Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 16.12.2010


BGH 16.12.2010 - V ZB 215/09

Vorläufige Einstellung der Zwangsversteigerung trotz Verdachts der Vorspiegelung einer Suizidgefahr


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
5. Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
16.12.2010
Aktenzeichen:
V ZB 215/09
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend LG Essen, 8. Dezember 2009, Az: 7 T 470/08, Beschlussvorgehend AG Bottrop, 19. August 2008, Az: 16 K 40/05, Beschluss
Zitierte Gesetze

Tenor

Den Beteiligten zu 1 und 2 wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde gewährt.

Auf die Rechtsbeschwerde der Beteiligten zu 1 und 2 wird der Beschluss der 7. Zivilkammer des Landgerichts Essen vom 8. Dezember 2009 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.

Die Vollstreckung aus dem Zuschlagsbeschluss des Amtsgerichts Bottrop vom 19. August 2008 (16 K 40/05) wird bis zur erneuten Entscheidung über die Beschwerde der Beteiligten zu 1 und 2 gegen den Zuschlagbeschluss eingestellt.

Der Gegenstandswert für die außergerichtlichen Kosten der Beteiligten zu 1 und 2 beträgt 234.000 €, für die außergerichtlichen Kosten der Beteiligten zu 5 beträgt er 224.968,43 €.

Gründe

I.

1

Die Beteiligten zu 4 und 5 betreiben die Zwangsversteigerung in das Grundstück der miteinander verheirateten Schuldner. Dieses ist mit einem Einfamilienhaus bebaut, in welchem die Schuldner leben. In dem Versteigerungstermin vom 15. Juli 2008 blieb die Beteiligte zu 7 Meistbietende. Mit Beschluss vom 19. August 2008 hat das Vollstreckungsgericht ihr den Zuschlag erteilt.

2

Hiergegen haben die Schuldner sofortige Beschwerde mit der Begründung erhoben, sie seien psychisch erkrankt und würden sich selbst töten, sollten sie aufgrund des Zuschlags ihr Heim verlieren. Das Landgericht hat die Beschwerde im Hinblick auf das Insolvenzverfahren, welches über das Vermögen der Schuldner eröffnet worden ist, zunächst als unzulässig verworfen. Nach Aufhebung dieses Beschlusses durch den Senat und Zurückverweisung der Sache hat das Landgericht die sofortige Beschwerde als unbegründet zurückgewiesen. Dagegen wenden sich die Schuldner mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde.

II.

3

Das Beschwerdegericht hält eine konkrete Suizidgefahr bei den Schuldnern für nicht erkennbar. Der Zustand der Schuldnerin habe sich nach ärztlicher Auskunft so weit verbessert, dass der Verlust des Hauses sie nicht mehr in den Freitod treiben werde. Soweit hinsichtlich ihres Ehemanns eine akute Suizidgefahr behauptet werde, vermöge sich die Kammer dieser Einschätzung nicht anzuschließen. In dem vorgelegten Attest werde die Gefahr eines Suizids nicht angesprochen. Die Ordnungsbehörde habe im September und Oktober 2008 keine Notwendigkeit für eine Unterbringung nach dem PsychKG gesehen. In einem Schreiben des Gesundheitsamts vom September 2008 heiße es, dass aus psychiatrischer Sicht im Moment kein Anhaltspunkt für eine Eigen- oder Fremdgefährdung vorliege. Entsprechend habe auch die Betreuungsstelle für Erwachsene keinen Handlungsbedarf gesehen. Soweit nunmehr mit Schriftsatz vom 17. September 2009 geltend gemacht werde, dass bei dem Schuldner immer noch eine akute Suizidgefahr bestehe, gebe es für die Richtigkeit dieses Vorbringens keine Anhaltspunkte. Weitere Ermittlungen seien deshalb abzulehnen. Allein das erhöhte Selbsttötungsrisiko bei Vorliegen einer Depressionserkrankung rechtfertige nicht die einstweilige oder dauerhafte Einstellung des Zwangsversteigerungsverfahrens; dargelegt und nachgewiesen werden müsse eine konkrete Suizidgefahr.

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Dabei werde nicht verkannt, dass die Schuldner im Juli 2008 für den Fall eines Verlusts des Privathauses mit dem Freitod gedroht hätten. Eine solche Drohung könne jedoch nicht zur Aufhebung oder Einstellung einer Zwangsvollstreckungsmaßnahme führen, wenn erkennbar sei, dass der Schuldner im Hinblick auf seine aus seiner Sicht aussichtslose wirtschaftliche und persönliche Lage den Freitod wähle, wenn also die Entscheidung für den Suizid auf einem freien, von einer Krankheit unbeeinflussten Willen beruhe. Dabei sei zu berücksichtigen, dass die Berufung auf den grundrechtlichen Schutz von Leben und Gesundheit nicht selten rechtsmissbräuchlich sei. Vorliegend spreche viel, wenn nicht alles dafür, dass die Schuldner die nicht auszuschließende Suizidgefahr instrumentalisierten.

