdegericht verweist lediglich darauf, dass der Betroffene bei der Anhörung zu dem von ihm gestellten Asylantrag auf seine Mitwirkungspflichten gemäß § 15 AsylG hingewiesen worden sei. Es verhält sich nicht dazu, ob der Betroffene von der beteiligten Behörde aufgefordert worden war, durch - ihm näher präzisierte - Handlungen an der Beschaffung einer Kopie seiner Geburtsurkunde oder seines Passes mitzuwirken sowie bestimmte Auskünfte zu seinen Verwandtschaftsverhältnissen zu geben, und dass der Betroffene sich geweigert hat, dem nachzukommen.
cc) Eine Zurückverweisung an das Beschwerdegericht zur Nachholung der Feststellungen kommt nicht in Betracht. Der Betroffene müsste zu neuen Feststellungen des Beschwerdegerichts nach § 34 FamFG persönlich angehört werden; angesichts der erfolgten Abschiebung ist dies aber nicht mehr möglich (vgl. Senat, Beschluss vom 17. März 2016 - V ZB 39/15, juris Rn. 10 mwN).
IV.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 81 Abs. 1, § 83 Abs. 2, § 430 FamFG, Art. 5 EMRK. Der Gegenstandswert bestimmt sich nach § 36 Abs. 3 GNotKG.
Stresemann |
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Brückner |
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Weinland |
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Kazele |
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Hamdorf |
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