Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 21.06.2018


BGH 21.06.2018 - V ZB 254/17

Wohnungseigentumsverfahren: Verwerfung der Berufung als unzulässig wegen Nichtglaubhaftmachung des Werts der Beschwer; Schätzung der Beschwer bei Anfechtung eines Beschlusses über die Farbwahl des Fassadenanstrichs


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
5. Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
21.06.2018
Aktenzeichen:
V ZB 254/17
ECLI:
ECLI:DE:BGH:2018:210618BVZB254.17.0
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend LG Frankfurt, 30. November 2017, Az: 2-13 S 108/17vorgehend AG Wiesbaden, 17. Juli 2017, Az: 93 C 1266/17
Zitierte Gesetze

Leitsätze

1. Das Berufungsgericht darf die Berufung nicht allein deshalb als unzulässig verwerfen, weil der Wert des Beschwerdegegenstands nicht glaubhaft gemacht worden ist. Vielmehr hat es den Wert bei der Entscheidung über die Zulässigkeit der Berufung auf Grund eigener Lebenserfahrung und Sachkenntnis nach freiem Ermessen zu schätzen; als Tatsachengericht muss es dabei den Akteninhalt von Amts wegen auswerten (im Anschluss an BGH, Urteil vom 20. Oktober 1997, II ZR 334/96, NJW-RR 1998, 573 sowie BGH, Beschluss vom 16. März 2012, LwZB 3/11, NJW-RR 2012, 1103 Rn. 17).

2. Bei der Anfechtung eines Beschlusses über eine Instandsetzungs- oder Modernisierungsmaßnahme, die der klagende Wohnungseigentümer als optische Beeinträchtigung des gemeinschaftlichen Eigentums (hier: Farbwahl des Fassadenanstrichs) ansieht, können die auf den Kläger entfallenden Kosten der Maßnahme jedenfalls als Hilfsmittel für die Schätzung der klägerischen Beschwer dienen; wird nach dem Vortrag des Klägers das gesamte Gebäude optisch erheblich verändert, ist im Regelfall zu dem Kostenanteil ein Wert von etwa 1.000 € hinzuzurechnen, der dem ideellen Interesse an der Gebäudegestaltung Rechnung trägt.

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss des Landgerichts Frankfurt am Main - 13. Zivilkammer - vom 30. November 2017 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens - an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 1.000 €.

Gründe

I.

1

Die Parteien bilden eine Wohnungseigentümergemeinschaft. Den Feststellungen des Berufungsgerichts zufolge waren die Außenfassade des Gebäudes sowie die nach außen sichtbaren Bestandteile stets grün gestrichen. In einer Eigentümerversammlung soll dem Berufungsurteil zufolge beschlossen worden sein, die Außenfassade bzw. deren Bestandteile dunkelgrau zu streichen. Später wurde die Farbwahl durch einen Zweitbeschluss bestätigt. Gegen diesen Zweitbeschluss wendet sich der Kläger mit der Anfechtungsklage „bezüglich des Sockelanstrichs“. Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landgericht hat die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen. Mit der Rechtsbeschwerde, deren Zurückweisung die Beklagten beantragen, will der Kläger weiterhin erreichen, dass der Beschluss in dem beantragten Umfang für ungültig erklärt wird.

II.

2

Das Berufungsgericht meint, der Kläger habe nicht glaubhaft gemacht, dass der Wert des Beschwerdegegenstands 600 € übersteige. Auf die Kosten eines Neuanstrichs komme es nicht an, weil dieser nur für eine Rückbauverpflichtung maßgeblich sei. Es liege nahe, auf die Wertminderung des Gebäudes abzustellen; hierzu habe der Kläger aber nicht ausreichend vorgetragen, und dass eine unliebsame Farbwahl eine Wertminderung von mehr als 600 € bedinge, sei nicht erkennbar. Pragmatische Erwägungen könnten die Beschwer nicht beeinflussen.

III.

