Entscheidungsdatum: 18.01.2018
Die Verfahren über die Rechtsbeschwerden gegen die Beschlüsse der 9. Zivilkammer des Landgerichts Köln vom 4. April 2017 und vom 5. Mai 2017 werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden; das Verfahren V ZB 113/17 führt.
Auf die Rechtsbeschwerden der Beklagten werden die vorbezeichneten Beschlüsse aufgehoben.
Den Beklagten wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist gewährt.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten der verbundenen Rechtsbeschwerdeverfahren, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Gegenstandswert der Rechtsbeschwerdeverfahren beträgt bis zu ihrer Verbindung jeweils 6.166,67 €, danach einheitlich 6.166,67 €.
I.
Die Berufung der Beklagten gegen das ihnen am 5. Dezember 2016 zugestellte Urteil des Amtsgerichts ist nicht innerhalb der bis zum 5. Januar 2017 laufenden Berufungsfrist, sondern erst am 18. Januar 2017 zusammen mit einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, bei Gericht eingegangen. Zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags haben sie ausgeführt, ihr Prozessbevollmächtigter habe für den Abend des Tages des Fristablaufs nach der Rückkehr in die Kanzlei ab 20.00 Uhr geplant, zunächst eine bereits begonnene Klageschrift fertigzustellen und anschließend in der vorliegenden Sache die Berufung an das Landgericht zu faxen. Gegen 21.30 Uhr sei er von starker, völlig unvermittelter Übelkeit erfasst worden und habe sich heftig erbrechen müssen. Mit dieser Übelkeit seien auch heftige Diarrhoe-Krämpfe und eine erhebliche Beeinträchtigung des Kreislaufs einhergegangen. Ihm sei schwarz vor Augen geworden und er sei nicht mehr in der Lage gewesen, irgendeinen klaren Gedanken zu fassen. Nachdem er eine längere Weile auf dem Boden des Badezimmers der Kanzlei an der Wand gelehnt habe, habe er sich nach mehreren Schüben und Schweißausbrüchen entschlossen, zu seinem 2,5 Kilometer entfernten Wohnhaus zu fahren. Er sei so benommen gewesen, dass er es unterlassen habe, den Computer herunterzufahren, die Flurbeleuchtung der Kanzleiräume auszuschalten und seine Bürotür und die Haustür der gemeinsamen Büroräume abzuschließen. Nach weiteren heftigen Erkrankungsschüben in der Nacht trotz eingenommener Medikamente habe er am Morgen des 6. Januar 2017 einen Arzt um einen Hausbesuch gebeten, der am frühen Nachmittag stattgefunden habe. Erst im Laufe des späten Nachmittags des 6. Januar 2017 sei dem Prozessbevollmächtigten bewusst geworden, dass die Berufungsfrist aufgrund der plötzlichen Erkrankung offenbar ohne Einlegung der Berufung verstrichen sei.
Das Landgericht hat durch Beschluss vom 4. April 2017 den Wiedereinsetzungsantrag der Beklagten zurückgewiesen und durch weiteren Beschluss vom 5. Mai 2017 die Berufung als unzulässig verworfen. Gegen beide Entscheidungen haben die Beklagten Rechtsbeschwerde eingelegt. Der Kläger beantragt die Zurückweisung der Rechtsmittel.
II.
Das Berufungsgericht meint, den Beklagten sei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist zu versagen, weil sie nicht glaubhaft gemacht hätten, dass die Frist schuldlos versäumt worden sei. Es sei bereits nicht nachvollziehbar, warum der Prozessbevollmächtigte der Beklagten nach Rückkehr in seine Kanzlei zunächst eine nicht fristgebundene Klage verfasst habe, bevor er sich dem Versand der Berufungsschrift per Telefax habe widmen wollen. Darüber hinaus hätten die Beklagten nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass ihr Prozessbevollmächtigter krankheitsbedingt nicht in der Lage gewesen sei, die in der Regel lediglich aus einem Satz bestehende Berufungsschrift zu fertigen und fristgerecht per Telefax abzusetzen, obwohl er nach seinen eigenen Angaben mit dem Auto den Heimweg angetreten und darauf verzichtet habe, fremde Hilfe durch einen Familienangehörigen oder den Rettungsdienst in Anspruch zu nehmen. Die Bewältigung des Heimweges mit ca. 2,5 Kilometer Fahrstrecke stelle höhere und komplexere Anforderungen an Gesundheit, Aufmerksamkeit und Handlungsfähigkeit als die Fertigung eines Berufungsschriftsatzes und die Bedienung des Faxgerätes. Die Beklagten könnten auch nicht damit gehört werden, ihr Prozessbevollmächtigter habe krankheitsbedingt „keinen klaren Gedanken mehr fassen“ können und deshalb die Berufungseinlegung unterlassen. Die glaubhaft gemachten Krankheitssymptome gäben keine Veranlassung zu der Annahme, dass der Prozessbevollmächtigte der Beklagten im Zeitraum zwischen 21.30 Uhr und 24.00 Uhr das Bewusstsein verloren habe und damit handlungsunfähig gewesen sei. Darüber hinaus schließe die Fähigkeit, ein Fahrzeug unfallfrei über eine Strecke von 2,5 Kilometer zu führen, denknotwendig die Fähigkeit mit ein, eine einfache Faxnachricht zu versenden. Schließlich vermöge auch das vorgelegte ärztliche Attest vom 6. Januar 2017 dem Wiedereinsetzungsantrag nicht zum Erfolg zu verhelfen.
