Entscheidungsdatum: 10.09.2015
Zur Anerkennung der Wirkungen eines Insolvenzverfahrens nach englischem Recht im Inland.
Auf die Revision des Beklagten wird der die Berufung zurückweisende Beschluss des 13. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 11. November 2013 aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Die Parteien streiten um die Wirkungen eines britischen Insolvenzverfahrens im Inland. Anlass ist die Inanspruchnahme des Beklagten durch die Klägerin aus einer Bürgschaft.
Der Beklagte war alleiniger Aktionär und Vorstand der H. AG (fortan: Gesellschaft) und hatte sich für Darlehensforderungen der Klägerin gegen die Gesellschaft selbstschuldnerisch verbürgt. Nachdem die Gesellschaft in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten war, kündigte die Klägerin ein Darlehen in Höhe von 1.410.000 € fristlos und nahm den Beklagten aus der Bürgschaft in Anspruch. Es kam zu vorgerichtlicher Korrespondenz, die der Beklagte zunächst aus dem Iran und später aus dem Vereinigten Königreich führte. Auf Antrag des Beklagten wurde dort am 26. August 2011 ein Insolvenzverfahren über dessen Vermögen eröffnet.
Nachdem die Darlehensschuld durch Verwertung anderer Sicherheiten teilweise zurückgeführt werden konnte, hat die Klägerin den Beklagten mit Klage vom 24. Januar 2012 vor dem Landgericht Köln aus der Bürgschaft auf Zahlung von 165.696,44 € nebst Zinsen in Anspruch genommen. Der Beklagte hat sich der Inanspruchnahme mit dem Hinweis auf das britische Insolvenzverfahren widersetzt. Das Landgericht hat den Beklagten antragsgemäß verurteilt. Die Berufung des Beklagten hat das Oberlandesgericht gemäß § 522 Abs. 2 ZPO durch Beschluss zurückgewiesen. Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision begehrt der Beklagte weiterhin die Abweisung der Klage.
Die Revision führt zur Aufhebung des die Berufung zurückweisenden Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I.
Das Berufungsgericht hat einen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung gemäß Art. 26 der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (fortan: EuInsVO) angenommen, weshalb der Einwand des Beklagten, im Vereinigten Königreich sei ein Insolvenzverfahren nach englischem Recht über sein Vermögen anhängig, nicht durchgreife. Der Beklagte habe den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen einzig in das Vereinigte Königreich verlegt, um sich rechtsmissbräuchlich den berechtigten Forderungen seiner Gläubiger zu entziehen. Zwar müsse im Grundsatz anerkannt werden, dass sich ein ausländisches Insolvenzgericht für örtlich zuständig erkläre. Dass insoweit eine ordnungsgemäße Prüfung stattgefunden habe, ergebe sich aus den vom Beklagten vorgelegten Dokumenten jedoch nicht, ergänzenden Vortrag habe er nicht gehalten.
II.
Dies hält rechtlicher Prüfung nicht stand. Aufgrund der bisher vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen kann ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung im Sinne des Art. 26 EuInsVO nicht angenommen werden.
1. Nach Art. 16 Abs. 1 EuInsVO wird die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens durch ein nach Art. 3 der Verordnung zuständiges Gericht eines Mitgliedstaats in allen übrigen Mitgliedstaaten anerkannt, sobald die Entscheidung im Staat der Verfahrenseröffnung wirksam ist. Ohne weitere Förmlichkeiten werden die zur Durchführung und Beendigung eines Insolvenzverfahrens ergangenen Entscheidungen ebenfalls anerkannt, wenn diese von einem Gericht getroffen worden sind, dessen Eröffnungsentscheidung nach Art. 16 EuInsVO anerkannt wird (Art. 25 Abs. 1 EuInsVO).
