Entscheidungsdatum: 30.01.2014
NV: Der inländische Kindergeldanspruch wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass Deutschland als Wohnsitzstaat im Hinblick auf die Gewährung von Familienleistungen nach der VO Nr. 1408/71 der an sich unzuständige Mitgliedstaat ist (Anschluss an BFH-Urteil vom 16. Mai 2013 III R 8/11, unter II.2.).
I. Streitig ist die Rechtmäßigkeit der Aufhebung einer Festsetzung von sog. Differenzkindergeld und die hierauf gestützte Rückforderung des Kindergeldes.
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), eine niederländische Staatsangehörige, hatte im Zeitraum von April 2005 bis Juni 2007 (Streitzeitraum) zusammen mit ihrem Ehemann und ihrem gemeinsamen minderjährigen Kind L (Kind) einen Wohnsitz im Inland. In dieser Zeit übte die Klägerin sowohl in der Bundesrepublik Deutschland --Deutschland-- (Inland) als auch in den Niederlanden eine selbständige Tätigkeit aus. Zudem ging sie in den Niederlanden aufgrund eines Arbeitsvertrags vom 31. März 2005 einer nicht selbständigen Tätigkeit nach. Der Vater erhielt im streitigen Zeitraum aufgrund seiner in den Niederlanden ausgeübten nichtselbständigen Tätigkeit für das Kind vierteljährlich eine niederländische Familienleistung ("Kinderbejslag") in Höhe von 285,01 € (monatlich 95 €). Zudem bezog die Klägerin in diesem Zeitraum im Inland für das Kind monatlich Kindergeld als Unterschiedsbetrag zum Kindergeld nach niederländischem Recht in Höhe von monatlich 59 €.
Mit Bescheid vom 1. September 2008 hob die frühere Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) die Kindergeldfestsetzung u.a. für das Kind für den Streitzeitraum auf und forderte das gezahlte Kindergeld in Höhe von 1.593 € (59 € für 27 Monate) zurück. Nach erfolglosem Einspruchsverfahren gab das Finanzgericht (FG) der dagegen gerichteten Klage durch Urteil aus den in Entscheidungen der Finanzgerichte 2011, 1004 veröffentlichten Gründen statt und hob den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 1. September 2008 sowie die Einspruchsentscheidung vom 26. September 2008 auf. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, dass die Voraussetzungen für einen inländischen Kindergeldanspruch nach § 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 des Einkommensteuergesetzes (EStG) vorlägen. Dieser Anspruch werde nicht verdrängt durch die ausschließliche Rechtszuständigkeit der Niederlande für Familienleistungen nach der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften --ABlEG-- 1997 Nr. L 149, S. 2) in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABlEG 1997 Nr. L 28, S. 1) geänderten und konsolidierten Fassung (VO Nr. 1408/71). Die Klägerin unterliege dem persönlichen Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71, weil sie in den Niederlanden sozialversichert gewesen sei. Wegen ihrer dort ausgeübten Erwerbstätigkeit seien nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 ausschließlich die Rechtsvorschriften des Beschäftigungsmitgliedstaates anwendbar, sodass der Anspruch auf Familienleistungen nach dem Recht der Niederlande bestehe. Da der inländische Kindergeldanspruch trotz der Rechtszuständigkeit der Niederlande nicht verdrängt werde (Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union --EuGH-- vom 20. Mai 2008 C-352/06, Bosmann, Slg. 2008, I-3827), müsse die Vervielfachung der Ansprüche nach der gemeinschaftsrechtlichen Antikumulierungsregelung des Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der VO Nr. 1408/71 --ABlEG 1997 Nr. L 28, S. 1-- (VO Nr. 574/72) vermieden werden. Danach ruhe der Kindergeldanspruch im Wohnsitzstaat bis zur Höhe der im Beschäftigungsstaat geschuldeten Familienleistung. Soweit dem Ehemann der Klägerin in den Niederlanden Kindergeld im Streitzeitraum (monatlich 95 €) gewährt worden sei, habe die Klägerin demnach einen inländischen (Differenz-)Kindergeldanspruch von monatlich 59 €.
Mit der Revision rügt die Familienkasse die Verletzung materiellen Rechts. Die Eröffnung des Anwendungsbereichs der VO Nr. 1408/71 führe im Streitfall --anders als vom FG angenommen-- zum Ausschluss des inländischen Kindergeldanspruchs. Zwar habe der EuGH durch das Urteil Bosmann in Slg. 2008, I-3827 entschieden, dass dem Bezug von Familienleistungen im Wohnsitzstaat die Eingliederung eines Wanderarbeitnehmers in das System der sozialen Sicherheit des Beschäftigungsmitgliedstaates nicht entgegenstehe. Dies komme aber nur dann in Betracht, wenn trotz der Rechtszuständigkeit des Beschäftigungsmitgliedstaats in diesem keine Familienleistungen gewährt würden (z.B. wegen Überschreitung einer Alters- oder Einkommensgrenze) und zugleich aber im Wohnsitzstaat ein Anspruch auf Kindergeld bestehe (Bundeszentralamt für Steuern vom 6. Mai 2009 St II 2-FG 2020-13/08, BStBl I 2009, 541). Im Streitfall habe jedoch ein Anspruch auf Familienleistungen im Beschäftigungsmitgliedstaat (Niederlande) bestanden und sei auch gewährt worden, so dass der inländische Kindergeldanspruch (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG) ausgeschlossen sei.
