Entscheidungsdatum: 28.04.2010
Die Vergleichsrechnung nach § 31 EStG, bei der geprüft wird, ob das Kindergeld oder der Ansatz der Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG für den Steuerpflichtigen vorteilhafter ist, wird für jedes Kind einzeln durchgeführt. Dies gilt auch dann, wenn eine Zusammenfassung der Freibeträge für zwei und mehr Kinder wegen der Besteuerung außerordentlicher Einkünfte nach § 34 Abs. 1 EStG (sog. Fünftelregelung) günstiger wäre .
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) wurde für das Jahr 2000 (Streitjahr) zusammen mit seiner im Juni 2000 verstorbenen Ehefrau zur Einkommensteuer veranlagt. Für zwei seiner drei Töchter bezog er Kindergeld. Der Kläger, der als Architekt tätig gewesen war, erzielte im Streitjahr einen tarifbegünstigten Veräußerungsgewinn von 140.000 DM bei den Einkünften aus selbständiger Arbeit. Das zu versteuernde Einkommen belief sich auf 159.154 DM. Darin war der Veräußerungsgewinn enthalten, der nach § 34 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in der für das Jahr 2000 geltenden Fassung ermäßigt besteuert wurde. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) setzte bei der Vergleichsrechnung nach § 31 EStG für die zwei Töchter jeweils den (doppelten) Kinderfreibetrag von 6.912 DM nach § 32 Abs. 6 EStG an. Nach Hinzurechnung des im Jahr 2000 gezahlten Kindergeldes von 6.480 DM setzte es im Bescheid vom 12. November 2001 eine Steuer von 31.716 DM fest.
Aufgrund einer Mitteilung über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Einkünften aus einer Fondsbeteiligung erließ das FA unter dem Datum des 12. Februar 2003 einen nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung geänderten Einkommensteuerbescheid 2000. Es erhöhte die Einkünfte des Klägers aus Kapitalvermögen um 2.485 DM. Bei der Vergleichsrechnung nach § 31 EStG kam es nunmehr zu dem Ergebnis, dass das gezahlte Kindergeld für den Kläger günstiger sei als die Gewährung von Kinderfreibeträgen. Dabei fasste es die Kinderfreibeträge nicht zusammen, vielmehr führte es die Vergleichsrechnung für die beiden Töchter einzeln durch. Das FA setzte im Änderungsbescheid die Einkommensteuer auf 19.994,58 € (umgerechnet 39.106 DM) fest. Der Einspruch des Klägers war erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) gab der anschließend erhobenen Klage statt und setzte die Steuer auf (umgerechnet) 34.590 DM herab (Urteil vom 26. April 2007 3 K 60/07, Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2008, 625). Es führte im Wesentlichen aus, die Ansicht der Finanzverwaltung und die herrschende Ansicht in der Literatur, wonach sich aus dem Gesetzeswortlaut ergebe, dass die Vergleichsrechnung für jedes einzelne Kind vorzunehmen sei, führe nicht zu zutreffenden Ergebnissen. Sachgerecht sei nur eine Berechnung, bei der das Einkommen um die Kinderfreibeträge für beide Kinder vermindert und die dadurch bewirkte Minderung der Einkommensteuer dem gezahlten Kindergeld gegenübergestellt werde. Die vom FA angestellte Berechnung habe nicht nur eine Schlechterstellung zur Folge, sondern sogar eine verfassungswidrige Überbelastung. So habe eine Erhöhung der Einkünfte aus Kapitalvermögen um 2.485 DM eine zusätzliche Einkommensteuerbelastung von 7.390 DM ausgelöst.
Zur Begründung der Revision trägt das FA vor, aus der Formulierung in § 31 Satz 1 EStG, die steuerliche Freistellung eines Einkommensbetrags in Höhe des Existenzminimums "eines" Kindes werde entweder durch die Freibeträge oder das Kindergeld bewirkt, ergebe sich, dass bei der Günstigerprüfung stets auf das einzelne Kind abzustellen sei. Eine zusammengefasste Betrachtungsweise dergestalt, dass das Kindergeld für mehr als ein Kind ermittelt und mit der steuerlichen Wirkung der Kinderfreibeträge verglichen werde, sei nicht zulässig. Verfassungsrechtliche Bedenken wegen einer Übermaßbesteuerung bestünden nicht, weil die auf laufende Einkünfte entfallende Steuer nicht isoliert betrachtet werden dürfe.
Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er trägt vor, eine Einzelbetrachtung, die bei Anwendung der Fünftelregelung zu einer Ungünstigerprüfung führe, sei nicht gesetzlich vorgeschrieben.
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat zu Unrecht bei der Vergleichsrechnung nach § 31 EStG die für zwei Kinder des Klägers zu berücksichtigenden Kinderfreibeträge zusammengefasst und keine Einzelberechnung vorgenommen.
1. Nach § 31 Satz 1 EStG wird die steuerliche Freistellung eines Einkommensbetrags in Höhe des Existenzminimums eines Kindes einschließlich des Betreuungsbedarfs entweder durch die Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG oder durch das Kindergeld nach dem X. Abschnitt des EStG bewirkt. Für das Streitjahr 2000 wird ein Freibetrag von 3.456 DM für das sächliche Existenzminimum des Kindes (Kinderfreibetrag) sowie --unter weiteren, hier nicht vorliegenden Voraussetzungen-- ein Betreuungsfreibetrag von 1.512 DM gewährt. Die Freibeträge sind bei zusammen zur Einkommensteuer veranlagten Ehegatten zu verdoppeln (§ 32 Abs. 6 Satz 3 EStG).
a) Welche der beiden Alternativen des § 31 Satz 1 EStG im Einzelfall zutrifft, bestimmt sich nach § 31 Satz 4 EStG. Hiernach sind die Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG abzuziehen, wenn das Kindergeld die gebotene steuerliche Freistellung nicht in vollem Umfang bewirkt; in diesem Fall wird das gezahlte Kindergeld der Einkommensteuer hinzugerechnet (§ 36 Abs. 2 Satz 1 EStG). Die gebotene steuerliche Freistellung wird nicht in vollem Umfang bewirkt, wenn das Kindergeld geringer ist als die Entlastung, die bei Abzug der Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG eintritt.
b) Die Systematik des Gesetzes erfordert eine Vergleichsrechnung. Der Einkommensteuer, die sich nach Abzug der Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG ergibt, wird die Einkommensteuer gegenübergestellt, die bei einer Steuerfestsetzung ohne Abzug der Freibeträge anfällt. Ist die Differenz geringer als das Kindergeld, so scheidet ein Abzug der Freibeträge aus, der Familienleistungsausgleich wird durch das Kindergeld bewirkt. Wegen der Progressionswirkung des Steuertarifs kann die Vergleichsrechnung bei mehreren Kindern unterschiedlich ausfallen, wenn sie für jedes einzelne Kind, beginnend beim ältesten, gesondert durchgeführt wird. Die im Regelfall für den Steuerpflichtigen günstige Einzelbetrachtung wird auch von der Finanzverwaltung angestellt (Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 30. November 1995 IV B 5 -S 2282a- 438/95 II, BStBl I 1995, 805 Rz 7; R 31 Abs. 1 der Einkommensteuer-Richtlinien 2008).
2. Aus § 31 Satz 1 EStG und aus § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG ergibt sich, dass die Vergleichsrechnung für jedes Kind einzeln durchzuführen ist, beginnend beim ältesten. Nach § 31 Satz 1 EStG ist ein Einkommensbetrag in Höhe des Existenzminimums "eines" Kindes steuerlich freizustellen. Ebenso spricht der Wortlaut des § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG, wonach die Freibeträge "für jedes zu berücksichtigende Kind" des Steuerpflichtigen anzusetzen sind, gegen eine Zusammenfassung mehrerer Kinderfreibeträge (s. Schmidt/Loschelder, EStG, 29. Aufl., § 31 Rz 13; Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach, § 31 EStG Rz 34; Pust in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 31 EStG Rz 242; Jachmann, in: Kirchhof/Söhn/ Mellinghoff, EStG, § 31 Rz B 28; Plenker, Der Betrieb --DB-- 1996, 2095; i.E. ebenso Helmke in Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach A, I. Kommentierung, § 31 Rz 23; Seiler in Kirchhof, EStG, 9. Aufl., § 31 Rz 8; Dürr in Frotscher, EStG, 6. Aufl., Freiburg 1998 ff., § 31 Rz 46; Stache in Bordewin/Brandt, § 31 EStG Rz 33a; Leichtle, DB 1997, 1149; a.A. FG des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 14. Oktober 2002 1 K 925/98, EFG 2003, 169; FG München, Urteil vom 19. Juni 2008 15 K 4625/05, EFG 2008, 1460). Für ein Wahlrecht dahingehend, die für mehrere Kinder zu gewährenden Freibeträge zusammenzufassen, wenn dies bei Anwendung der sog. Fünftelregelung nach § 34 Abs. 1 EStG günstiger sein sollte, findet sich im Gesetz keine Stütze.