Die Formulierung des Art. 16 Abs. 1 EuInsVO ("durch ein nach Art. 3 zuständiges Gericht") ist nicht dahingehend zu verstehen, dass im Anerkennungsstaat zu prüfen ist, ob das Gericht für die Verfahrenseröffnung zuständig war. Dies verbietet der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens (vgl. die 22. Begründungserwägung zur EuInsVO). Dieser verlangt, dass die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten die Entscheidung zur Eröffnung eines Insolvenzverfahrens anerkennen, ohne die vom ersten Gericht hinsichtlich seiner Zuständigkeit angestellte Beurteilung überprüfen zu können (EuGH, Urteil vom 2. Mai 2006, C-341/04, Eurofood IFSC Ltd, Slg. 2006, I-3813 Rn. 38 ff; vom 21. Januar 2010, C-444/07, MG Probud Gdynia sp. z o.o., Slg. 2010, I-00417 Rn. 29). Dies gilt auch für die Anerkennung der zur Durchführung und Beendigung eines Insolvenzverfahrens ergangenen Entscheidungen im Sinne des Art. 25 Abs. 1 EuInsVO (EuGH, Urteil vom 21. Januar 2010, aaO Rn. 30 ff).
Nach Art. 26 EuInsVO kann sich jeder Mitgliedstaat allerdings weigern, ein in einem anderen Mitgliedstaat eröffnetes Insolvenzverfahren anzuerkennen oder eine in einem solchen Verfahren ergangene Entscheidung zu vollstrecken, soweit diese Anerkennung oder diese Vollstreckung zu einem Ergebnis führt, das offensichtlich mit seiner öffentlichen Ordnung, insbesondere mit den Grundprinzipien oder den verfassungsmäßig garantierten Rechten und Freiheiten des Einzelnen, unvereinbar ist (EuGH, Urteil vom 21. Januar 2010, aaO Rn. 33).
2. Eine Anwendung des Ordre-Public-Vorbehalts gemäß Art. 26 EuInsVO kommt in Betracht, wenn das Ergebnis der Anerkennung oder Vollstreckung der in einem anderen Mitgliedstaat erlassenen Entscheidung gegen einen wesentlichen Rechtsgrundsatz verstieße und deshalb in einem nicht hinnehmbaren Gegensatz zur Rechtsordnung des Anerkennungs- oder Vollstreckungsmitgliedstaats stünde. Es muss sich bei diesem Verstoß um eine offensichtliche Verletzung einer in der Rechtsordnung des Anerkennungs- oder Vollstreckungsmitgliedstaats als wesentlich geltenden Rechtsnorm oder eines dort als grundlegend anerkannten Rechts handeln (EuGH, Urteil 28. März 2000, C-7/98, Krombach, Slg. 2000, I-01935 Rn. 37; vom 11. Mai 2000, C-38/98, Renault, Slg. 2000, I-02973 Rn. 30; vom 2. April 2009, C-394/07, Gambazzi, Slg. 2009, I-2563 Rn. 27; vom 28. April 2009, C-420/07, Apostolides, Slg. 2009, I-3571 Rn. 59; vom 6. September 2012, C-619/10, RIW 2012, 781 Rn. 51). Der Ordre-Public-Vorbehalt des Art. 26 EuInsVO kann demnach nur in Ausnahmefällen einschlägig sein (EuGH, Urteil vom 2. Mai 2006, aaO Rn. 62; vom 21. Januar 2010, aaO Rn. 34).
3. Diesen Anforderungen wird die angefochtene Entscheidung nicht gerecht.
a) Das Berufungsgericht hat unterstellt, dass der Beklagte den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen (vgl. Beck, ZVI 2011, 355, 358 ff) tatsächlich in das Vereinigte Königreich verlegt hatte. Es hat für ausschlaggebend gehalten, dass die Verlegung durch den Schuldner erfolgt sei, um sich den berechtigten Forderungen seiner Gläubiger zu entziehen, was als rechtsmissbräuchlich anzusehen sei. Diese Erwägung trägt nicht. Ein Verstoß gegen die inländische öffentliche Ordnung liegt nicht schon dann vor, wenn das mitgliedstaatliche Gericht einen in seinem Zuständigkeitsbereich allein zur Erlangung der Restschuldbefreiung begründeten Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners anerkennt.
b) Ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung gemäß Art. 26 EuInsVO folgt auch nicht daraus, dass sich das Berufungsgericht nicht hat davon überzeugen können, ob eine ordnungsgemäße Prüfung durch den englischen Richter habe stattgefunden. Jedenfalls bis zur Grenze der - im Streitfall nicht festgestellten - Willkür begründen den Fehler bei der Annahme der internationalen Zuständigkeit keinen Verstoß gegen die deutsche öffentliche Ordnung (vgl. Schmidt/Brinkmann, InsO, 18. Aufl., Art. 26 EuInsVO Rn. 8; Flöther/Wehner in Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier, InsO, 2. Aufl., Art. 26 EuInsVO Rn. 10a; Mohrbutter/Ringstmeier/Wenner, Handbuch Insolvenzverwaltung, 9. Aufl., Kap. 20 Rn. 193).
III.
Der die Berufung zurückweisende Beschluss kann folglich keinen Bestand haben. Die Sache ist nicht zur Endentscheidung reif, weil es an Feststellungen zum Inhalt des englischen Rechts fehlt.
1. Nach § 293 ZPO hat der Tatrichter ausländisches Recht von Amts wegen zu ermitteln. Wie er sich diese Kenntnis verschafft, liegt in seinem pflichtgemäßen Ermessen. Jedoch darf sich die Ermittlung des fremden Rechts nicht auf die Heranziehung der Rechtsquellen beschränken, sondern muss auch die konkrete Ausgestaltung des Rechts in der ausländischen Rechtspraxis, insbesondere die ausländische Rechtsprechung, berücksichtigen. Der Tatrichter ist gehalten, das Recht als Ganzes zu ermitteln, wie es sich in Lehre und Rechtsprechung entwickelt hat. Er muss dabei die ihm zugänglichen Erkenntnisquellen ausschöpfen (BGH, Urteil vom 23. Juni 2003 - II ZR 305/01, NJW 2003, 2685, 2686; vom 14. Januar 2014 - II ZR 192/13, WM 2014, 357 Rn. 15).
2. Vom Inhalt des englischen Rechts hängt ab, ob der Beklagte passiv prozessführungsbefugt und die Klage deshalb zulässig ist. Die Prozessführungsbefugnis kann beeinflusst werden durch die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens und durch dessen Einstellung oder Aufhebung (BGH, Beschluss vom 25. September 2008 - IX ZB 205/06, ZInsO 2008, 1279 Rn. 7). Dies gilt auch für ein Insolvenzverfahren nach englischem Recht. Auf die Frage, ob das Verfahren Wirkungen im Inland zeitigt, kommt es nicht an, wenn die Prozessführungsbefugnis auch unter Berücksichtigung des englischen Rechts anzunehmen ist.
a) Das Berufungsgericht hat bislang keine Feststellungen über die Durchführung und eine etwaige Beendigung des am 26. August 2011 eröffneten Insolvenzverfahrens getroffen. Nach dem im Revisionsverfahren gehaltenen Parteivortrag hat der Beklagte am 26. August 2012 Restschuldbefreiung ("discharge from bankruptcy") erlangt. Mit der Restschuldbefreiung dürfte das Insolvenzverfahren abgeschlossen worden sein (vgl. Insolvency Act 1986, Section 278 (b); Zilkens, Die discharge in der englischen Privatinsolvenz, 2006, S. 91; Renger, Wege zur Restschuldbefreiung nach dem Insolvency Act 1986, 2012, S. 130). Jedenfalls ab diesem Zeitpunkt könnte die Klägerin wieder berechtigt gewesen sein, ihren Bürgschaftsanspruch außerhalb des englischen Insolvenzverfahrens zu verfolgen, was auf die passive Prozessführungsbefugnis des Beklagten schließen ließe (vgl. BGH, Urteil vom 14. Januar 2014, aaO Rn. 11).
b) Sollte das englische Recht der Prozessführungsbefugnis des Beklagten weiterhin entgegenstehen, wäre die Klage zulässig, wenn das im Vereinigten Königreich eröffnete Insolvenzverfahren in Deutschland nicht anzuerkennen sein sollte. Auch dies kann nicht ohne Feststellungen zum Inhalt des englischen Rechts beurteilt werden.
aa) Die Klägerin hat sich darauf berufen, der Beklagte habe die Eröffnung des englischen Insolvenzverfahrens durch Täuschung des Insolvenzrichters über den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen erlangt. Tatsächlich habe der Beklagte weiterhin in Deutschland gelebt, so dass der englische Insolvenzrichter international nicht zuständig gewesen sei.