3

1. Die Rechtsbeschwerde ist nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft. Sie ist auch im Übrigen zulässig. Die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO) erfordert schon deshalb eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts, weil dem Berufungsgericht bei der Anwendung von § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO ein verallgemeinerungsfähiger Verfahrensfehler unterlaufen ist.

4

2. In der Sache hat das Rechtsmittel Erfolg. Mit der von dem Berufungsgericht gegebenen Begründung lässt sich eine 600 € übersteigende Beschwer des Klägers im Sinne von § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO nicht verneinen.

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a) Das Berufungsgericht geht davon aus, dass der Kläger die Rechtsmittelbeschwer darlegen und gemäß § 294 ZPO glaubhaft machen muss. Dabei stützt es sich auf den Beschluss des Senats vom 6. April 2017 (V ZR 254/16, NJW-RR 2017, 912 Rn. 4), der jedoch das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde betrifft. In diesem Verfahren müssen die Zulassungsgründe (§ 543 Abs. 2 ZPO) in der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde dargelegt werden (§ 544 Abs. 2 Satz 3 ZPO), und zwar innerhalb der in § 544 Abs. 2 Satz 1 ZPO geregelten Frist. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass der Beschwerdeführer, um dem Revisionsgericht die Prüfung der in § 26 Nr. 8 EGZPO geregelten Wertgrenze von 20.000 € zu ermöglichen, innerhalb laufender Begründungsfrist (auch) darlegen und glaubhaft machen muss, dass er mit der beabsichtigten Revision das Berufungsurteil in einem Umfang, der die Wertgrenze von 20.000 € übersteigt, abändern lassen will (zur Begründung eingehend Senat, Beschluss vom 27. Juni 2002 - V ZR 148/02, NJW 2002, 2720 f.). Fehlt es daran, ist die Nichtzulassungsbeschwerde nur dann zulässig, wenn sich aus dem Berufungsurteil selbst und den darin in Bezug genommenen Aktenbestandteilen oder anderen offenkundigen Umständen (§ 291 ZPO) ergibt, dass die Wertgrenze überschritten ist (vgl. Senat, Beschluss vom 25. Juli 2002 - V ZR 118/02, NJW 2002, 3180; BVerfG, NJW-RR 2007, 862, 863).

6

b) Auch im Berufungsverfahren hat der Berufungsführer den Wert der Beschwer gemäß § 511 Abs. 3 ZPO glaubhaft zu machen. Anders als im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde ist jedoch ein auf den Wert des Beschwerdegegenstands bezogenes zwingendes, fristgebundenes Begründungserfordernis nicht vorgesehen (vgl. § 520 Abs. 4 Nr. 1 ZPO). Daher darf das Berufungsgericht die Berufung nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht allein deshalb als unzulässig verwerfen, weil der Wert des Beschwerdegegenstands nicht gemäß § 511 Abs. 3 ZPO glaubhaft gemacht worden ist. Vielmehr hat es den Wert bei der Entscheidung über die Zulässigkeit der Berufung auf Grund eigener Lebenserfahrung und Sachkenntnis nach freiem Ermessen zu schätzen (§§ 3 ff. ZPO; vgl. BGH, Urteil vom 20. Oktober 1997 - II ZR 334/96, NJW-RR 1998, 573; Beschluss vom 16. März 2012 - LwZB 3/11, NJW-RR 2012, 1103 Rn. 17; zur Beschwer des Beklagten bei einer Auskunftserteilung BGH, Beschluss vom 13. Juli 2017 - I ZB 94/16, juris Rn. 11 ff.; Beschluss vom 7. November 2017 - II ZB 4/17, WM 2018, 22 Rn. 5); als Tatsachengericht muss es dabei den Akteninhalt von Amts wegen (vgl. § 522 Abs. 1 Satz 1 ZPO) auswerten. Eine Schätzung der Beschwer muss zwar ggf. auch das Revisionsgericht im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde vornehmen; aber als Grundlage der Schätzung dienen dabei nur solche Tatsachen, die der Kläger innerhalb der Begründungsfrist dargelegt und glaubhaft gemacht hat (vgl. Senat, Beschluss vom 6. April 2017 - V ZR 254/16, NJW-RR 2017, 912 Rn. 4), oder die jedenfalls in Verbindung mit dem Berufungsurteil offenkundig sind. Geht es - wie hier - um die optische Veränderung einer Wohnungseigentumsanlage, kann der Kläger im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde mit der Beschwerdebegründung beispielsweise Lichtbilder vorlegen oder Aktenbestandteile in Bezug nehmen, die das Revisionsgericht sodann bei seiner Schätzung einbeziehen muss. Dagegen muss das Berufungsgericht den Akteninhalt - etwa in der Akte enthaltene Lichtbilder - bei der Entscheidung über die Zulässigkeit der Berufung ohne weiteres verwerten.

