Entscheidungsdatum: 22.12.2011
1. NV: Eine Haushaltsaufnahme und ein Pflegekindschaftsverhältnis i.S. von § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG liegen nicht vor, wenn nicht die Pflegeperson das Pflegekind, sondern umgekehrt letzteres die Pflegeperson in seinen Haushalt aufgenommen hat.
2. NV: Eine gegen einen Kindergeld-Ablehnungsbescheid gerichtete Klage ist unzulässig, soweit sie die Zeit nach dem Monat der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung betrifft.
I. Der Kläger, Revisionskläger und Revisionsbeklagte (Kläger) lebt gemeinsam mit der am … 1968 geborenen G sowie mit deren am … 1977 geborenen Bruder H in einem Haus, das G und H im Juli 2004 gemietet hatten. G ist blind und zu 100 % behindert, H zu 70 %. Seit Januar 2008 sind der Kläger und G verheiratet.
Im September 2005 beantragte der Kläger die Gewährung von Kindergeld für G und H, da die beiden seine Pflegekinder seien. Die Beklagte, Revisionsbeklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) lehnte den Kindergeldantrag durch Bescheid vom 10. Januar 2006 ab, da kein Pflegekindschaftsverhältnis vorliege.
Der Einspruch des Klägers hatte keinen Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 12. Juni 2006). Das Finanzgericht (FG) gab der Klage teilweise statt (Entscheidungen der Finanzgerichte 2010, 225). Es verpflichtete die Familienkasse, Kindergeld für G für den Zeitraum September 2005 bis April 2006 und für H für den Zeitraum September 2005 bis Juni 2006 zu zahlen, im Übrigen wies es die Klage ab.
Das FG beurteilte die Klage als unzulässig, soweit sie den Zeitraum ab Juli 2006 betraf, da die Familienkasse insoweit keine Verwaltungsentscheidung getroffen habe und auch kein Vorverfahren stattgefunden habe.
Nach Ansicht des FG war die Klage insoweit begründet, als der Kläger Kindergeld für G für den Zeitraum September 2005 bis April 2006 und für H für den Zeitraum September 2005 bis Juni 2006 begehrte. Der Kläger sei mit G und H durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden. Ein familienähnliches Band mit bereits volljährigen Kindern könne angenommen werden, wenn ein geistig oder seelisch behinderter Volljähriger in seinen Fähigkeiten derart eingeschränkt sei, dass er ohne Pflegekindschaftsverhältnis in einem Heim leben müsste. Dies sei bei G anzunehmen. Ab Mai 2006 scheide ein Pflegekindschaftsverhältnis zu G allerdings aus, weil zwischen ihr und dem Kläger seit dem 1. Mai 2006 eine Partnerschaft bestanden habe, die später in eine Ehe übergegangen sei. Zu H bestehe ebenfalls ein familienähnliches Band, da dieser aufgrund seiner Behinderung nicht in der Lage sei, sich selbst zu unterhalten.
Zur Begründung der von ihm eingelegten Revision trägt der Kläger vor, die Klage sei insoweit zulässig, als er Kindergeld für den Zeitraum ab Juli 2006 begehre. Hierfür sprächen Gründe der Prozessökonomie. Kindergeld sei auch insoweit zu zahlen, als das FG einen Anspruch für G ab Mai 2006 verneint habe. Es entspreche nicht dem Willen des Gesetzgebers, bei einer partnerschaftlichen Beziehung stets ein Pflegekindschaftsverhältnis zu verneinen.
Der Kläger beantragt sinngemäß, unter Abänderung des angefochtenen Urteils, des Ablehnungsbescheides vom 10. Januar 2006 sowie der Einspruchsentscheidung vom 12. Juni 2006 die Familienkasse zu verpflichten, Kindergeld für G und H ab September 2005 bis Juni 2006 zu gewähren, sie außerdem zu verpflichten, über die Kindergeldanträge für die Monate Juli 2006 bis September 2009 für G und H unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden und die Revision der Familienkasse zurückzuweisen.
