Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 17.11.2016


BGH 17.11.2016 - V ZB 73/16

Wohnungseigentumssache: Zuständiges Gericht für die Geltendmachung eines Anspruchs auf Unterlassung bzw. Widerruf einer in der Wohnungseigentümerversammlung getätigten Äußerung


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
5. Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
17.11.2016
Aktenzeichen:
V ZB 73/16
ECLI:
ECLI:DE:BGH:2016:171116BVZB73.16.0
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend LG Stade, 3. Mai 2016, Az: 2 S 9/16vorgehend AG Buxtehude, 10. Februar 2016, Az: 31 C 629/15
Zitierte Gesetze

Leitsätze

Wird ein Wohnungseigentümer von einem anderen Wohnungseigentümer auf Unterlassung bzw. auf Widerruf von Äußerungen in Anspruch genommen, die er in der Wohnungseigentümerversammlung getätigt hat, liegt eine Streitigkeit im Sinne von § 43 Nr. 1 WEG vor, es sei denn, ein Zusammenhang mit dem Gemeinschaftsverhältnis der Wohnungseigentümer ist offensichtlich nicht gegeben.

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss der 2. Zivilkammer des Landgerichts Stade vom 3. Mai 2016 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Landgericht Lüneburg zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert des Beschwerdeverfahrens beträgt 2.000 €.

Gründe

I.

1

Die Parteien sind Mitglieder einer Wohnungseigentümergemeinschaft. Der Kläger nimmt den Beklagten auf Unterlassung und Widerruf von Äußerungen in Anspruch, die dieser im Rahmen einer Versammlung der Wohnungseigentümer getätigt hat. Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Die dagegen gerichtete Berufung des Klägers hat das Landgericht Stade als unzulässig verworfen. Mit der Rechtsbeschwerde möchte der Kläger die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und Zurückverweisung der Sache an das Landgericht Stade, hilfsweise an das Landgericht Lüneburg erreichen.

II.

2

Nach Ansicht des Berufungsgerichts ist die Berufung unzulässig, weil sie nicht bei dem nach § 72 Abs. 2 GVG zuständigen Landgericht Lüneburg eingelegt worden ist. Es handele sich um eine Streitsache im Sinne des § 43 Nr. 1 WEG. Die Voraussetzungen für eine Verweisung des Rechtsstreits an das zuständige Landgericht Lüneburg lägen nicht vor.

III.

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Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.

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1. Sie ist gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Ein Zulassungsgrund ist gegeben, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung im Sinne von § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert. Das Berufungsgericht hat dem Kläger den Zugang zu dem von der Zivilprozessordnung eingeräumten Instanzenzug in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert (siehe 2.b). Dies verletzt seinen Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip, vgl. BVerfGE 77, 275, 284) und eröffnet die Rechtsbeschwerde nach § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO (Senat, Beschluss vom 20. Februar 2014 - V ZB 116/13, ZfIR 2014, 441 Rn. 4; Beschluss vom 23. Oktober 2003 - V ZB 28/03, NJW 2004, 367, 368 mwN).

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2. Das Rechtsmittel ist auch in der Sache begründet.

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a) Allerdings verneint das Berufungsgericht seine Zuständigkeit zu Recht. Zuständig für die Entscheidung über die Berufung ist gemäß § 72 Abs. 2 GVG das Landgericht Lüneburg, weil der Streit der Parteien eine Wohnungseigentumssache im Sinne von § 43 Nr. 1 WEG ist.

