Entscheidungsdatum: 20.04.2018
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss des Landgerichts Hamburg - Zivilkammer 29 - vom 10. Oktober 2017 aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Hamburg vom 29. November 2016 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.
Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden der Freien und Hansestadt Hamburg auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.
I.
Der Betroffene ist kosovarischer Staatsangehöriger. Seinen Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 26. März 2015 als offensichtlich unbegründet ab. Eine für den 28. Juli 2015 geplante Abschiebung scheiterte, weil der Betroffene zu dem mit ihm vereinbarten Termin am Flughafen nicht erschien, sondern untertauchte und sich in die Niederlande begab. Nach der Rücküberstellung in das Bundesgebiet stellte er einen Asylfolgeantrag; diesen lehnte das Bundesamt am 2. November 2016 als unzulässig ab und forderte den Betroffenen unter Androhung der Abschiebung in den Kosovo zur Ausreise binnen einer Woche auf. Am 3. November 2016 teilte der Betroffene seine Absicht mit, eine deutsche Staatsangehörige zu heiraten. Am 29. November 2016 beantragte die beteiligte Behörde gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung der Abschiebung bis zum 2. Dezember 2016 und stellte alternativ für diesen Zeitraum einen Antrag auf Anordnung von Ausreisegewahrsam gemäß § 62b AufenthG. Das Amtsgericht ordnete durch Beschluss vom selben Tag gegen den Betroffenen Ausreisegewahrsam bis zum 2. Dezember 2016 an. Die dagegen gerichtete Beschwerde des Betroffenen, die nach dessen Abschiebung am 2. Dezember 2016 auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haftanordnung gerichtet worden ist, hat das Beschwerdegericht zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde, deren Zurückweisung die beteiligte Behörde beantragt, verfolgt der Betroffene seinen Feststellungsantrag weiter.
II.
Das Beschwerdegericht meint, die Voraussetzungen für die Anordnung von Ausreisegewahrsam gemäß § 62b AufenthG hätten vorgelegen. Die Ausreisefrist sei abgelaufen gewesen. Zudem habe der Betroffene ein Verhalten gezeigt, das erwarten lasse, dass er die Abschiebung erschweren oder vereiteln werde, indem er fortgesetzt seine gesetzlichen Mitwirkungspflichten verletzt habe. Obwohl er erklärt habe, freiwillig zum Flughafen zu kommen, wenn ihm ein Termin zur Abschiebung genannt werde, sei er zu dem Abschiebungstermin am 28. Juli 2015 nicht erschienen - dies begründe den Haftgrund gemäß § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AufenthG -, sondern in die Niederlande gereist. Ihm sei am 8. November 2016 sowie am 15. November 2016 erlaubt worden, zur kosovarischen Botschaft nach Berlin zu reisen, zum einen, weil er einen Pass habe beantragen wollen, um die beabsichtigte Eheschließung anmelden zu können und zum anderen, um sich ein Passersatzpapier für die Ausreise zu beschaffen. Mit Schreiben vom 17. November 2016 sei er von der beteiligten Behörde aufgefordert worden, am 28. November 2016 ein Ausreiseticket in den Kosovo und das Passersatzpapier vorzulegen. Dem sei er bei seiner Vorsprache am 29. November 2016 nicht nachgekommen.
Der Betroffene habe auch nicht glaubhaft gemacht, und es sei auch nicht offensichtlich, dass er sich der Abschiebung nicht entziehen wolle. Zwar habe er nach seiner Inhaftierung einen Ausdruck über die Buchung eines Flugtickets für den 1. Dezember 2016 vorgelegt sowie den Ausdruck einer SMS, die besage, dass er seinen Pass bei der Botschaft abholen könne. Hierdurch sei aber eine direkte Ausreise vom Flughafen in den Kosovo nicht gewährleistet gewesen, da der Betroffene den Pass offenbar in Berlin noch hätte abholen müssen und der Flug zudem eine Zwischenlandung in Frankfurt vorgesehen habe.
III.
Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
1. Sie ist gemäß § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 FamFG mit dem Feststellungsantrag nach § 62 Abs. 1 FamFG ohne Zulassung durch das Beschwerdegericht statthaft. Hierfür bedarf es keiner Entscheidung, ob der Ausreisegewahrsam eine Freiheitsentziehung i.S.d. Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG darstellt, obwohl er gemäß § 62b Abs. 2 AufenthG im Transitbereich eines Flughafens oder in einer Unterkunft vollzogen wird, von wo aus die Ausreise des Ausländers möglich ist. Der Gesetzgeber hat nämlich den Ausreisegewahrsam insofern einer Freiheitsentziehung gleichgestellt, als dieser generell einer richterlichen Anordnung bedarf (§ 62b Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Vor dem Hintergrund dieser gesetzlichen Regelung ist nach der Erledigung eines gegen diese Entscheidung von dem Ausländer eingelegten Rechtsmittels - ebenso wie bei den Rechtsbehelfen gegen richterliche Haftanordnungen - ein berechtigtes Interesse des Betroffenen an einer Feststellung nach § 62 Abs. 1 FamFG anzuerkennen, durch die richterlich angeordnete Maßnahme in seinen Rechten verletzt worden zu sein. Insoweit gelten die Grundsätze zur Statthaftigkeit einer Rechtsbeschwerde im Zusammenhang mit der richterlichen Anordnung des Aufenthalts eines Ausländers im Transitbereich eines Flughafens über einen Zeitraum von 30 Tagen hinaus (§ 15 Abs. 6 Satz 2 AufenthG) entsprechend (vgl. hierzu Senat, Beschluss vom 30. Juni 2011 - V ZB 274/10, NVwZ-RR 2011, 875 Rn. 8 f.).
2. Die Rechtsbeschwerde ist begründet, weil die Anordnung des Ausreisegewahrsams durch das Amtsgericht den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.
a) Gemäß § 62b Abs. 1 Satz 1 AufenthG in der im Zeitpunkt der Haftanordnung am 29. November 2016 geltenden Fassung kann der Ausländer unabhängig von den Voraussetzungen der Sicherungshaft für die Dauer von längstens vier - seit dem 29. Juli 2017: zehn (Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 20. Juli 2017, BGBl. I 2017 S. 2780) - Tagen in Gewahrsam genommen werden, wenn die Ausreisepflicht abgelaufen ist und der Ausländer ein Verhalten gezeigt hat, das erwarten lässt, dass er die Abschiebung erschweren oder vereiteln wird, indem er fortgesetzt seine gesetzlichen Mitwirkungspflichten verletzt hat oder über seine Identität oder seine Staatsangehörigkeit getäuscht hat.
b) Entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts tragen die Feststellungen des Amtsgerichts nicht die Annahme, der Betroffene habe „fortgesetzt“, d.h. mehr als einmal (vgl. Hofmann/Keßler, Ausländerrecht, 2. Aufl., § 62b Rn. 6; BeckOK AuslR/Kluth, 16. Ed. vom 1. November 2017, AufenthG § 62b Rn. 6), seine Mitwirkungspflichten (§ 82 AufenthG) verletzt. Deshalb kann dahinstehen, ob die in der Literatur an der Vorschrift geäußerten verfassungs- und europarechtlichen Bedenken (vgl. Neundorf/Brings, ZRP 2015, 145, 146; Huber/Beichel-Benedetti, Aufenthaltsgesetz, 2. Aufl., § 62b Rn. 3, Hörich/Tewocht, NVwZ 2017, 1153, 1154) berechtigt sind.
aa) Richtig ist, dass der Betroffene durch sein Verhalten im Zusammenhang mit der für den 28. Juli 2015 vorgesehenen Abschiebung seine Mitwirkungspflichten verletzt hat, weil er entgegen seiner Zusage nicht an dem vereinbarten Abschiebeort (Flughafen) erschienen ist.
