Entscheidungsdatum: 25.09.2014
1. NV: Der Anspruch auf Kindergeld wird nicht durch Art. 13ff der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 ausgeschlossen (std. Rspr.) .
2. NV: Ob für ein Kind im Ausland dem Kindergeld vergleichbare Leistungen gezahlt werden oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wären, hat das FG selbst zu entscheiden. Dazu hat es das maßgebende ausländische Recht von Amts wegen zu ermitteln und festzustellen. Der Kindergeldberechtigte braucht weder die einschlägigen Regelungen des ausländischen Rechts im Einzelnen darzulegen noch im Ausland einen Antrag auf Familienleistungen zu stellen, um eine Entscheidung der dortigen Behörde herbeizuführen .
3. NV: Hat die Familienkasse über den Kindergeldanspruch für eines von mehreren Kindern ausdrücklich nicht entschieden, so ist eine diesbezügliche Verpflichtungsklage unzulässig .
I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine polnische Staatsangehörige, lebt seit August 2005 in der Bundesrepublik Deutschland und ist hier selbständig tätig. Ihr Ehemann lebt und arbeitet in Polen. Für ihren im Februar 1999 geborenen älteren Sohn G bezog die Klägerin seit August 2005 Kindergeld. Für ihren im Juni 2006 geborenen jüngeren Sohn K beantragte sie im Dezember 2006 ebenfalls Kindergeld. Ausweislich einer Bescheinigung der ZUS (Sozialversicherungsanstalt in Polen) vom 22. Juni 2007 war die Klägerin dort zur verpflichtenden Gemeinschaftsversicherung gemeldet.
Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) hob die Festsetzung des Kindergeldes für den älteren Sohn G am 9. August 2007 nach § 70 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ab September 2007 wegen der Pflichtversicherung bei der ZUS auf. Die Entscheidung über den Kindergeldanspruch für den jüngeren Sohn K stellte sie wegen widersprüchlicher Angaben zur Frage, ob der Ehemann der Klägerin als Arbeitnehmer oder selbständig tätig sei, mit gesondertem Schreiben vom 9. August 2007 zurück.
Während des den Aufhebungsbescheid betreffenden Einspruchsverfahrens erhielt die Familienkasse am 8. August 2008 die weitere Auskunft der ZUS, dass die Klägerin seit April 2006 keinen Sozialversicherungen unterlegen habe, aber als Mitglied der Familie ihres Mannes im Sozialversicherungssystem angemeldet worden sei. Für den Zeitraum vom 1. September 2007 bis zum 31. Dezember 2008 war in Polen kein Antrag auf Familienleistungen gestellt worden.
Die Familienkasse wies den Einspruch gegen den Aufhebungsbescheid vom 9. August 2007 am 11. Dezember 2008 als unbegründet zurück. Die Klägerin unterliege, weil sie über ihren Ehemann in Polen pflichtversichert sei, den polnischen Rechtsvorschriften. Damit scheide ein Anspruch auf deutsches Kindergeld aus.
Das Finanzgericht (FG) wies die auf Kindergeld für beide Söhne ab September 2007 gerichtete Klage als unbegründet ab.
Die Klägerin rügt die Verletzung materiellen Rechts.
Die Klägerin beantragt sinngemäß, das FG-Urteil, den --den Sohn G betreffenden-- Aufhebungsbescheid vom 9. August 2007 und die Einspruchsentscheidung vom 11. Dezember 2008 aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, Kindergeld für den Sohn K ab September 2007 in gesetzlicher Höhe festzusetzen.
Die Familienkasse beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
II. Die Familienkasse … der Bundesagentur für Arbeit ist aufgrund eines Organisationsaktes (Beschluss des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit Nr. 21/2013 vom 18. April 2013 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff., Nr. 2.2 der Anlage 2) im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung der Agentur für Arbeit … (Familienkasse) eingetreten (s. dazu Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 3. März 2011 V B 17/10, BFH/NV 2011, 1105). Das Rubrum des Verfahrens ist daher entsprechend anzupassen.
III.
Die Revision ist hinsichtlich der Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für den älteren Sohn G begründet. Das FG-Urteil ist, soweit es G betrifft, aufzuheben und mangels Spruchreife an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG war zu Unrecht der Ansicht, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Kindergeld nach deutschen Rechtsvorschriften, weil entweder Polen zur Gewährung von Familienleistungen zuständig sei (dazu III.2.) oder weil § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG die Gewährung von Kindergeld ausschließe (dazu III.3.).
1. Die Voraussetzungen für einen Kindergeldanspruch der Klägerin nach § 62 und § 63 EStG liegen unstreitig vor; insoweit ist unerheblich, ob der ältere Sohn G im Inland oder --wie das FG festgestellt hat-- in Polen lebt (§ 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG). Damit stand der Klägerin im Grundsatz Kindergeld in voller Höhe zu (§ 66 Abs. 1 EStG).
