Entscheidungsdatum: 25.02.2016
§ 2 Abs. 15 Satz 2 AufenthG genügt den Anforderungen von Art. 2 Buchstabe n der Dublin-III-Verordnung und kann daher Grundlage für die Anordnung von Haft zur Sicherung von Überstellungsverfahren nach Art. 28 Dublin-III-Verordnung sein.
Auf die Rechtsbeschwerde wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Kempten vom 3. Oktober 2015 und der Beschluss des Landgerichts Kempten (Allgäu) - 4. Zivilkammer - vom 6. November 2015 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.
Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden der Bundesrepublik Deutschland auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.
I.
Der Betroffene, ein ghanaischer Staatsangehöriger, reiste am 2. Oktober 2015 unerlaubt in das Bundesgebiet ein. Eine Recherche in dem EURODAC-Register ergab, dass er in Italien bereits zwei Asylanträge gestellt hatte.
Das Amtsgericht hat am 3. Oktober 2015 Haft für sechs Wochen zur Sicherung der Zurückschiebung nach Italien angeordnet. Das Landgericht hat die Beschwerde zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde beantragt der Betroffene, der am 10. November 2015 nach Italien rücküberstellt worden ist, die Rechtswidrigkeit der Haft festzustellen.
II.
Nach Ansicht des Beschwerdegerichts liegt der Haftgrund der unerlaubten Einreise gemäß § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AufenthG vor. Darüber hinaus sei der Haftgrund des § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5, § 2 Abs. 14, 15 AufenthG i.V.m. Artikel 28 Dublin-III-Verordnung erfüllt. Es bestehe der begründete Verdacht, dass sich der Betroffene der Abschiebung durch Flucht oder Untertauchen entziehen wolle. Es lägen diesbezüglich konkrete Anhaltspunkte im Sinne des § 2 Abs. 14, 15 AufenthG vor. Der Betroffene, der in Italien bereits zweimal Asyl beantragt habe, habe das Land vor Abschluss des Verfahrens verlassen, wobei er die Hilfe eines bezahlten Schleusers in Anspruch genommen habe.
III.
Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet, da es an einem Haftgrund fehlt.
1. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen kann die Haftanordnung nicht auf § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AufenthG gestützt werden.
a) Das Beschwerdegericht geht zwar zutreffend davon aus, dass es sich um eine Haftanordnung zur Sicherung der Zurückschiebung im Anwendungsbereich der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (fortan: Dublin-III-Verordnung) handelt. Ebenso wie das Amtsgericht verkennt es aber, dass Grundlage für eine solche Haftanordnung nicht § 62 AufenthG ist. Vielmehr ergeben sich die Voraussetzungen unmittelbar aus Art. 28 Abs. 2, Art. 2 Buchstabe n der Dublin-III-Verordnung i.V.m. § 2 Abs. 15 AufenthG (Senat, Beschluss vom 26. Juni 2014 - V ZB 31/14, InfAuslR 2014, 381 Rn. 11 f.; a.A. Beichel-Benedetti, NJW 2015, 2541, 2543). Danach ist Überstellungshaft nur möglich, wenn eine erhebliche Fluchtgefahr besteht, die Haft verhältnismäßig ist und sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen.
b) Fluchtgefahr ist nach Art. 2 Buchstabe n der Dublin-III-Verordnung das Vorliegen von Gründen im Einzelfall, die auf objektiven gesetzlich festgelegten Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass sich ein Antragsteller, ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, gegen den ein Überstellungsverfahren läuft, dem Verfahren möglicherweise durch Flucht entziehen könnte. Der Senat hat bereits entschieden, dass der in § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AufenthG genannte Haftgrund der unerlaubten Einreise den von Art. 2 Buchstabe n der Dublin-III-Verordnung gestellten Anforderungen nicht entspricht und die Haft zur Sicherung von Überstellungsverfahren nach der Dublin-III-Verordnung daher hierauf nicht gestützt werden kann (Senat, Beschluss vom 22. Oktober 2014 - V ZB 124/14, InfAuslR 2015, 59).