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aa) Zu den Wohnungseigentumssachen gehören gemäß § 43 Nr. 1 WEG unter anderem Streitigkeiten über die sich aus der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer ergebenden Rechte und Pflichten der Wohnungseigentümer untereinander; diese Bestimmung ist weit auszulegen (Senat, Beschluss vom 20. Februar 2014 - V ZB 116/13, ZfIR 2014, 441 Rn. 7; Beschluss vom 10. Dezember 2009 - V ZB 67/09, ZfIR 2010, 187 Rn. 7). Ausschlaggebend für die Zuständigkeit des Gerichts ist nicht die jeweilige Rechtsgrundlage, aus der die Ansprüche hergeleitet werden, sondern allein der Umstand, ob das von einem Wohnungseigentümer in Anspruch genommene Recht oder die ihn treffende Pflicht in einem inneren Zusammenhang mit einer Angelegenheit steht, die aus dem Gemeinschaftsverhältnis der Wohnungseigentümer erwachsen ist (Senat, Beschluss vom 20. Februar 2014 - V ZB 116/13, ZfIR 2014, 441 Rn. 7; Beschluss vom 26. September 2002 - V ZB 24/02, BGHZ 152, 136, 142; Urteil vom 30. Juni 1995 - V ZR 118/94, BGHZ 130, 159, 165).

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bb) Daran gemessen ist der Rechtsstreit als Wohnungseigentumssache im Sinne von § 43 Nr. 1 WEG einzuordnen.

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(1) Ob Streitigkeiten wegen unwahrer Tatsachenbehauptungen bzw. ehrverletzender Meinungsäußerungen Wohnungseigentumssachen sind, wird allerdings unterschiedlich beurteilt.

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Teilweise wird angenommen, die nach § 43 WEG für Wohnungseigentumssachen zuständigen Gerichte seien funktionell zuständig für Ansprüche unter Wohnungseigentümern wegen ehrverletzender Äußerungen, die in solchen Gerichtsverfahren (vgl. OLG Frankfurt, NJW-RR 2007, 162; Timme/Elzer, WEG, 2. Aufl., § 43 Rn. 138) oder im Rahmen einer Eigentümerversammlung (Bärmann/Roth, WEG, 13. Aufl., § 43 Rn. 73) getätigt worden sind. Nach anderer Ansicht fallen Streitigkeiten über ehrverletzende Äußerungen eines Wohnungseigentümers nicht unter § 43 WEG (Staudinger/Wenzel, BGB [2005], § 43 WEG Rn. 22; Sauren, WEG, 6. Aufl., § 43 Rn. 7).

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Ein ähnliches Meinungsbild ergibt sich bei der vergleichbaren Frage danach, ob Streitigkeiten zwischen einem Wohnungseigentümer und dem Verwalter Wohnungseigentumssachen nach § 43 Nr. 3 WEG sind, wenn das Unterlassungs- bzw. Widerrufsverlangen sich auf unwahre oder ehrverletzende Äußerungen im Zusammenhang mit der Verwaltertätigkeit bezieht (bejahend BayObLG, ZWE 2001, 319; OLG München, NJW-RR 2008, 1545; Riecke/Schmid/Abramenko, WEG, 4. Aufl., § 43 Rn. 17; Derleder, ZWE 2001, 312, 313; ablehnend BayObLGZ 1989, 67; vgl. auch Staudinger/Wenzel, BGB [2005], § 43 WEG Rn. 32).

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(2) Der Senat entscheidet die Frage dahin, dass eine Streitigkeit im Sinne von § 43 Nr. 1 WEG vorliegt, wenn ein Wohnungseigentümer von einem anderen Wohnungseigentümer auf Unterlassung bzw. auf Widerruf von Äußerungen in Anspruch genommen wird, die er in einer Wohnungseigentümerversammlung getätigt hat, es sei denn, ein Zusammenhang mit dem Gemeinschaftsverhältnis der Wohnungseigentümer ist offensichtlich nicht gegeben.