2. Ein Anspruch auf Kindergeld wird nicht durch Art. 13 ff. der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (VO Nr. 1408/71) ausgeschlossen. Diese Bestimmungen entfalten keine unionsrechtlich begründete Sperrwirkung für die Anwendung des Rechts des nicht zuständigen Mitgliedstaats, so dass sich die Anspruchsberechtigung auch bei Personen und bei Leistungen, die dem persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 unterliegen, allein nach den Bestimmungen des deutschen Rechts richtet. Die gegenteilige Auffassung, die dem FG-Urteil zugrunde liegt und die auch der Senat in ständiger Rechtsprechung vertreten hatte, ist aufgrund des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union Hudzinski und Wawrzyniak, C-611/10, EU: C: 2012: 339 und C-612/10, EU: C: 2011: 72, vom BFH aufgegeben worden (BFH-Urteile vom 16. Mai 2013 III R 8/11, BFHE 241, 511, BStBl II 2013, 1040; vom 5. September 2013 XI R 52/10, BFH/NV 2014, 33; vom 30. Januar 2014 V R 38/11, BFH/NV 2014, 837). Dies gilt unabhängig davon, ob die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 ff. des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union --AEUV--) oder die Ausübung der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) in Rede steht (Senatsurteil vom 13. Juni 2013 III R 63/11, BFHE 242, 34, BStBl II 2014, 711). Es bedarf auch keines zusätzlichen Anwendungsbefehls, um trotz der sich aus der VO Nr. 1408/71 ergebenden Zuständigkeit eines ausländischen Mitgliedstaats die Anwendung deutschen Rechts zu ermöglichen (Senatsurteil in BFHE 241, 511, BStBl II 2013, 1040).
3. Das FG ist weiter zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Klage selbst ohne Berücksichtigung des Gemeinschaftsrechts wegen § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG unbegründet sei, weil die Klägerin in Polen einen Anspruch auf dem Kindergeld vergleichbare Leistungen gehabt habe.
a) Kindergeld wird nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG nicht gezahlt, wenn für das Kind im Ausland dem Kindergeld vergleichbare Leistungen gezahlt werden oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wären. Das FG ist daher verpflichtet, eine eigene Entscheidung darüber zu treffen, ob für ein Kind ein Anspruch auf Gewährung dem Kindergeld vergleichbarer Leistungen nach ausländischem Recht besteht (Senatsurteil in BFHE 242, 34, BStBl II 2014, 711).
Bei dieser Prüfung hatte das FG das maßgebende ausländische Recht gemäß § 155 FGO i.V.m. § 293 der Zivilprozessordnung von Amts wegen zu ermitteln und festzustellen. Der Kindergeldberechtigte braucht weder die einschlägigen Regelungen des ausländischen Rechts im Einzelnen darzulegen noch ist er verpflichtet, im Ausland einen Antrag auf Familienleistungen zu stellen, um eine Entscheidung der dortigen Behörde herbeizuführen. An die Ermittlungspflicht des Finanzgerichts sind umso höhere Anforderungen zu stellen, je komplexer das ausländische Recht im Vergleich zum eigenen ist; eine Entscheidung nach den Grundsätzen über die Feststellungslast ist in diesem Bereich ausgeschlossen.
Den für die Subsumtion unter das maßgebliche ausländische Recht entscheidungserheblichen Sachverhalt hatte das FG unter Beachtung der erweiterten Mitwirkungspflichten der Klägerin nach § 76 Abs. 1 Satz 4 FGO i.V.m. § 90 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) von Amts wegen zu ermitteln und festzustellen (Senatsurteil in BFHE 242, 34, BStBl II 2014, 711).
b) Dies ist im Streitfall jedoch nicht geschehen. Das Formular E 411, welches bescheinigte, dass in Polen keine Familienleistungen beantragt wurden und offen ließ, ob ein entsprechender Anspruch bestand, konnte das FG von seiner Prüfungspflicht nicht entbinden. Die Prüfung eines materiell-rechtlichen Anspruchs nach polnischem Recht hätte nur unterbleiben können, wenn eine dortige Behörde für den Streitzeitraum bereits entschieden hätte und dieser Entscheidung Bindungswirkung für die deutschen Behörden und Gerichte zukäme (vgl. dazu das Senatsurteil in BFHE 242, 34, BStBl II 2014, 711, Rz 30).
4. Der Senat kann aufgrund der vom FG getroffenen Feststellungen nicht über den Kindergeldanspruch der Klägerin entscheiden.