2. Soweit das Beschwerdegericht - ohne allerdings die konkret angewandte Norm näher zu präzisieren und unter unzutreffender Zugrundelegung von § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AufenthG - die Haft auf Art. 28 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung i.V.m. § 2 Abs. 14 und 15 AufenthG stützt, vermag auch dies die Haftanordnung nicht zu tragen.
a) Das Beschwerdegericht bejaht zu Unrecht das Vorliegen der Voraussetzungen von § 2 Abs. 15 Satz 1, Abs. 14 AufenthG.
aa) § 2 Abs. 15 AufenthG legt die Anhaltspunkte für die Annahme einer Fluchtgefahr im Sinne von Art. 28 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung fest. Satz 1 nimmt dabei auf § 2 Abs. 14 AufenthG Bezug, der die Anhaltspunkte für eine Fluchtgefahr in den Fällen einer Abschiebung nach der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) regelt. Nach § 2 Abs. 14 Nr. 4 AufenthG, von dem das Beschwerdegericht offensichtlich ausgeht, kann ein konkreter Anhaltspunkt für eine Fluchtgefahr darin liegen, dass der Ausländer zu seiner unerlaubten Einreise erhebliche Geldbeträge an einen Schleuser gezahlt hat, „die für ihn nach den Umständen derart maßgeblich sind, dass darauf geschlossen werden kann, dass er die Abschiebung verhindern wird, damit die Aufwendungen nicht vergeblich waren“. Hinter dieser Regelung steht die Überlegung des Gesetzgebers, dass Schleuser nicht selten einen Betrag von 3.000 € bis 20.000 € pro Person verlangten und es sich dabei für den Betroffenen um erhebliche Aufwendungen handeln könne, die er nicht vergeblich getätigt haben will; dies könne daher ein Gesichtspunkt sein, der den Ausländer motiviere, sich einer Rückführung zu entziehen (BT-Drs. 18/4097, S. 33).
bb) Entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts sind die in § 2 Abs. 14 Nr. 4 AufenthG normierten Kriterien nicht erfüllt.
Das Beschwerdegericht stellt lediglich darauf ab, dass der Betroffene die Hilfe eines bezahlten Schleusers in Anspruch genommen hat. Der Frage, ob er für seine Ausreise aus Italien „erhebliche“ Geldbeträge zur Zahlung eines Schleusers aufgewendet hat und daraus für ihn eine Drucksituation entstanden ist, ist es hingegen nicht nachgegangen. Die Rechtsbeschwerde weist zu Recht darauf hin, dass das Beschwerdegericht nicht in den Blick genommen hat, dass der Betroffene - wie sich aus dem Haftantrag der beteiligten Behörde ergibt - für die Reise von Italien nach Deutschland an den Schlepper einen Betrag von 90 € gezahlt hat. Auch wenn man davon ausgeht, dass der Betroffene damit sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Geldmittel ausgegeben hat, ist der aufgewendete Betrag nicht so erheblich, dass er für sich genommen Rückschlüsse auf eine Fluchtgefahr zuließe.
b) Die Haftanordnung kann auch nicht auf Art. 28 Abs. 2, Art. 2 Buchstabe n der Dublin-III-Verordnung i.V.m. § 2 Abs. 15 Satz 2 AufentG gestützt werden.
aa) In § 2 Absatz 15 Satz 2 AufenthG ist ein spezifischer, nur für die Inhaftnahme im Verfahren nach der Dublin-III-Verordnung relevanter Anhaltspunkt geregelt (BT-Drs. 18/4097, S. 32). Danach kann ein Anhaltspunkt für Fluchtgefahr auch gegeben sein, wenn der Ausländer einen Mitgliedstaat vor Abschluss eines dort laufenden Verfahrens zur Zuständigkeitsbestimmung oder zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz verlassen hat und die Umstände der Feststellung im Bundesgebiet konkret darauf hindeuten, dass er den zuständigen Mitgliedstaat in absehbarer Zeit nicht aufsuchen will.
bb) Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde entspricht die Vorschrift den durch Art. 2 Buchstabe n der Dublin-III-Verordnung gestellten Anforderungen.