(1) Im Schrifttum wird teilweise angenommen, dass der inländische Gläubiger von der Einlegung eines Rechtsbehelfs in dem Mitgliedstaat der Verfahrenseröffnung absehen und sich stattdessen im Inland auf einen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung berufen kann, wenn der Schuldner die Eröffnungsentscheidung durch Täuschung des Gerichts erlangt hat (so etwa Mankowski, KTS 2011, 185, 205 f; Schmidt/Brinkmann, InsO, 18. Aufl., Art. 26 EuInsVO Rn. 8; Uhlenbruck/Lüer, InsO, 14. Aufl., Art. 26 EuInsVO Rn. 6). Danach wäre ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung im Sinne des Art. 26 EuInsVO im Streitfall schon dann anzunehmen, wenn es der darlegungs- und beweisbelasteten Klägerin (vgl. BGH, Urteil vom 14. November 1996 - IX ZR 339/95, BGHZ 134, 79, 91 f; Beschluss vom 18. September 2001 - IX ZB 104/00, WM 2002, 143, 144; vom 6. Oktober 2005 - IX ZB 360/02, WM 2006, 597, 598) gelänge, die behauptete Täuschung nachzuweisen. Auf eine Rechtsschutzmöglichkeit im Vereinigten Königreich käme es nicht an. Andere Autoren gehen davon aus, dass auch die Erlangung einer Eröffnungsentscheidung infolge Täuschung des Gerichts - soweit möglich - durch Einlegung eines Rechtsbehelfs im Eröffnungsstaat geltend gemacht werden muss (Jacoby, GPR 2007, 200, 204 f; Mehring, ZInsO 2012, 1247,1250; Priebe, ZInsO 2012, 2074, 2083; Vallender, ZInsO 2009, 616, 620; Flöther/Wehner in Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier, InsO, 2. Aufl., Art. 26 EuInsVO Rn. 10a).
(2) Richtig ist die letztgenannte Ansicht. Nach der 22. Begründungserwägung zur EuInsVO sollen die zulässigen Gründe für eine Nichtanerkennung der in einem Mitgliedstaat getroffenen Entscheidungen über die Eröffnung, Durchführung und Beendigung eines Insolvenzverfahrens auf das unbedingt notwendige Maß beschränkt sein. Dies verdeutlicht den Ausnahmecharakter des Ordre-Public-Vorbehalts gemäß Art. 26 EuInsVO. Dessen Anwendung ist nicht unbedingt notwendig, wenn die von einem mitgliedstaatlichen Insolvenzverfahren betroffene Person im Staat der Verfahrenseröffnung zureichenden Rechtsschutz suchen kann. Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens gebietet es daher, dass die betroffene Person die Gerichte im Eröffnungsstaat anruft, wenn sie meint, der Schuldner habe die Eröffnungsentscheidung durch Täuschung über den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen erschlichen. Damit verbundene Erschwernisse für die Person sind zur Verbesserung der Effizienz und Wirksamkeit der Insolvenzverfahren mit grenzüberschreitender Wirkung (vgl. die 2. Begründungserwägung zur EuInsVO) hinzunehmen.