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Äußerungen eines Wohnungseigentümers in der Eigentümerversammlung stehen in aller Regel in einem Zusammenhang mit den sich aus der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer und den sich aus der Verwaltung des gemeinschaftlichen Eigentums ergebenden Rechte und Pflichten der Wohnungseigentümer. Der Zusammenhang ergibt sich daraus, dass die Eigentümerversammlung das Willensbildungsorgan der Wohnungseigentümergemeinschaft ist. Sie dient der Erörterung und Beschlussfassung. Äußerungen in der Versammlung der Wohnungseigentümer tragen zur Meinungsbildung innerhalb der Gemeinschaft bei. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass eine Äußerung eines Wohnungseigentümers in keinem Zusammenhang mit dem Gemeinschaftsverhältnis steht. Davon kann aber nur ausnahmsweise dann ausgegangen werden, wenn die Äußerung nur gelegentlich der Eigentümerversammlung getätigt wird. Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nicht vor.

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b) Die angefochtene Entscheidung verletzt jedoch deshalb den Anspruch des Klägers auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes, weil die Berufung als unzulässig verworfen worden ist. Zwar kann eine Berufung bei Vorliegen einer Streitigkeit nach § 43 Nr. 1 WEG fristwahrend nur bei dem nach § 72 Abs. 2 GVG zuständigen Berufungsgericht eingelegt werden. Eine bei dem falschen Berufungsgericht eingelegte Berufung, die nicht rechtzeitig in die Verfügungsgewalt des richtigen Berufungsgerichts gelangt, kann grundsätzlich nicht in entsprechender Anwendung von § 281 ZPO an dieses Gericht verwiesen werden. Sie ist vielmehr als unzulässig zu verwerfen (vgl. Senat, Beschluss vom 10. Dezember 2009 - V ZB 67/09, ZfIR 2010, 197 Rn. 9 mwN).

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Das gilt aber nicht ausnahmslos. Nach der Rechtsprechung des Senats kann die Berufungsfrist in Ausnahmefällen auch durch Anrufung des funktionell unzuständigen Berufungsgerichts gewahrt und der Rechtsstreit entsprechend § 281 ZPO an das zuständige Gericht verwiesen werden. So verhält es sich, wenn die Frage, ob eine Streitigkeit im Sinne von § 43 Nr. 1 bis 4 und Nr. 6 WEG vorliegt, für bestimmte Fallgruppen noch nicht höchstrichterlich geklärt ist und man über deren Beantwortung - wie hier - mit guten Gründen unterschiedlicher Auffassung sein kann. Einer Partei kann in einer solchen Konstellation nicht angesonnen werden, zur Meidung der Verwerfung ihres Rechtsmittels als unzulässig Berufung sowohl bei dem allgemein zuständigen Berufungsgericht einzulegen als auch bei dem des § 72 Abs. 2 GVG (vgl. Senat, Beschluss vom 20. Februar 2014 - V ZB 116/13, ZfIR 2014, 441 Rn. 15; Beschluss vom 10. Dezember 2009 - V ZB 67/09, ZfIR 2010, 187 Rn. 9 ff.). Aus diesem Grund hätte das Berufungsgericht gemäß § 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO darauf hinwirken müssen, dass der Kläger einen Antrag auf Verweisung an das zuständige Landgericht Lüneburg in entsprechender Anwendung von § 281 ZPO stellt (Senat, Beschluss vom 20. Februar 2014, aaO Rn. 15).

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c) Da die Rechtsbeschwerde hilfsweise die (Zurück-)Verweisung an das zuletzt genannte Gericht beantragt hat und ein solcher Antrag in Fällen der vorliegenden Art zulässigerweise auch noch im Rechtsbeschwerdeverfahren gestellt werden kann (Senat, Beschluss vom 10. Dezember 2009 - V ZB 67/09, ZfIR 2010, 187 Rn. 11; vgl. auch BGH, Beschluss vom 4. Oktober 1978 - IV ZB 84/77, BGHZ 72, 182, 198; Urteil vom 9. November 1967 - KZR 19/66, BGHZ 49, 33, 39), ist die Sache unmittelbar an das nach § 72 Abs. 2 Satz 1 GVG zuständige Landgericht Lüneburg zu verweisen.

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Göbel          

      

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