III.

5

1. Den Rechtsbeschwerdeführern ist gemäß § 233 ZPO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde zu gewähren. Sie waren ohne ihr Verschulden gehindert, die Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde zu wahren, weil sie zur Fertigung der Begründung auf die - rechtzeitig beantragte - Bewilligung von Prozesskostenhilfe angewiesen waren, der Senat diese aber erst nach Ablauf der Begründungsfrist ausgesprochen hat. Die Frist des § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO ist gewahrt.

6

2. Die Rechtsbeschwerde ist aufgrund ihrer Zulassung durch das Beschwerdegericht statthaft (§ 574 Abs. 3 Satz 2 ZPO), obwohl einer der im Gesetz genannten Zulassungsgründe (§ 574 Abs. 2 ZPO) nicht vorliegt. Ein solcher ergibt sich insbesondere nicht daraus, dass das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit eines der Beteiligten gefährdet sein könnte (vgl. näher Senat, Beschluss vom 7. Oktober 2010 - V ZB 82/10, juris).

7

3. Die Rechtsbeschwerde ist begründet.

8

a) Wie das Beschwerdegericht im Ausgangspunkt nicht verkennt, kann die ernsthafte Gefahr einer Selbsttötung des Schuldners oder eines nahen Angehörigen wegen der Zwangsversteigerung seines Grundstücks zur Aufhebung des Zuschlagsbeschlusses und zur einstweiligen Einstellung des Verfahrens gemäß § 765a ZPO führen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die auf den Zuschlagsbeschluss zurückzuführende Gefahr der Selbsttötung sich erstmals nach dessen Erlass gezeigt hat, oder ob sie schon zuvor latent vorhanden war und sich durch den Zuschlag im Rahmen eines dynamischen Geschehens weiter vertieft hat (Senat, Beschluss vom 18. September 2008 - V ZB 22/08, NJW 2009, 80; Beschluss vom 24. November 2005 - V ZB 99/05, NJW 2006, 505).

9

Rechtsfehlerhaft nimmt das Beschwerdegericht aber an, dass eine vorläufige Einstellung der Zwangsvollstreckung nicht in Betracht komme, wenn der drohende Suizid auf einem freien, von einer Krankheit unbeeinflussten Willen beruht. Eine solche Sichtweise wird dem in Art. 2 Abs. 2 GG enthaltenen Gebot zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nicht gerecht. Die Unfähigkeit, aus eigener Kraft oder mit zumutbarer fremder Hilfe die Konfliktsituation situationsangemessen zu bewältigen, verdient auch dann Beachtung, wenn ihr kein Krankheitswert zukommt. Die Einstufung eines drohenden Suizids als "Bilanzselbstmord" ändert nichts daran, dass das Leben des Schuldners durch die bevorstehenden Zwangsvollstreckungsmaßnahme in Gefahr ist und diese Gefahr bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen berücksichtigt werden muss (BVerfG NJW-RR 2001, 1523, 1524). Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Beschwerdegericht einen drohenden Suizid des Schuldners als "Bilanzselbstmord" eingestuft und deshalb die Voraussetzungen für die Gewährung von Vollstreckungsschutz verneint hat, unterliegt der angefochtene Beschluss bereits aus diesem Grund der Aufhebung.

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b) Aber auch unabhängig von den Erwägungen zu einem "Bilanzselbstmord" hält der Beschluss rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

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Das Beschwerdegericht beachtet nicht, dass die Gerichte durch ihre Verfahrensgestaltung die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen haben, damit Verfassungsverletzungen durch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen tunlichst ausgeschlossen werden. Dies kann es insbesondere erfordern, Beweisangeboten des Schuldners hinsichtlich seines Vorbringens, ihm drohten schwerwiegende Gesundheitsbeeinträchtigungen, im Hinblick auf die Bedeutung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG besonders sorgfältig nachzugehen (vgl. BVerfG FamRZ 2005, 1972, 1973 mwN). Hierfür besteht Anlass, wenn das Gericht zwar von einer erhöhten Suizidgefahr ausgeht, diese aber nach dem Vortrag des Schuldners als nicht hinreichend konkret ansieht. Da das Gericht die Ernsthaftigkeit einer Suizidgefahr mangels eigener medizinischer Sachkunde ohne sachverständige Hilfe in aller Regel nicht beurteilen kann, ist es im Zweifel gehalten, dem Antrag des Schuldners auf Einholung eines Sachverständigengutachtens nachzugehen.