Die Familienkasse beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil insoweit aufzuheben, als es den Anspruch auf Kindergeld für G für den Zeitraum September 2005 bis April 2006 und für H für den Zeitraum September 2005 bis Juni 2006 betrifft, und die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Die Familienkasse trägt vor, zwischen dem Kläger sowie G und H bestehe kein familienähnliches Band. Ein solches wäre nur dann zu bejahen, wenn G und H in ihrer geistigen Entwicklung einem Kind gleichstünden. Dies sei bei beiden zu verneinen. G und H hätten rechtswirksam einen Mietvertrag über das Haus abgeschlossen, das sie später gemeinsam mit dem Kläger bewohnt hätten. Auch die Entwicklung der Beziehung zwischen G und dem Kläger spreche dafür, dass G nicht geistig und seelisch so eingeschränkt gewesen sei, dass sie einem Kind gleichgestanden habe. Auch zwischen dem Kläger und H bestehe kein familienähnliches Band. Mit einem Grad der Behinderung von 70 % sei er nicht derart eingeschränkt, dass er in seiner Entwicklung einem Kind gleichstehe.
II. Auf die Revision der Familienkasse wird das angefochtene Urteil insoweit aufgehoben, als es den Anspruch auf Kindergeld für G für den Zeitraum September 2005 bis April 2006 und für H für den Zeitraum September 2005 bis Juni 2006 betrifft. Insoweit wird die Klage abgewiesen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO). Die Revision des Klägers wird zurückgewiesen (§ 126 Abs. 2 FGO).
1. Die Revision der Familienkasse hat Erfolg, da das FG zu Unrecht der Ansicht war, der Kläger habe G und H als Pflegekinder in seinen Haushalt aufgenommen.
a) Kindergeld wird nach §§ 62 Abs. 1, 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG auch für Pflegekinder gewährt. Pflegekinder sind nach der gesetzlichen Definition des § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG Personen, mit denen der Steuerpflichtige durch ein familienähnliches, auf Dauer berechnetes Band verbunden ist, sofern er sie nicht zu Erwerbszwecken in seinen Haushalt aufgenommen hat und das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den Eltern nicht mehr besteht.
b) Das Gesetz verlangt die Aufnahme des Pflegekindes in den Haushalt des Steuerpflichtigen oder Kindergeldberechtigten. Dieser muss in einer eigenen Wohnung ein weitgehend selbstbestimmtes Leben führen und sich persönlich und finanziell an der Haushaltsführung beteiligen. Der Steuerpflichtige (Kindergeldberechtigte) muss Eigentum oder Besitz an der Wohnung haben (Dürr in Frotscher, EStG, Freiburg 2011, § 32 Rz 31).
c) Diese Voraussetzungen sind im Streitfall nicht gegeben. Die Wohnung, in welcher der Kläger sowie G und H lebten, hatten letztere bereits durch den Vertrag vom 1. Juli 2004 angemietet. Erst später, nach der Vermutung des FG im September 2005, zog der Kläger in diese Wohnung ein. Der Kläger hat somit nicht G und H in seinen Haushalt aufgenommen, vielmehr nahmen G und H den Kläger in ihren Haushalt auf, den sie zuvor begründet hatten.
2. Die Revision des Klägers ist unbegründet.
a) Soweit der Kläger hinsichtlich eines Kindergeldanspruchs für G für die Monate Mai und Juni 2006 unterlegen ist, ergibt sich aus den vorstehenden Ausführungen, dass ihm insoweit kein Kindergeld für G zusteht. Auf die Frage, ob eine "partnerschaftliche" Beziehung einem Pflegekindschaftsverhältnis entgegensteht, kommt es somit nicht an.
b) Zutreffend hat das FG die Klage insoweit als unzulässig abgewiesen, als sie die Zeit nach dem Monat der Einspruchsentscheidung (Juni 2006) betrifft. Insoweit ist der Kläger nicht klagebefugt i.S. von § 40 Abs. 2 FGO.