(1) Richtig ist allerdings, dass der Umstand, dass der Ausländer den Mitgliedstaat vor Abschluss eines dort laufenden Verfahrens verlassen hat und in das Bundesgebiet eingereist ist, für sich genommen kein taugliches Kriterium für die Annahme von Fluchtgefahr darstellt. Das Verlassen des zuständigen Mitgliedstaates rechtfertigt nur, dass der Ausländer dem Rücküberstellungsverfahren nach der Dublin-III-Verordnung unterliegt; diese Tatsache allein darf jedoch nach Art. 28 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung nicht zu seiner Inhaftnahme führen (vgl. auch BT-Drs. 18/4097, S. 34).
Daran, dass das bloße Verlassen des zuständigen Mitgliedstaates kein geeignetes Kriterium für die Annahme einer Fluchtgefahr im Sinne von Art. 28 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung ist, ändert der Hinweis in der Gesetzesbegründung (BT- Drs. 18/4097, S. 34) auf die Belehrung des Ausländers gemäß der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 vom 30. Januar 2014 (ABl. L 39 vom 8. Februar 2014, S. 1) nichts. Danach erhalten Personen, die in einem Mitgliedstaat einen Asylantrag stellen, durch Aushändigung eines Merkblattes Informationen über das Verfahren nach der Dublin-III-Verordnung (Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014, Art. 16a Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 i.V.m. Anhang X, Art. 4 Abs. 1 a Dublin-III-Verordnung). Sie werden u.a. darauf hingewiesen, dass sie während des laufenden Verfahrens nicht in ein anderes Dublin-Land umziehen sollten; anderenfalls würden sie wieder zurücküberstellt. Der Umstand, dass jeder asylantragstellende Ausländer nach Art. 4 Abs. 1 a der Dublin-III-Verordnung auf die Folgen eines Umzugs in ein anderes Dublin-Land hingewiesen wird, ist für die Beantwortung der Frage, ob er sich im Falle einer gleichwohl erfolgten Ausreise einer Rücküberstellung durch Flucht entziehen werde, unbehelflich.
(2) § 2 Absatz 15 Satz 2 AufenthG stellt aber nicht lediglich auf die Einreise des Ausländers aus einem anderen Mitgliedstaat in das Bundesgebiet ab. Vielmehr umschreibt der Gesetzgeber die konkreten Anhaltspunkte für die Annahme einer Fluchtgefahr, indem er an die „Umstände der Feststellung im Bundesgebiet“ anknüpft. Maßgebliches objektives Kriterium im Sinne von Art. 2 Buchstabe n der Dublin-III-Verordnung ist danach die konkrete Auffindesituation des Betroffenen. Deuten die tatsächlichen Umstände, unter denen der Ausländer im Bundesgebiet aufgegriffen worden ist, konkret darauf hin, dass er den zuständigen Mitgliedstaat in absehbarer Zeit nicht aufsuchen will, kann dies Rückschlüsse auf eine mögliche Fluchtgefahr zulassen. Welches Gewicht diesem Indiz zukommt und ob tatsächlich vom Bestehen einer Fluchtgefahr ausgegangen werden kann, bedarf der Prüfung im Einzelfall. Insoweit kann insbesondere von Bedeutung sein, wie und mit welcher Zielrichtung der Betroffene im Bundesgebiet unterwegs ist. Hat er sich beispielsweise nur kurzfristig - etwa zu Besuchszwecken - nach Deutschland begeben, trägt dieser Umstand nicht die Annahme von Fluchtgefahr (BT-Drs. 18/4097, S. 32, 34; HK-AuslR/Keßler, AufenthG, 2. Aufl., § 2 Rn. 47).
cc) Daran gemessen liegen hier keine Umstände im Sinne von § 2 Absatz 15 Satz 2 AufenthG vor, die auf eine Fluchtgefahr hindeuten; insbesondere kann nicht auf die Inanspruchnahme eines bezahlten Schleusers abgestellt werden. Da dieser Umstand angesichts der relativ geringen Höhe des aufgewendeten Betrages bereits nicht ausreichte, um die in § 2 Abs. 14 Nr. 4 AufentG genannten Anforderungen zu erfüllen, kann er für sich genommen auch keine tragfähige Grundlage für die Annahme einer Fluchtgefahr nach § 2 Absatz 15 Satz 2 AufenthG bilden.
IV.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83 Abs. 2 und § 430 FamFG, Art. 5 Abs. 5 EMRK analog. Die Festsetzung des Beschwerdewertes folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.
Stresemann Brückner Weinland
Kazele Haberkamp