Dies haben das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union durch die kürzlich erfolgte Neufassung der EuInsVO (Verordnung (EU) 2015/848 vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren; ABl. L 141/19 vom 5. Juni 2015) bestätigt. Art. 5 Abs. 1 dieser Verordnung sieht das Recht (auch) jedes Gläubigers vor, die Eröffnungsentscheidung aus Gründen der internationalen Zuständigkeit anzufechten. Dabei handelt es sich um eine von mehreren Schutzvorkehrungen, um betrügerisches oder missbräuchliches Forum Shopping zu verhindern (vgl. die 29. Begründungserwägung zur Verordnung iVm der 34. Erwägung "darüber hinaus"). Danach kann und muss der Gläubiger auch im Falle einer durch Täuschung erschlichenen Zuständigkeitsentscheidung Rechtsschutz im Staat der Verfahrenseröffnung suchen. Nichts anderes gilt nach derzeit noch geltender Rechtslage, wenn das Recht des Eröffnungsstaats eine entsprechende Rechtsschutzmöglichkeit vorsieht.
bb) Die Klägerin hat sich ferner darauf berufen, sie habe keinerlei Möglichkeit gehabt, zur internationalen Zuständigkeit des Colchester County Court Stellung zu nehmen. Sie hat hierzu vorgetragen, das Schreiben des Official Receiver vom 6. Oktober 2011, mittels dessen sie über die Verfahrenseröffnung informiert werden sollte, sei nicht zugegangen. Bis zur Zustellung der Klagerwiderung am 26. April 2012 habe die Klägerin keinerlei Kenntnis von dem englischen Insolvenzverfahren gehabt.
(1) Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist Art. 26 EuInsVO anwendbar, wenn die Entscheidung zur Eröffnung eines Insolvenzverfahrens unter offensichtlichem Verstoß gegen das Grundrecht auf rechtliches Gehör einer von einem solchen Verfahren betroffenen Person ergangen ist. Dabei geht es um den allgemeinen unionsrechtlichen Rechtsgrundsatz, dass jedermann Anspruch auf ein faires Verfahrens hat. Der Richter im Inland kann sich nicht darauf beschränken, seine eigenen Vorstellungen von der Mündlichkeit des Verfahrens und von der fundamentalen Rolle, die diese in seiner Rechtsordnung spielt, zu übertragen. Vielmehr muss er anhand sämtlicher Umstände beurteilen, ob die betroffene Person in dem mitgliedstaatlichen Verfahren hinreichend die Möglichkeit hatte, gehört zu werden (EuGH, Urteil vom 2. Mai 2006, C-341/04, Eurofood IFSC Ltd, Slg. 2006, I-3813 Rn. 65 ff).
(2) Das Berufungsgericht wird deshalb unter Würdigung sämtlicher Umstände zu prüfen haben, ob sich die Klägerin nach englischem Recht hinreichend Gehör verschaffen und zur internationalen Zuständigkeit des Colchester City Court Stellung nehmen konnte. Eine Rechtsschutzmöglichkeit könnte auch in dem Verfahren zur Annullierung englischer Insolvenzeröffnungsentscheidungen zu erblicken sein.
Gemäß Insolvency Act 1986, Section 282 (1) (a) kann der Eröffnungsbeschluss annulliert werden, wenn dieser aus Gründen, die bei dessen Erlass schon vorlagen, nicht hätte ergehen dürfen. Da der Insolvency Act keine Regelung enthält, durch welche der berechtigte Personenkreis beschränkt wird, dürften alle Betroffenen berechtigt sein, die Annullierung zu beantragen. Der Antrag soll auch noch nach Eintritt der Restschuldbefreiung gestellt werden können und mit der dann erfolgenden Annullierung die bereits eingetretene Durchsetzungssperre entfallen (Mehring, ZInsO 2012, 1247, 1250 f; Goslar, NZI 2012, 912, 915 f; Priebe, ZInsO 2012, 2074, 2081; Renger, Wege zur Restschuldbefreiung nach dem Insolvency Act 1986, 2012, S. 98 ff; vgl. auch High Court of Justice Birmingham, Entscheidung vom 29. August 2012, Case No. 957 of 2010).