bb) Demgegenüber fehlt es an hinreichenden Feststellungen dazu, ob dem Betroffenen vorgeworfen werden kann, dass er bei der Vorsprache am 29. November 2016 der beteiligten Behörde weder ein Flugticket noch ein Passersatzpapier vorlegte. Hierfür kann dahinstehen, ob - so die Ansicht der Rechtsbeschwerde - Mitwirkungspflichten i.S.d. § 62b AufenthG nur solche sind, die sich auf behördliche Maßnahmen beziehen, die der zwangsweisen Durchsetzung der Verlassenspflicht dienen. Auch wenn von dem Begriff der Mitwirkung Handlungen erfasst sein sollten, die die Behörde von dem Ausländer im Zusammenhang mit einer angekündigten freiwilligen Ausreise fordert, hätten der Haftrichter und das Beschwerdegericht im Rahmen ihrer Amtsermittlungspflicht (§ 26 FamFG) der Frage nachgehen müssen, ob der Betroffene seine insoweit bestehenden Pflichten schuldhaft verletzt hat. An einer solchen Aufklärung fehlt es. Wie die Rechtsbeschwerde zu Recht rügt, hat das Beschwerdegericht die Angaben des Betroffenen im Rahmen von dessen Anhörung vor dem Amtsgericht nur unzureichend berücksichtigt. Hiernach habe die Botschaft in Berlin, bei der der Betroffene ein Dokument zur Ausreise verlangt hatte, ihm geraten, einen Antrag auf Erteilung eines Reisepasses zu stellen, was er getan habe. Wäre dies zutreffend, könnte ihm nicht vorgehalten werden, nicht zusätzlich nach einem Passersatzpapier gefragt zu haben, da nicht festgestellt ist, dass er über die insoweit bestehenden Unterschiede informiert war. Sein Verfahrensbevollmächtigter hat die beteiligte Behörde zudem - dies wird auch von dem Beschwerdegericht nicht verkannt - vor dem für den 29. November 2016 bestimmten Anhörungstermin darüber unterrichtet, dass das beantragte Passdokument noch nicht vorliege. Da unter Zugrundelegung der Schilderung des Betroffenen eine Ausreise mangels Vorlage des hierzu erforderlichen Dokuments nicht möglich war, hatte er auch noch keine Veranlassung, einen Flug für eine freiwillige Ausreise zu buchen.
c) Unabhängig davon, dass es hiernach bereits an hinreichenden Feststellungen zum dem Vorliegen des Tatbestandsmerkmal einer fortgesetzten Verletzung der Mitwirkungspflichten durch den Betroffenen fehlt, haben weder das Amtsgericht noch das Beschwerdegericht erkannt, dass die Anordnung des Ausreisegewahrsams gemäß § 62b AufenthG im Ermessen des Gerichts steht („kann“). Insofern besteht kein Unterschied zur sogenannten „kleinen Sicherungshaft“ gemäß § 62 Abs. 2 Satz 2 AufenthG aF, die im Zusammenhang mit der Einfügung des § 62b AufenthG gestrichen und durch die Regelung des Ausreisegewahrsams ersetzt worden ist (vgl. Bergmann/Dienelt/Winkelmann, Ausländerrecht, 12. Aufl., § 62b Rn. 5).
aa) Die Entscheidung über die Anordnung des Ausreisegewahrsams erfordert deshalb eine Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Betroffenen und dem staatlichen Interesse an der zügigen Durchführung der Abschiebung. Die für die Ermessensausübung maßgeblichen Gründe sind - wenn auch in knapper Form - in der Entscheidung darzulegen (§ 38 Abs. 3 Satz 1, § 96 Abs. 2 FamFG). Das Rechtsbeschwerdegericht darf zwar nicht das Ermessen des Tatrichters durch eine eigene Entscheidung ersetzen. Er hat aber zu überprüfen, ob eine Ermessensentscheidung überhaupt stattgefunden hat und ob sie fehlerfrei - insbesondere unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit - erfolgt ist (vgl. Senat, Beschluss vom 19. Januar 2012 - V ZB 221/11, FGPrax 2012, 84 Rn. 4 zur „kleinen Sicherungshaft“).
bb) Hier lässt sich der Begründung der Anordnung des Ausreisegewahrsams nicht entnehmen, ob dem Amtsgericht die Notwendigkeit einer Ermessensausübung bewusst war. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass es das im Hinblick auf die beabsichtigte Eheschließung nachvollziehbare und im Rahmen der Anhörung vor dem Amtsgericht - aber auch bereits zuvor gegenüber der beteiligten Behörde - deutlich gemachte Interesse des Betroffenen berücksichtigt hat, zur Vermeidung einer ansonsten bestehenden Einreisesperre (vgl. § 11 AufenthG) freiwillig auszureisen.
3. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden (§ 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG). Aufgrund der zwischenzeitlich erfolgten Abschiebung des Betroffenen kann die fehlende Aufklärung nicht mehr nachgeholt werden, da hierfür auch die persönliche Anhörung des Betroffenen zu dem Ergebnis der Ermittlungen erforderlich wäre (vgl. Senat, Beschluss vom 17. März 2016 - V ZB 39/15, juris Rn. 10 mwN).
IV.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 81 Abs. 1, § 83 Abs. 2, § 430 FamFG, Art. 5 EMRK analog. Der Gegenstandswert bestimmt sich nach § 36 Abs. 3 GNotKG.
Stresemann |
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Schmidt-Räntsch |
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Brückner |
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Göbel |
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Haberkamp |
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