Nach den Feststellungen des FG war die Klägerin lediglich in Polen über ihren Ehemann versichert, so dass der persönliche Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 nicht eröffnet ist. Ihr Kindergeldanspruch hängt daher nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG davon ab, ob entweder sie oder eine dritte Person --insbesondere ihr Ehemann-- im streitigen Zeitraum von September 2007 bis Dezember 2008 einen Anspruch auf polnische Familienleistungen für G hatte. Im zweiten Rechtsgang wird zu prüfen sein, ob ein derartiger Anspruch bestand.
IV.
Soweit die Revision den Anspruch auf Kindergeld für den jüngeren Sohn K betrifft, ist sie unbegründet. Zwar ergeben die Entscheidungsgründe eine Verletzung des bestehenden Rechts, weil das FG zu Unrecht entweder eine Sperrwirkung der VO Nr. 1408/71 oder eine Ausschlusswirkung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG angenommen hat. Die Entscheidung stellt sich aber aus anderen Gründen als richtig dar. Die Revision ist deshalb nach § 126 Abs. 4 FGO mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass die Klage unzulässig ist (vgl. BFH-Urteil vom 7. Mai 2013 VIII R 17/09, BFH/NV 2013, 1581).
1. Die Klage war nicht unbegründet, sondern unzulässig.
Bei einer Klage, mit der die Festsetzung von Kindergeld begehrt wird, handelt es sich um eine Verpflichtungsklage (Senatsbeschluss vom 18. Februar 2014 III R 26/13, BFH/NV 2014, 878). Diese ist --vorbehaltlich der §§ 45 und 46 FGO-- nur zulässig, wenn zuvor der erstrebte begünstigende Verwaltungsakt abgelehnt und der dagegen eingelegte Einspruch zurückgewiesen wurde (§ 44 Abs. 1 FGO).
a) Im Streitfall hat die Familienkasse über den Kindergeldanspruch für den jüngeren Sohn K am 9. August 2007 ausdrücklich nicht entschieden, so dass es an einer Ablehnung des begehrten Verwaltungsaktes fehlt. Auch eine spätere Ablehnung der Festsetzung von Kindergeld für K ist aus der Kindergeldakte nicht ersichtlich. Die Einspruchsentscheidung vom 11. Dezember 2008 bezieht sich ebenfalls nur auf den Einspruch gegen die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung, die lediglich den älteren Sohn G betraf.
b) Eine Verpflichtungsklage (§ 40 Abs. 1 Halbsatz 2 FGO) ist als Untätigkeitsklage nach § 46 Abs. 1 Satz 1 FGO zwar auch zulässig, wenn über einen außergerichtlichen Rechtsbehelf ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes nicht in angemessener Zeit entschieden worden ist. Die Zulässigkeit einer Untätigkeitsklage setzt aber voraus, dass ein Verwaltungsakt erlassen und ein Rechtsbehelf eingelegt worden ist (Steinhauff in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 46 FGO Rz 82; Gräber/v. Groll, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 46 Rz 9).
An beidem fehlt es vorliegend. Die Klägerin hat insbesondere auch keinen --unbefristeten-- Untätigkeitseinspruch eingelegt (§ 347 Abs. 1 Satz 2 AO), denn in ihren Schreiben vom 31. Januar 2008 und vom 14. Februar 2008 wird zwar auf die lange Bearbeitungsdauer hingewiesen, aber nicht geltend gemacht, dass über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes nicht binnen angemessener Frist entschieden worden sei. Ein derartiger Grund lag zudem vor; die Familienkasse hatte die Klägerin am 6. Juni 2007 und am 9. Juli 2008 auf die noch ausstehende Antwort der ZUS hingewiesen. Die anwaltliche Aufforderung vom 13. Juni 2008 mahnt eine Entscheidung über den --die Aufhebung des Kindergeldes für den älteren Sohn G betreffenden-- Einspruch an und nicht die ausstehende Entscheidung über den Antrag auf Kindergeld für den jüngeren Sohn K.
c) Eine Untätigkeitssprungklage wird durch die Sonderregelung in § 46 FGO ausgeschlossen. Eine vor Erlass eines ablehnenden Verwaltungsaktes erhobene Sprungklage in der Form der sog. Vornahmeklage ist unheilbar unzulässig (Senatsurteil vom 19. Mai 2004 III R 18/02, BFHE 206, 201, BStBl II 2004, 980, unter II.2.d). Die Familienkasse hat zudem einer Verpflichtungsklage ohne Vorverfahren nicht innerhalb eines Monats nach Zustellung der Klageschrift zugestimmt (§ 45 Abs. 1 Satz 1 FGO).
2. Der Senat weist zur Klarstellung darauf hin, dass angesichts der insoweit unzulässigen Klage über den Antrag auf Kindergeld für den jüngeren Sohn K noch nicht materiell entschieden wurde.
V.
Die Kostenentscheidung wird dem FG übertragen (§ 143 Abs. 2 FGO).