(3) Allein der Umstand, dass der Gläubiger keine verfahrensrechtliche Möglichkeit hatte, sich in dem ausländischen Verfahren Gehör zu verschaffen, reicht allerdings nicht aus, um der ausländischen Entscheidung die Anerkennung zu versagen. Vielmehr muss gemäß Art. 26 EuInsVO die Anerkennung oder die Vollstreckung der Entscheidung in dem Mitgliedstaat zu einem Ergebnis führen, das offensichtlich mit der inländischen öffentlichen Ordnung, insbesondere mit den Grundprinzipien oder den verfassungsmäßig garantierten Rechten und Freiheiten des Einzelnen, unvereinbar ist (vgl. Flöther/Wehner in Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier, Insolvenzrecht, 2. Aufl., Art. 26 EuInsVO Rn. 6; HK-InsO/Stephan, 7. Aufl., Art. 26 EuInsVO Rn. 2; Kemper in Kübler/Prütting/Bork, InsO, 2010, Art. 26 Rn. 4; Mohrbutter/Ringstmeier/Wenner, Handbuch Insolvenzverwaltung, 9. Aufl., Kap. 20 Rn. 193). Ein solches Ergebnis könnte dann gegeben sein, wenn festgestellt wird, dass der Beklagte sich rechtsmissbräuchlich die Zuständigkeit des Insolvenzgerichts im Vereinigten Königreich erschlichen hat, indem er die Verlegung des Mittelpunktes seiner hauptsächlichen Interessen vorgetäuscht hat.
Die Klägerin hat mit ihrer im Revisionsverfahren erhobenen Gegenrüge geltend gemacht, für den Fall, dass es tatsächlich darauf ankomme, ob der Beklagte den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen nur zum Schein in das Vereinigte Königreich verlegt habe, hätte sie sich auf einen entsprechenden Hinweis zum Beweis für ihre Behauptung, dass der Beklagte weiter in Deutschland gewohnt habe, auf das Zeugnis der Ehefrau des Beklagten berufen. Sollte es nach der Feststellung des englischen Rechts durch das Berufungsgericht hierauf noch ankommen, weil für die Klägerin keine Möglichkeit gegeben war oder ist, ihre Rechte im englischen Insolvenzverfahren wahrzunehmen, wird ihr Gelegenheit zu geben sein, ihren Vortrag insoweit noch zu ergänzen und Beweis für den ihr obliegenden Nachweis der Zuständigkeitserschleichung anzutreten.
3. Ist die Klage deshalb zulässig, weil der Beklagte zwischenzeitlich Restschuldbefreiung erlangt hat und aus diesem Grund (wieder) prozessführungsbefugt ist, kann der streitgegenständliche Bürgschaftsanspruch ohne weiteres durchsetzbar sein, wenn die Restschuldbefreiung den Bürgschaftsanspruch nicht umfasst (vgl. dazu Insolvency Act 1986, Section 281; Zilkens, Die discharge in der englischen Privatinsolvenz, 2006, S. 77 f; Renger, Wege zur Restschuldbefreiung nach dem Insolvency Act 1986, 2012, S. 111 ff; jeweils zur Reichweite der Restschuldbefreiung). Für den Fall, dass der Bürgschaftsanspruch von der Restschuldbefreiung erfasst wird, kann die Klage nur dann begründet sein, wenn die Restschuldbefreiung in Deutschland nicht anzuerkennen ist. Die vorstehenden Ausführungen unter 2. b) gelten sinngemäß. Da der Ordre-Public-Vorbehalt des Art. 26 EuInsVO sowohl für die Eröffnungsentscheidung nach Art. 16 Abs. 1 EuInsVO gilt als auch auf Entscheidungen im Sinne des Art. 25 Abs. 1 EuInsVO anzuwenden ist, kann offenbleiben, ob es sich bei der Restschuldbefreiung nach englischem Recht um einen Fall des Art. 25 Abs. 1 EuInsVO handelt oder ob wegen der im Regelfall automatisch eintretenden Befreiung (vgl. Renger, aaO S. 104 f; Priebe, ZInsO 2012, 2074, 2079) Art. 16 Abs. 1 EuInsVO einschlägig ist (vgl. Vallender, ZInsO 2009, 616, 618; Mansel in Festschrift von Hoffmann, 2011, S. 683, 685; Mankowski, KTS 2011, 185, 201).
Kayser Vill Lohmann
Pape Möhring