Entscheidungsdatum: 19.04.2012
Die Beweiswirkung eines anwaltlichen Empfangsbekenntnisses entfällt, wenn sein Inhalt vollständig entkräftet und jede Möglichkeit ausgeschlossen ist, dass die Angaben richtig sein können. Der Gegenbeweis ist nicht schon geführt, wenn lediglich die Möglichkeit der Unrichtigkeit besteht, die Richtigkeit der Angaben also nur erschüttert ist.
Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin wird der Beschluss der 6. Zivilkammer des Landgerichts München I vom 23. November 2011 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Gegenstandswert wird auf 1.920,78 € festgesetzt.
I.
Die klagende Steuerberaterin macht gegen den Beklagten wegen Beratungsleistungen einen Vergütungsanspruch geltend. Ihre Klage wurde durch Urteil des Amtsgerichts vom 25. Mai 2011 abgewiesen. Das Urteil wurde - jeweils ausweislich des anwaltlichen Empfangsbekenntnisses - dem Beklagten am 3. Juni 2011 und der Klägerin am 30. Juni 2011 zugestellt.
Die Berufung der Klägerin ist am 29. Juli 2011 bei dem Berufungsgericht eingegangen. Das Landgericht hat die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen. Mit der Rechtsbeschwerde verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.
II.
Die gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte und unter dem Gesichtspunkt der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zulässige (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) Rechtsbeschwerde ist begründet.
1. Das Landgericht hat ausgeführt, die Berufung sei nicht fristgerecht eingelegt worden. Für den Gegenbeweis der Unrichtigkeit des von dem Bevollmächtigten erteilten Empfangsbekenntnisses sei es als ausreichend anzusehen, wenn die Möglichkeit der Richtigkeit der Empfangsbestätigung ausgeschlossen werden könne. Dies sei hier der Fall. Dem Beklagtenvertreter sei das Urteil zeitnah am 3. Juni 2011 zugestellt worden. Unter gewöhnlichen Umständen sei zu erwarten gewesen, dass das Urteil auch dem Klägervertreter Anfang Juni zugestellt worden sei. Überdies sei der Klägervertreter nach der Monierung des fehlenden Eingangs des Empfangsbekenntnisses durch die Geschäftsstelle des Amtsgerichts ohne weiteres zur Übersendung des Empfangsbekenntnisses mit dem Eingangsstempel des 30. Juni 2011 in der Lage gewesen. Müsse eine zeitlich frühere Zustellung, als sie dem Empfangsbekenntnis entspreche, bewiesen werden, könne nicht uneingeschränkt auf das Zustellungsdatum abgestellt werden, weil andernfalls Missbrauch Tür und Tor geöffnet würde.
2. Diese Ausführungen halten rechtlicher Prüfung nicht stand. Die Berufung der Klägerin ist zulässig, weil sie durch den am 29. Juli 2011 eingegangenen Schriftsatz innerhalb der bis zum Montag, den 1. August 2011 laufenden einmonatigen Berufungsfrist fristgerecht eingelegt wurde (§ 517 ZPO).