III.
Die von dem Senat verbundenen Rechtsmittel der Beklagten haben Erfolg.
1. Dies folgt allerdings nicht bereits daraus, dass nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Beschlüsse, die der Rechtsbeschwerde unterliegen, wegen der sich aus § 577 Abs. 2 Satz 4, § 559 Abs. 1 ZPO ergebenden Beschränkung den für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt wiedergeben müssen. Wird dem nicht genügt, liegt ein von Amts wegen zu berücksichtigender Verfahrensmangel vor, der ohne weiteres die Aufhebung der Beschwerdeentscheidung zur Folge hat (vgl. Senat, Beschluss vom 18. April 2013 - V ZB 81/12, juris Rn. 3 mwN; Beschluss vom 20. Mai 2016 - V ZB 142/15, FGPrax 2016, 241 Rn. 5). Hier liegt es nur deshalb anders, weil sich der maßgebliche Sachverhalt mit (noch) ausreichender Deutlichkeit den Gründen der Beschwerdeentscheidungen und dem konkludent in Bezug genommenen Wiedereinsetzungsantrag der Beklagten entnehmen lässt.
2. Das Berufungsgericht hat aber den Beklagten den Zugang zu dem von der Zivilprozessordnung eingeräumten Instanzenzug unzumutbar, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert. Dies verletzt ihren Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip, vgl. BVerfGE 77, 275, 284; BVerfG, NJW 2013, 592 f.) und eröffnet die Rechtsbeschwerde nach § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO (vgl. Senat, Beschluss vom 23. Oktober 2003 - V ZB 28/03, NJW 2004, 367, 368 mwN; Beschluss vom 9. März 2017 - V ZB 18/16, NJW 2007, 3002 Rn. 5). Die Begründung des Berufungsgerichts trägt die Versagung der Wiedereinsetzung nicht.
a) Es begründet kein den Beklagten gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnendes Verschulden (§ 233 Satz 1 ZPO) ihres Prozessbevollmächtigten, dass dieser nach seiner Rückkehr in die Kanzlei mit der Fertigstellung einer Klageschrift begonnen hat und erst im Anschluss die Berufungsschrift erstellen und faxen wollte. Ob diese Bearbeitungsreihenfolge „nachvollziehbar“ ist oder nicht, wie das Berufungsgericht meint, ist rechtlich unerheblich. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs darf ein Rechtsanwalt Fristen ausschöpfen, ohne sich allein hierdurch einem Verschuldensvorwurf auszusetzen (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Juni 2004 - IV ZB 9/04, NJW-RR 2004, 1502, 1503). Da die Erkrankung des Prozessbevollmächtigten nach dem insoweit auch von dem Berufungsgericht für glaubhaft gehaltenen Vorbringen plötzlich und unerwartet auftrat, war er nicht gehalten, das Versenden der Berufungsschrift, das nur wenige Minuten in Anspruch nehmen würde, vorzuziehen.
b) Rechtsfehlerhaft ist ferner die Annahme des Berufungsgerichts, die Beklagten hätten nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass ihr Prozessbevollmächtigter krankheitsbedingt nicht in der Lage gewesen sei, rechtzeitig vor Fristablauf die Berufung per Telefax einzureichen.
aa) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss sich der Rechtsanwalt auf einen krankheitsbedingten Ausfall nur dann durch konkrete Maßnahmen vorbereiten, wenn er einen solchen Ausfall vorhersehen kann. Wird er - wie hier - unvorhergesehen krank, muss er nur das unternehmen, was ihm dann möglich und zumutbar ist (Senat, Beschluss vom 18. September 2008 - V ZB 32/08, NJW 2008, 3571 Rn. 9 mwN; Beschluss vom 26. September 2013 - V ZB 94/13, NJW 2014, 228 Rn. 10 f.).
bb) Von diesen Maßstäben geht zwar auch das Berufungsgericht aus. Von Rechtsfehlern beeinflusst ist jedoch seine Würdigung, der Prozessbevollmächtigte der Beklagten sei trotz seiner Erkrankung zur Einlegung des Rechtsmittels in der Lage gewesen.