12

So verhält es sich auch hier. Das Beschwerdegericht geht hinsichtlich des Schuldners einerseits von einem erhöhten bzw. nicht auszuschließenden Selbsttötungsrisiko aus, meint aber andererseits, dass eine konkrete Suizidgefahr nicht überzeugend dargelegt worden sei. Es verkennt damit, dass der Schuldner weder verpflichtet ist, das Gericht bereits durch seinen Vortrag davon zu überzeugen, dass eine konkrete Suizidgefahr besteht, noch dass er diese Gefahr durch Beibringung von Attesten nachweisen muss. Die Richtigkeit der Behauptungen des Schuldners muss sich, wie auch sonst in Verfahren, die nach der Zivilprozessordnung durchzuführen sind, im Rahmen der Beweisaufnahme erweisen. Diese durchzuführen, ist Sache des Gerichts. Deshalb ist es verfehlt, wenn das Beschwerdegericht den Vortrag des Schuldners in dessen Schriftsatz vom 17. September 2009 mit der Begründung für unerheblich hält, für die Richtigkeit des Vorbringens gebe es keine Anhaltspunkte. Ein solcher Anhaltspunkt stellte im Übrigen die Äußerung des Sozialpsychiatrischen Dienstes vom 14. April 2009 dar, wonach eine Suizidgefahr bei den Schuldnern nicht auszuschließen sei. Demgegenüber lagen die anderen Äußerungen von Behördenseite zeitlich zu lange zurück, um auf ihrer Grundlage eine Suizidgefahr zu verneinen. Das Beschwerdegericht hätte deshalb den angebotenen Beweis erheben und mit sachverständiger Hilfe klären müssen, ob bei endgültiger Erteilung des Zuschlags und der aus dem Zuschlagsbeschluss zu erwartenden Zwangsräumung die behauptete ernsthafte Gefahr einer Selbsttötung besteht.  

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c) Die angefochtene Entscheidung stellt sich schließlich nicht aufgrund der Annahme des Beschwerdegerichts als richtig dar, es spreche viel, wenn nicht alles dafür, dass die Schuldner die nicht auszuschließende Suizidgefahr instrumentalisierten, um ihren Grundbesitz zu erhalten. Dass Suizidabsichten vorgespiegelt sein können, um unberechtigt Vollstreckungsschutz nach § 765a ZPO zu erlangen, ist bekannt. Es ist dem Tatrichter daher unbenommen, einen Sachverhalt unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände entsprechend zu würdigen und den beantragten Vollstreckungsschutz zu versagen. Bleibt, wie hier, aber letztlich offen, ob eine Suizidgefahr nur vorgespiegelt wird oder tatsächlich besteht, darf von einer notwendigen Beweisaufnahme nicht aufgrund des bloßen Verdachts, der Schuldner handele rechtsmissbräuchlich, abgesehen werden.

IV.

14

Der angefochtene Beschluss kann daher keinen Bestand haben, er ist aufzuheben (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO). Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:

15

Es werden zunächst Feststellungen dazu zu treffen sein, ob bei einem endgültigen Eigentumsverlust durch den Eintritt der Rechtskraft des Zuschlagsbeschlusses ernsthaft mit einem Suizid des Schuldners zu rechnen ist. Der Nachweis, dass es bei Fortsetzung des Verfahrens zu einer Selbsttötung kommen wird, ist nicht erforderlich (vgl. Senat, Beschluss vom 7. Oktober 2010 - V ZB 82/10 Rn. 23, juris).

16

Ist danach eine konkrete Suizidgefahr zu bejahen, wird weiter zu prüfen sein, ob dieser Gefahr auf andere Weise als durch die vorläufige Einstellung der Zwangsvollstreckung wirksam begegnet werden kann, zum Beispiel durch eine vorläufige Unterbringung des Beteiligten zu 2 (vgl. näher Senat, Beschluss vom 14. Juni 2007 - V ZB 28/07, NJW 2007, 3719, 3720 f.). Für das in diesem Fall notwendige Verfahren zur Vermeidung einer Blockade zwischen Vollstreckungs- und Betreuungsgericht wird auf den Beschluss des Senats vom 15. Juli 2010 (V ZB 1/10, WuM 2010, 587, 588) verwiesen.

V.

17

Da aus dem Zuschlagsbeschluss schon vor dem Eintritt der Rechtskraft vollstreckt werden kann und die Aufhebung der Entscheidung des Beschwerdegerichts dem Zuschlagsbeschluss die Vollstreckbarkeit nicht nimmt, ist die Aussetzung der Vollstreckung bis zur erneuten Entscheidung des Beschwerdegerichts auszusprechen (§ 575 Abs. 5, § 570 Abs. 3 ZPO).

VI.

18

Eine Entscheidung über die Kosten der Rechtsbeschwerde wird nicht veranlasst sein. Gerichtskosten sind nicht entstanden. Eine Erstattung außergerichtlicher Kosten kommt nicht in Betracht, da sich die Beteiligten bei einer Zuschlagsbeschwerde in der Regel, und so auch hier, nicht als Parteien im Sinne der §§ 91 ff. ZPO gegenüberstehen (Senat, BGHZ 170, 378, 381 Rn. 7).

19

Die Wertfestsetzung für die außergerichtlichen Kosten der Beteiligten zu 1 und 2 beruht auf § 26 Nr. 2 RVG, diejenige für die Kosten der Beteiligten zu 5 auf § 26 Nr. 1 RVG.

Krüger                                             Stresemann                                           Czub

                            Roth                                                   Brückner