a) Die Zustellung gegen Empfangsbekenntnis ist dann als bewirkt anzusehen, wenn der Rechtsanwalt das ihm zugestellte Schriftstück mit dem Willen entgegengenommen hat, es als zugestellt gegen sich gelten zu lassen, und dies auch durch Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses beurkundet. Zustellungsdatum ist also der Tag, an dem der Rechtsanwalt als Zustellungsadressat vom Zugang des übermittelten Schriftstücks Kenntnis erlangt und es empfangsbereit entgegengenommen hat. Ein derartiges Empfangsbekenntnis erbringt als Privaturkunde im Sinne von § 416 ZPO (BGH, Urteil vom 7. Juni 1990 - III ZR 216/89, NJW 1990, 2125) grundsätzlich Beweis nicht nur für die Entgegennahme des darin bezeichneten Schriftstücks als zugestellt, sondern auch für den Zeitpunkt der Entgegennahme durch den Unterzeichner und damit der Zustellung (BGH, Urteil vom 18. Januar 2006 - VIII ZR 114/05, NJW 2006, 1206 Rn. 8). Der Gegenbeweis der Unrichtigkeit der im Empfangsbekenntnis enthaltenen Angaben ist zulässig. Er setzt voraus, dass die Beweiswirkung des § 174 ZPO vollständig entkräftet und jede Möglichkeit ausgeschlossen ist, dass die Angaben des Empfangsbekenntnisses richtig sein können; hingegen ist dieser Gegenbeweis nicht schon dann geführt, wenn lediglich die Möglichkeit der Unrichtigkeit besteht, die Richtigkeit der Angaben also nur erschüttert ist (BVerfG, NJW 2001, 1563, 1564; BGH, Beschluss vom 13. Juni 1996 - VII ZB 12/96, NJW 1996, 2514, 2515; Urteil vom 18. Januar 2006, aaO, Rn. 9; Zöller/Stöber, ZPO, 29. Aufl., § 174 Rn. 20 mwN).
b) Im Streitfall ist die Beweiswirkung des anwaltlichen Empfangsbekenntnisses allenfalls erschüttert, aber nicht - wie das Berufungsgericht annimmt - vollständig entkräftet. Insoweit ist das Rechtsbeschwerdegericht nicht auf eine lediglich rechtliche Überprüfung der Verfahrensweise, insbesondere der Beweiswürdigung des Berufungsgerichts beschränkt, sondern hat den für die Zulässigkeit des Rechtsmittels maßgebenden Sachverhalt in tatsächlicher Hinsicht selbstständig zu würdigen (BGH, Urteil vom 24. April 2001 - VI ZR 258/00, NJW 2001, 2722, 2723). Diese Würdigung ergibt, dass für den Beginn des Laufs der Berufungsfrist das in dem Empfangsbekenntnis angegebene Zustelldatum des 30. Juni 2011 maßgeblich ist (vgl. auch den ähnlich gelagerten Sachverhalt bei BVerfG, aaO).
Es kann bereits nicht ausgeschlossen werden, dass das angefochtene Urteil dem Bevollmächtigten der Klägerin - im Unterschied zu dem Bevollmächtigten des Beklagten - über das Gerichtsfach verzögert zugeleitet wurde. Außerdem kann dem Bevollmächtigten der Klägerin das Urteil aus verschiedensten Gründen infolge eines kanzleiinternen Versehens nicht im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Eingang vorgelegt worden sein. Keine ausschlaggebende Bedeutung im Sinne einer Entkräftung des Empfangsbekenntnisses kann entgegen der Würdigung des Berufungsgerichts dem Umstand beigemessen werden, dass der Bevollmächtigte der Klägerin im Anschluss an eine Nachfrage der Geschäftsstelle, ohne um eine erneute Übersendung des Urteils zu bitten, das Empfangsbekenntnis zu den Akten gereicht hat. Einmal besteht die Möglichkeit, dass das Urteil unmittelbar vor oder nach der Anfrage der Geschäftsstelle die Kanzlei des Bevollmächtigten der Klägerin erreicht hat. Ferner kann das Urteil aufgrund von Nachforschungen innerhalb der Kanzlei des Bevollmächtigten der Klägerin aufgefunden worden sein. Auch im Falle einer erheblichen zeitlichen Diskrepanz zwischen dem vermeintlichen Zeitpunkt der Übersendung eines Schriftstücks und dem in dem Empfangsbekenntnis enthaltenen Datum ist nicht schon wegen einer möglichen Missbrauchsgefahr der Gegenbeweis der Unrichtigkeit geführt. Bei dieser Sachlage ist jedenfalls nicht die Annahme gerechtfertigt, dass die Beweiskraft des Empfangsbekenntnisses vollständig beseitigt ist.
Kayser Gehrlein Vill
Fischer Grupp