(1) Eine Behauptung ist schon dann glaubhaft gemacht, wenn eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass sie zutrifft (vgl. Senat, Beschluss vom 21. Oktober 2010 - V ZB 210/09, NJW-RR 2011, 136 Rn. 7). Die Beweise sind im Hinblick darauf frei zu würdigen (§ 286 ZPO; Zöller/Greger, ZPO, 31. Aufl., § 294 Rn. 6). Grundsätzlich ist die Beweiswürdigung dem Tatrichter vorbehalten. An dessen Feststellungen ist das Rechtsbeschwerdegericht gemäß § 577 Abs. 2 Satz 4 i.V.m. § 559 Abs. 2 ZPO gebunden; es kann lediglich nachprüfen, ob sich der Tatrichter entsprechend dem Gebot des § 286 ZPO mit dem Prozessstoff und den Beweisergebnissen umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt hat, die Beweiswürdigung also vollständig und rechtlich möglich ist und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr., vgl. nur Senat, Beschluss vom 19. Juni 2013 - V ZB 226/12, juris Rn. 12 mwN).
(2) Dieser Nachprüfung hält die Würdigung des Berufungsgerichts nicht stand, weil sie gegen Denkgesetze verstößt. Dass der Prozessbevollmächtigte der Beklagten trotz der von ihm dargelegten Erkrankung noch mit dem Pkw nach Hause gefahren ist und in der Zeit davor nicht bewusstlos war, besagt nicht, dass er in der Lage war, noch vor der Abfahrt den Berufungsschriftsatz zu fertigen und per Telefax an das Berufungsgericht zu senden.
Zum einen lässt sich alleine aus der Durchführung der Fahrt von 2,5 Kilometer nicht der Rückschluss ziehen, der Prozessbevollmächtigte habe über die für die Führung eines Fahrzeuges erforderlichen Fähigkeiten verfügt und habe deshalb auch die Berufung einlegen können, was weniger komplex gewesen sei. Vielmehr ist es in gleicher Weise denkbar, dass es nur einem Zufall bzw. der kurzen und dem Prozessbevollmächtigten bekannten Wegstrecke zu seinem Wohnhaus zu verdanken ist, dass es nicht zu einem Unfall gekommen ist.
Zum anderen lässt das Berufungsgericht unberücksichtigt, dass es auch unterhalb der Schwelle der Bewusstlosigkeit Erkrankungen geben kann, die es einem Rechtsanwalt unmöglich machen, eine fristwahrende Maßnahme zu treffen. In diesem Sinne sind die Ausführungen in der anwaltlichen Versicherung des Prozessbevollmächtigten der Beklagten zu verstehen, er sei nicht mehr in der Lage gewesen, irgendeinen klaren Gedanken zu fassen. Insoweit ist es nicht denkgesetzlich ausgeschlossen, vielmehr überwiegend wahrscheinlich, dass er in dieser Situation nur noch das Ziel hatte, möglichst schnell nach Hause zu kommen und hierbei das Erfordernis von fristwahrenden Maßnahmen in der noch zu bearbeitenden Berufungssache völlig aus dem Blick verloren hat. Hierfür spricht auch sein weiterer Vortrag, er sei krankheitsbedingt so benommen gewesen, dass er es unterlassen habe, den Computer herunterzufahren, die Flurbeleuchtung der Kanzleiräume auszuschalten und seine Bürotür und die Haustür der gemeinsamen Büroräume abzuschließen.
IV.
1. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden, weil es keiner weiteren Tatsachenfeststellungen bedarf (§ 577 Abs. 5 Satz 1 ZPO). Die von dem Berufungsgericht als glaubhaft gemacht angesehenen Krankheitssymptome reichen aus, um das fehlende Verschulden als überwiegend wahrscheinlich anzusehen. Die weiteren Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung liegen vor, insbesondere ist die Wiedereinsetzungsfrist gewahrt, und innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte Prozesshandlung von den Beklagten nachgeholt worden (§ 234 Abs. 1, § 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO). Ihnen ist danach unter Aufhebung des Beschlusses vom 4. April 2017 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist zu gewähren. Der die Berufung als unzulässig verwerfende Beschluss vom 5. Mai 2017 wird mit der Wiedereinsetzung gegenstandslos. Seine Aufhebung erfolgt nur klarstellend (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Februar 2005 - XII ZB 225/04, FamRZ 2005, 791, 792; Senat, Beschluss vom 9. März 2017 - V ZB 18/16, NJW 2017, 3002 Rn. 17).
2. Bei der Festsetzung des Gegenstandswerts hat sich der Senat mangels anderer Anhaltspunkte an der Bewertung der Klageanträge sowie der Widerklage durch das Amtsgericht und an dem Unterliegen der Beklagten orientiert (Klage: 666,67 € [1/3 von 2.000 €] + 500 €, Widerklage: 5.000 €).
Stresemann |
RinBGH Prof. Dr. Schmidt-Räntsch |
Brückner |
||
Die Vorsitzende |
||||
Göbel |
Haberkamp |