3. Der vom FG hervorgehobene Umstand, dass im Streitfall der Ansatz zusätzlicher Kapitaleinkünfte von 2.485 DM eine weitere Belastung mit Einkommensteuer von 7.390 DM bewirkt habe, ist kein ausreichender Grund, abweichend von den vorstehenden Ausführungen die Vergleichsrechnung nach § 31 EStG unter Zusammenfassung der Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG durchzuführen. Denn der starke Anstieg der Einkommensteuerbelastung, der durch zusätzliche, nicht nach § 34 EStG begünstigte Einkünfte oder durch den Wegfall von Abzugsbeträgen bewirkt wird, ist keine Besonderheit der Vergleichsrechnung. Er ist Folge der sog. Fünftelregelung in § 34 Abs. 1 EStG (ebenso Bozza-Bodden, Anm. in EFG 2008, 626).
Nach § 34 Abs. 1 Satz 2 EStG beträgt die für außerordentliche Einkünfte anzusetzende Einkommensteuer das Fünffache des Unterschiedsbetrags zwischen der Einkommensteuer für das um diese Einkünfte verminderte zu versteuernde Einkommen (verbleibendes zu versteuerndes Einkommen) und der Einkommensteuer für das verbleibende zu versteuernde Einkommen zuzüglich eines Fünftels dieser Einkünfte. Der aus dieser Art der Berechnung resultierende Vorteil ist umso größer, je geringer die nicht begünstigten Einkünfte sind (s.a. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 22. September 2009 IX R 93/07, BFHE 226, 510, BFH/NV 2010, 296). Die Erhöhung nicht begünstigter Einkünfte oder der Wegfall von Abzugsbeträgen bewirkt dementsprechend eine Minderung dieser (Über-)Begünstigung und einen starken Anstieg der Steuerprogression.
4. Entgegen der Rechtsansicht des Klägers und auch des FG führt der Ansatz der zusätzlichen Kapitaleinkünfte nicht zu einer verfassungswidrigen Besteuerung. Der von einigen Autoren (Jahndorf/Lorscheider, Finanz-Rundschau --FR-- 2000, 433; List, Betriebs-Berater 2003, 761; Siegel, Deutsches Steuerrecht --DStR-- 2007, 978; s.a. Henning/Hundsdoerfer/Schult, DStR 1999, 131; Birk/Kulosa, FR 1999, 433) angenommene Verstoß gegen den Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) oder gegen das Verbot einer konfiskatorischen Besteuerung (Art. 14 GG) lässt sich nur bei einer isolierten Betrachtung der nicht begünstigten Einkünfte begründen. Maßstab für die Gleich- oder Ungleichbehandlung zweier Steuerpflichtiger ist jedoch die Belastung des gesamten zu versteuernden Einkommens (BFH-Urteil vom 6. Dezember 2006 X R 22/06, BFH/NV 2007, 442, unter Hinweis auf Sieker, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 34 Rz A 102; ebenso Horn in Herrmann/Heuer/Raupach, § 34 EStG Rz 4). Entsprechendes gilt, wenn --wie im Streitfall-- eine konfiskatorische Besteuerung gerügt wird (s. BFH-Urteil in BFHE 226, 510, BFH/NV 2010, 296). Unabhängig hiervon ist die auf Antrag des Klägers durchgeführte Besteuerung der außerordentlichen Einkünfte nach § 34 Abs. 1 EStG trotz des Wegfalls der Kinderfreibeträge für ihn weitaus vorteilhafter als es eine Besteuerung sämtlicher Einkünfte mit dem normalen Steuertarif wäre.
5. Der im finanzgerichtlichen Verfahren gestellte Antrag des Klägers, ausländische Steuern von 622 DM nicht nach § 34c Abs. 1 EStG anzurechnen, sondern sie nach § 34c Abs. 2 EStG bei der Ermittlung der Einkünfte abzuziehen, führt nicht zu einer Herabsetzung der vom FA in Höhe von 19.994,58 € festgesetzten Steuer (umgerechnet 39.106 DM). Dies ergibt sich aus seiner dem FG mit Schreiben vom 5. April 2007 vorgelegten Berechnung, in der eine tarifliche Einkommensteuer von 39.404 DM ermittelt ist.