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c) Dass das Berufungsgericht das ihm eingeräumte Ermessen erkannt und durch eine eigene Schätzung unter Auswertung des Akteninhalts ausgeübt hat, lässt sich der Entscheidung jedenfalls nicht mit hinreichender Sicherheit entnehmen, da das Berufungsgericht meint, „pragmatische Erwägungen“ nicht anstellen zu dürfen, und sich ohne nähere Befassung mit dem klägerischen Anliegen auf die fehlende Glaubhaftmachung stützt.

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3. Die Sache ist nicht im Sinne von § 577 Abs. 5 ZPO zur Entscheidung reif. Zwar kann das Rechtsbeschwerdegericht den Wert der Beschwer schätzen, wenn das Beschwerdegericht dies unterlassen hat (vgl. BGH, Beschluss vom 16. März 2012 - LwZB 3/11, NJW-RR 2012, 1103 Rn. 17). Die Feststellungen des Berufungsgerichts reichen aber nicht aus, um dem Senat eine eigene Schätzung zu ermöglichen (vgl. § 577 Abs. 2 Satz 4, § 559 Abs. 1 ZPO).

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a) Der Kläger wendet sich vornehmlich gegen eine unliebsame Farbwahl des Fassadenanstrichs. Bei einer solchen Anfechtung eines Beschlusses über eine Instandsetzungs- oder Modernisierungsmaßnahme, die der Kläger als optische Beeinträchtigung des gemeinschaftlichen Eigentums ansieht, können die auf den Kläger entfallenden Kosten der Maßnahme jedenfalls als Hilfsmittel für die Schätzung der klägerischen Beschwer dienen; wird nach dem Vortrag des Klägers das gesamte Gebäude optisch erheblich verändert, ist im Regelfall zu dem Kostenanteil ein Wert von etwa 1.000 € hinzuzurechnen, der dem ideellen Interesse an der Gebäudegestaltung Rechnung trägt.

10

aa) Der Senat hat bereits darauf hingewiesen, dass bei Klagen, mit denen optische Veränderungen von Wohnanlagen rückgängig gemacht werden sollen, eine auf Tatsachen basierende Schätzung des klägerischen Interesses erfolgen muss, und hat dabei auf die Rechtsprechung des Bayerischen Obersten Landesgerichts Bezug genommen (vgl. Senat, Beschluss vom 6. April 2017 - V ZR 254/16, NJW-RR 2017, 912 Rn. 4). Dieses weist in der zitierten Entscheidung (WuM 1994, 565, 566) zutreffend darauf hin, dass es zu eng ist, auf den möglichen Wertverlust einer Eigentumswohnung abzustellen, wenn es um eine nachteilige Veränderung des optischen Gesamteindrucks der Wohnanlage geht; ein solcher Wertverlust lässt sich nämlich ziffernmäßig oft nicht begründen, insbesondere dann, wenn der Kläger eine gegenüber dem bisherigen Zustand neu- oder höherwertige Veränderung deshalb bekämpft, weil sie nicht seinem Geschmack entspricht. Dementsprechend hat der Senat in dem bereits zitierten Beschluss vom 6. April 2017, der den Rückbau einer von den Beklagten auf eigene Kosten verursachten optischen Veränderung des Gesamteindrucks des gemeinschaftlichen Eigentums zum Gegenstand hatte, das klägerische Interesse mangels anderer Anhaltspunkte auf 3.000 € geschätzt (V ZR 254/16, NJW-RR 2017, 912 Rn. 7: Erneuerung der Zuwegung). Sowohl in diesem als auch in dem von dem Bayerischen Obersten Landesgericht entschiedenen Sachverhalt ging es aber um die Beseitigung baulicher Veränderungen, die einzelne Wohnungseigentümer auf eigene Kosten vorgenommen hatten, so dass die jeweiligen Kläger keine eigenen Kosten zu tragen hatten und ihr Wiederherstellungsinteresse daher insgesamt nur geschätzt werden konnte.