aa) Der angegriffene Ablehnungsbescheid vom 10. Januar 2006 und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom 12. Juni 2006 enthalten keine das Kindergeld ab Juli 2006 ablehnende Regelung. Denn die Familienkasse kann im Falle eines zulässigen, in der Sache aber unbegründeten Einspruchs gegen einen Ablehnungs- oder Aufhebungsbescheid längstens eine Regelung des Kindergeldanspruchs bis zu dem Ende des Monats der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung treffen (vgl. Senatsurteile vom 9. Juni 2011 III R 54/09, BFH/NV 2011, 1858; vom 4. August 2011 III R 71/10, BFHE 235, 203). Dieser zeitliche Regelungsumfang wird durch eine Klageerhebung nicht verändert. Insbesondere ist das gerichtliche Verfahren keine Fortsetzung des Verwaltungsverfahrens. Im Hinblick auf die von der Verfassung vorgegebene Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes) ist es die Aufgabe der Gerichte, das bisher Geschehene bzw. das Unterlassen auf seine Rechtmäßigkeit zu überprüfen, nicht jedoch, grundsätzlich der Verwaltung zustehende Funktionen auszuüben.
bb) Etwas anderes lässt sich auch nicht aus Gründen der Prozessökonomie vertreten.
Die vom Bundessozialgericht (BSG) für das sozialgerichtliche Verfahren abweichend vertretene Auffassung, wonach bei einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungs- (§ 54 Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes --SGG--) bzw. Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) gegen einen Verwaltungsakt, durch den die Gewährung laufender Zahlungen abgelehnt wird, auch über die nach der Widerspruchsentscheidung abgelaufenen Zeiträume zu entscheiden ist (vgl. BSG-Urteil vom 11. Dezember 2007 B 8/9b SO 12/06 R, SozR 4-3500 § 21 Nr. 1), ist auf das finanzgerichtliche Verfahren in Kindergeldsachen nicht übertragbar. Das BSG ging bei dieser Entscheidung davon aus, dass der im sozialgerichtlichen Verfahren angegriffene Bescheid die Leistung ohne zeitliche Begrenzung abgelehnt hat. Demgegenüber trifft ein Aufhebungs- oder Ablehnungsbescheid im Kindergeldrecht --auch wenn er keine ausdrückliche zeitliche Begrenzung enthält-- längstens eine Regelung des Kindergeldanspruchs bis zum Monat der Bekanntgabe der letzten Verwaltungsentscheidung.
Im finanzgerichtlichen Verfahren kann der Anspruch auf Kindergeld grundsätzlich nur in dem zeitlichen Umfang in zulässiger Weise zum Gegenstand einer Inhaltskontrolle gemacht werden, in dem die Familienkasse den Kindergeldanspruch geregelt hat. Gründe der Prozessökonomie oder der sozialen Fürsorge (s. BSG-Urteil vom 28. April 1960 8 RV 1341/58, BSGE 12, 127) rechtfertigen es nicht, eine Klage ohne das Vorliegen zwingender Sachurteilsvoraussetzungen als zulässig anzusehen (s. Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Januar 1986 5 C 36/84, Bayerische Verwaltungsblätter --BayVBl-- 1986, 406; vom 30. April 1992 5 C 1/88, BayVBl 1992, 760).
cc) Soweit die Senatsentscheidungen vom 2. Juni 2005 III R 66/04 (BFHE 210, 265, BStBl II 2006, 184) sowie vom 30. Juni 2005 III R 80/03 (BFH/NV 2006, 262) dahingehend verstanden werden könnten, dass die Finanzgerichte bei Klagen gegen Kindergeld-Ablehnungsbescheide die Anspruchsberechtigung bis zum Monat der finanzgerichtlichen Entscheidung zu prüfen haben, hält der Senat aufgrund der vorstehenden Erwägungen hieran nicht mehr fest.