Entscheidungsdatum: 09.06.2011
1. NV: Eine Bindungswirkung für die Zukunft haben nach der gesetzlichen Konzeption des § 70 Abs. 1 bis 3 EStG nur positive Kindergeldfestsetzungen .
2. NV: Über die in der Zukunft liegenden und damit zum Zeitpunkt der Entscheidung der Verwaltung noch nicht entstandenen Kindergeldansprüche kann der ablehnende Bescheid seinem Wesen nach noch keine Regelung treffen .
I. Der im Oktober 1985 geborene Sohn (S) des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) absolvierte von September 2002 bis Februar 2006 eine Ausbildung zum Mechatroniker. Auf den Antrag des Klägers auf Weiterbewilligung von Kindergeld lehnte die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) mit Bescheid vom 19. September 2003 die Weiterbewilligung von Kindergeld für die Zeit vom 1. November 2003 bis 28. Februar 2006 ab mit der Begründung, die Einkünfte und Bezüge des S überschritten den anteiligen Grenzbetrag von 1.198 € für 2003 und den Grenzbetrag von 7.188 € jährlich. Der Bescheid blieb unangefochten.
Am 22. Februar 2006 beantragte der Kläger, ihm für S rückwirkend ab November 2003 Kindergeld zu gewähren. Er verwies auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02 (BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260), nach dem die Sozialversicherungsbeiträge eines nichtselbständig beschäftigten Kindes nicht in dessen Einkünfte und Bezüge einbezogen werden dürfen. Mit Bescheid vom 22. Februar 2006 setzte die Familienkasse Kindergeld für S ab Februar 2006 fest und lehnte den Antrag im Übrigen ab. Sie führte aus, der bestandskräftige Bescheid vom 19. September 2003 sei lediglich ab Februar 2006 aufgrund geänderter Verhältnisse, der Meldung des S als arbeitslos, gemäß § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) zu ändern. Der Einspruch des Klägers blieb ohne Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Es entschied, der Bescheid vom 19. September 2003 sei eindeutig und beruhe erkennbar auf der Einschätzung, S werde im Regelungszeitraum die bescheinigte Ausbildung durchlaufen und die für den gesamten Zeitraum bescheinigten Ausbildungsvergütungen und Zusatzleistungen beziehen, so dass seine Einkünfte und Bezüge jeweils den Grenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG überschritten. Ob eine solche nicht nur auf einen längeren Zeitraum angelegte, sondern diesen Zeitraum auch regelnde Prognoseentscheidung rechtmäßig sei, wenn nach der gesetzlichen Konzeption des § 70 EStG nur positive Kindergeldfestsetzungen Bindungswirkung für die Zukunft hätten, könne dahinstehen. Jedenfalls erscheine sie nicht als nichtig. Eine Änderung des bestandskräftigen Ablehnungsbescheides nach § 70 Abs. 4 EStG sei nicht möglich, da der jeweilige (anteilige) Jahresgrenzbetrag allein deshalb unterschritten werde, weil sich hinsichtlich der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge die Rechtsauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG geändert habe.
Mit der vom FG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 70 Abs. 1 EStG. Über in der Zukunft liegende und damit zum Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht entstandene Kindergeldansprüche habe der Ablehnungsbescheid vom 19. September 2003 noch keine Regelung treffen können. Ihm komme daher unter Hinweis auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 25. Juli 2001 VI R 164/98 (BFHE 196, 257, BStBl II 2002, 89) keine in die Zukunft weisende Bindungswirkung zu.
Der Kläger beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil, den Ablehnungsbescheid vom 22. Februar 2006, soweit der Kindergeldantrag für S abgelehnt wurde, und die Einspruchsentscheidung vom 6. April 2006 aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, Kindergeld für S für den Zeitraum November 2003 bis Januar 2006 zu gewähren.
Die Familienkasse beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie nimmt auf die Vorentscheidung Bezug und führt aus, die getroffene Regelung sei anhand der vom Kläger eingereichten Unterlagen nachzuvollziehen.
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, des Bescheides vom 22. Februar 2006, soweit der Kindergeldantrag für S für die Monate November 2003 bis Januar 2006 abgelehnt wurde, und der dazu ergangenen Einspruchsentscheidung vom 6. April 2006, sowie zur Verpflichtung der Familienkasse, dem Kläger Kindergeld für S rückwirkend für die Zeit von November 2003 bis Januar 2006 zu gewähren (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO).
1. Der Kläger kann für den Streitzeitraum Kindergeld für S beanspruchen. Die Anspruchsvoraussetzungen der §§ 62 Abs. 1, 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a, Satz 2 EStG lagen vor, was zwischen den Beteiligten auch unstreitig ist.
2. Die Familienkasse hat sich zu Unrecht durch den Ablehnungsbescheid vom 19. September 2003 gebunden gesehen und dem Antrag des Klägers auf Kindergeld nur ab Februar 2006 --aufgrund geänderter Verhältnisse nach § 70 Abs. 2 EStG-- stattgegeben. Der Kläger hat auch Anspruch auf rückwirkende Festsetzung von Kindergeld für die Zeit von November 2003 bis Januar 2006.
a) Zwar hat die Familienkasse in ihrer Prognoseentscheidung die Höhe der Einkünfte und Bezüge des S, die für den Zeitraum November 2003 bis Februar 2006 zu erwarten waren, geprüft. Die Bindungswirkung des Ablehnungsbescheides vom 19. September 2003 beschränkt sich jedoch auf die Zeit bis zu dem Ende des Monats, in dem er bekannt gegeben wurde, im Streitfall bis zum Ende des Monats September 2003.
b) Eine Bindungswirkung für die Zukunft haben nach der gesetzlichen Konzeption des § 70 Abs. 1 bis 3 EStG nur positive Kindergeldfestsetzungen. Der Umfang der Bindungswirkung eines Ablehnungsbescheides ergibt sich aus seinem Regelungsgehalt. Er erschöpft sich in der Regelung des Anspruchs auf Kindergeld --auf der Grundlage der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Bescheiderteilung-- für den bis dahin abgelaufenen Zeitraum. Über die in der Zukunft liegenden und damit zum Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht entstandenen Kindergeldansprüche kann der ablehnende Bescheid seinem Wesen nach hingegen noch keine Regelung treffen. Eine in die Zukunft weisende Bindungswirkung kommt ihm demnach nicht zu (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Urteile vom 25. Juli 2001 VI R 78/98, BFHE 196, 253, BStBl II 2002, 88; in BFHE 196, 257, BStBl II 2002, 89; vom 28. Januar 2004 VIII R 12/03, BFH/NV 2004, 786; vom 15. März 2007 III R 51/06, BFH/NV 2007, 1484). Dieser Auffassung hat sich auch die Verwaltung angeschlossen (vgl. Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes 2009 DA 70.1 Abs. 2 Satz 2).