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bb) Dagegen wendet sich der Kläger hier gegen einen Beschluss über die Instandsetzung bzw. Modernisierung des gemeinschaftlichen Eigentums, die von allen Wohnungseigentümern gemeinschaftlich finanziert werden muss. Dann kann zunächst der auf den Kläger entfallende Kostenanteil als Hilfsmittel für die Schätzung des klägerischen Interesses dienen. Das Argument der Rechtsbeschwerdeerwiderung, der Kläger wende sich nicht gegen die Maßnahme als solche, sondern nur gegen die Farbwahl, kann nicht überzeugen. Denn der Kläger wendet sich gegen die beschlossene Ausführung und damit gegen eine bestimmte Maßnahme. Für die Bemessung seiner Beschwer kommt es nicht darauf an, ob er den Beschluss aus formellen Gründen anficht, ob er die Maßnahme wegen der konkreten Ausgestaltung oder insgesamt als unvereinbar mit einer ordnungsmäßigen Verwaltung ansieht; dass die Maßnahme ggf. erneut beschlossen werden könnte, mindert die Beschwer nicht. Kommt nach dem Vortrag des Klägers eine erhebliche optische Veränderung des gesamten Gebäudes in Betracht, wird neben dem Kostenanteil auch sein ideelles Interesse im Regelfall mit etwa 1.000 € zu bemessen sein; dieser Wert ist zu dem Kostenanteil hinzuzurechnen. Sonst würde nämlich nicht ausreichend berücksichtigt, dass der ästhetischen Gestaltung des gesamten Gebäudes auch unabhängig von den damit verbundenen Kosten regelmäßig erhebliche Bedeutung beigemessen wird.

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b) Die danach gebotene Schätzung ist dem Senat nicht möglich. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts soll zwar die gesamte, zuvor grüne Außenfassade dunkelgrau gestrichen werden, was eine erhebliche optische Veränderung mit sich bringt. Andererseits wendet sich der Kläger aber nur gegen den „Sockelanstrich“. Was es mit diesem Sockelanstrich auf sich hat, welchen Flächenanteil er einnimmt, wie stark er den optischen Eindruck der gesamten Fassade prägt und warum sich der Kläger gerade insoweit gegen die Farbwahl wendet, lässt sich der Berufungsentscheidung nicht entnehmen. Eine Bezugnahme auf das Urteil des Amtsgerichts, die Klageschrift, auf Lichtbilder oder andere Aktenbestandteile, die zur Aufklärung beitragen könnten, enthält die Berufungsentscheidung nicht. Den von der Rechtsbeschwerde in Bezug genommenen Vortrag des Klägers zu seinem Anteil an den Kosten des Neuanstrichs von 2.248,40 € kann der Senat schon deshalb nicht gemäß § 577 Abs. 2 Satz 4, § 559 Abs. 1 Satz 2 ZPO zugrunde legen, weil sich diese Kosten auf den Neuanstrich der Fassade beziehen und keine Feststellungen dazu getroffen worden sind, welchen Anteil der „Sockelanstrich“ daran hat.

IV.

13

1. Die Entscheidung ist nach alledem aufzuheben und zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO), das unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung des Senats zu ermitteln haben wird, ob die Beschwer 600 € übersteigt.

14

2. Den Gegenstandswert hat der Senat mangels anderer Anhaltspunkte anhand der Festsetzung des Berufungsgerichts bemessen.

Stresemann     

      

Schmidt-Räntsch     

      

Brückner

      

Göbel     

      

Haberkamp