Entscheidungsdatum: 28.03.2012
Dem Kläger wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde gewährt.
Auf seine Rechtsbeschwerde wird der Beschluss des 4. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 18. April 2011 aufgehoben.
Dem Kläger wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist gewährt.
Die Sache wird zur Verhandlung und Entscheidung über die Berufung des Klägers an das Berufungsgericht zurückverwiesen, dem auch die Entscheidung über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens vorbehalten bleibt.
Beschwerdewert: 16.112,63 €
I. Der Kläger macht gegen die Beklagte aus einer Unfallversicherung einen Anspruch auf Zahlung weiteren Krankentagegeldes in Höhe von 16.112,63 € nebst Zinsen geltend. Das die Klage abweisende Urteil des Landgerichts wurde seinem Prozessbevollmächtigten am 9. Juli 2010 zugestellt. Die Berufungsschrift nebst Begründung ging am 24. August 2010 - verbunden mit einem Wiedereinsetzungsantrag - beim Oberlandesgericht ein.
Zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags ist darin ausgeführt: Die Berufungsschrift sei vom Prozessbevollmächtigten am 9. August 2010 diktiert und nach Fertigung des Diktats unterschrieben worden. Sie habe sodann an das Oberlandesgericht gefaxt werden sollen. Kurz zuvor sei die hiermit beauftragte Kanzleiangestellte von einem Bekannten abgeholt worden und habe angeboten, die Berufungsschrift mitzunehmen und direkt in den Briefkasten des Oberlandesgerichts einzuwerfen, da sie auf ihrem Wege ohnehin dort vorbeikäme. Hiermit sei der Prozessbevollmächtigte einverstanden gewesen. Die bis dahin stets verlässliche Angestellte, die schon mehrfach fristgebundene Schriftstücke zuverlässig zugestellt und allgemeine Post nach Feierabend in den Briefkasten eingeworfen habe, habe den Schriftsatz dann mitgenommen, den Einwurf jedoch vergessen. Dies habe sie dem Prozessbevollmächtigten am nächsten Morgen offenbart, als sie den Umschlag in ihrer Handtasche wiedergefunden habe.
Das Berufungsgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Rechtsbeschwerde.
II. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses, zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
1. Die nach den §§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 238 Abs. 2 Satz 1, 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist nach Wiedereinsetzung durch den Senat im Übrigen zulässig. Eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts ist nach § 574 Abs. 2 Nr. 2, 2. Alt. ZPO zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich. Die angefochtene Entscheidung verletzt die Verfahrensgrundrechte des Klägers auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) und auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG).
2. Die Rechtsbeschwerde ist begründet.
a) Das Berufungsgericht hat angenommen, dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers die Versäumung der Berufungsfrist verschuldet habe. Er habe erkennen müssen, dass der Umstand der Abholung durch einen Bekannten die Gefahr der Ablenkung seiner Angestellten von ihrer Aufgabe, die Berufungsschrift in den Gerichtsbriefkasten einzuwerfen, in sich geborgen habe. Es sei deshalb unbedingt erforderlich gewesen, die Angestellte ausdrücklich unter Hinweis auf den unmittelbar bevorstehenden Fristablauf zu ermahnen, sich auf den Einwurf der Berufungsschrift in den Briefkasten des Oberlandesgerichts zu konzentrieren, diese Handlung auf direktem Wege von der Kanzlei zum Gericht auszuführen und ihr höchste Priorität einzuräumen. Denn im Unterschied zu früheren Übermittlungshandlungen der Kanzleiangestellten sei die Situation dadurch geprägt gewesen, dass sie den Weg zum Briefkasten nicht allein beschritten, sondern sich in Begleitung einer kanzleifremden Person befunden habe, der die Bedeutung und Wichtigkeit der Berufungsfrist und ihrer Einhaltung nicht habe bekannt sein müssen. Hierdurch habe die Gefahr bestanden, dass sie sich durch außerberufliche Umstände, insbesondere private Unterhaltung, von der Aufgabe des Schriftsatzeinwurfs habe ablenken lassen können. Der Prozessbevollmächtigte habe auch weder seiner Angestellten aufgegeben, den erfolgten Einwurf in den Gerichtsbriefkasten telefonisch zu bestätigen, noch sie selbst telefonisch kontaktiert, um eine Überprüfung vorzunehmen.
b) Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Mit der Weisung des Prozessbevollmächtigten an seine bis dahin stets zuverlässige Angestellte, die Berufungsschrift auf dem Weg nach Hause in den Nachtbriefkasten des Gerichts einzuwerfen, war die Fristwahrung unter normalen Umständen gewährleistet. Er durfte auf die Befolgung dieser Einzelweisung vertrauen und musste nicht damit rechnen, dass seine Mitarbeiterin sie versehentlich nicht ausführt (vgl. BGH, Beschluss vom 20. April 2000 - VII ZB 11/00, VersR 2001, 214).
aa) Er war daher nicht verpflichtet, der zunächst vorgesehenen Übermittlung per Telefax den Vorzug zu geben. Soweit der angefochtene Beschluss auf diese Alternative hinweist, ist dem entgegenzuhalten, dass diese Möglichkeit die Wahl anderer ebenfalls zuverlässiger Übermittlungsarten nicht ausschließt. Dies gilt vor allem deshalb, weil sowohl aus der Senatspraxis als auch aus vielen veröffentlichten Entscheidungen bekannt ist, dass es auch bei einer Übermittlung per Telefax in Einzelfällen immer wieder zu Fehlern kommt (z.B. falsche Nummerneingabe, unvollständige Übermittlung usw.).
bb) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs darf der Anwalt zudem auf die Befolgung einer Einzelweisung durch eine bis dahin stets zuverlässige Büroangestellte vertrauen, wenn es um solche einfachen Angelegenheiten wie den Einwurf einer Postsendung in einen Gerichtsbriefkasten geht (BGH aaO). Der Senat hat insoweit bereits entschieden, dass es genügt, wenn die Kanzleiangestellte, die kurz vor Ablauf einer Frist mit der Beförderung des fristwahrenden Schriftsatzes beauftragt wird, über den drohenden Fristablauf und die Notwendigkeit der Fristwahrung unterrichtet ist (Senatsbeschluss vom 22. September 1977 - IV ZB 14/77, VersR 1977, 1099). Das war hier schon deshalb der Fall, weil die Angestellte den Auftrag erhielt, den Schriftsatz nicht mit der allgemeinen Gerichtspost abgehen zu lassen, sondern ihn nach Dienstschluss zum Gerichtsgebäude zu bringen und dort in den Nachtbriefkasten einzuwerfen (vgl. Senat aaO S. 1099 f.). Mit einem solchen Botengang dürfen sogar hinreichend erprobte und zuverlässige, aber in Bezug auf das Fristenwesen nicht besonders qualifizierte Kräfte betraut werden (Senatsbeschluss vom 13. Januar 1988 - IVa ZB 13/87, VersR 1988, 610 unter 1).
Eine Abweichung von diesen Grundsätzen ist nicht deshalb geboten, weil die Kanzleiangestellte auf dem Heimweg von einem Bekannten begleitet wurde. Umstände, die eine konkrete Ablenkungsgefahr begründen, hat das Berufungsgericht nicht festgestellt. Einen allgemeinen Erfahrungssatz, dass ansonsten zuverlässige Angestellte sich durch private Unterhaltungen von der Erledigung durch Einzelweisung erteilter Aufträge abhalten lassen, gibt es nicht.
cc) Durfte der Anwalt die Aufgabe, den Schriftsatz in den Nacht-briefkasten einzuwerfen, seiner Angestellten übertragen, weil er auf die Ausführung des Auftrags vertrauen durfte, so war er auch nicht gehalten, dessen Erfüllung nachträglich zu überprüfen - etwa durch telefonische Bestätigung oder Nachfrage. Die Annahme einer derartigen Kontrollpflicht widerspräche dem berechtigterweise in die Kanzleikraft gesetzten Vertrauen (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Juli 2007 - I ZB 100/06, NJW 2008, 587 Rn. 10).
Wendt Harsdorf-Gebhardt Dr. Karczewski
Lehmann Dr. Brockmöller