Die Familienkasse beantragt,
das Urteil des Niedersächsischen FG vom 21. Dezember 2011 12 K 414/08 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II. Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
1. Der während des Revisionsverfahrens durch den Beschluss des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit vom 18. April 2013 Nr. 21/2013 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes (Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff.) eingetretene Zuständigkeitswechsel auf die Beklagte führt zu einem gesetzlichen Beteiligtenwechsel (vgl. z.B. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 22. August 2007 X R 2/04, BFHE 218, 533, BStBl II 2008, 109, m.w.N.). Das Rubrum des Verfahrens ist deshalb zu ändern.
2. Das FG hat den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid für die Kindergeldfestsetzung April 2005 bis Juni 2007 vom 1. September 2008 sowie die Einspruchsentscheidung vom 26. September 2008 zu Recht aufgehoben. Die Klägerin hat für diesen Zeitraum einen Anspruch auf inländisches Differenzkindergeld in Höhe von monatlich 59 €.
a) Die im Inland wohnhafte Klägerin erfüllt, was zwischen den Beteiligten unstrittig ist, die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Kindergeld für ihr gleichfalls im Inland wohnendes und daher nach § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG i.V.m. § 32 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2, § 32 Abs. 3 EStG zu berücksichtigendes Kind. Darüber hinaus ist die Eröffnung des Anwendungsbereichs der VO Nr. 1408/71 sowie eine daraus resultierende Rechtszuständigkeit des Beschäftigungsmitgliedstaats (Niederlande) für Familienleistungen nicht im Streit.
b) Der inländische Kindergeldanspruch wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass Deutschland als Wohnsitzstaat im Hinblick auf die Gewährung der Familienleistungen der an sich unzuständige Mitgliedstaat ist (Art. 13 Abs. 2 Buchst. a, Art. 73 der VO Nr. 1408/71). Denn die ausschließliche Rechtszuständigkeit der Niederlande nach der VO Nr. 1408/71 entfaltet keine Sperrwirkung für die Anwendung des Rechts des nicht zuständigen Mitgliedstaats (Deutschland). Der III. Senat hat seine gegenteilige Ansicht aufgegeben (BFH-Urteil vom 16. Mai 2013 III R 8/11, BFHE 241, 511, BStBl II 2013, 1040, unter II.2.; zustimmend BFH-Urteile vom 11. Juli 2013 VI R 68/11, BFHE 242, 206, und vom 5. September 2013 XI R 52/10, BFH/NV 2014, 33, unter Rz 29). Der erkennende Senat schließt sich --im Hinblick auf die EuGH-Urteile Bosmann in Slg. 2008, I-3827, Rdnr. 33 und vom 12. Juni 2012 C-611/10, C-612/10, Hudzinski und Wawrzyniak (Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst --DStRE-- 2012, 999, Rdnrn. 56 f.)-- der geänderten Auffassung aus den im Urteil des BFH in BFHE 241, 511, BStBl II 2013, 1040, unter II.2. genannten Gründen an.
c) Entgegen der Ansicht der Familienkasse ist der inländische Kindergeldanspruch auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil im Streitfall ein Anspruch auf Familienleistungen im zuständigen Mitgliedstaat (Niederlande) bestanden hat. Unter Berücksichtigung des EuGH-Urteils Hudzinski und Wawrzyniak in DStRE 2012, 999, Rdnr. 68 ist das EuGH-Urteil Bosmann in Slg. 2008, I-3827, Rdnr. 33 nicht in dem Sinne zu verstehen, dass der nicht zuständige Mitgliedstaat (hier: Deutschland) nur dann Familienleistungen zu erbringen hat, wenn im zuständigen Mitgliedstaat (hier: Niederlande) der Anspruch auf Familienleistungen ausgeschlossen ist (z.B. wegen Überschreitung einer Alters- oder Einkommensgrenze). Dem hat sich zwischenzeitlich auch die Verwaltung angeschlossen (vgl. Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes, Abschn. 65.2 Abs. 2 Satz 4 --Stand 2013--).
d) Allerdings beschränkt sich der Anspruch auf Kindergeld für das Kind im Streitzeitraum auf monatlich 59 €. Das FG geht zu Recht davon aus, dass die Konkurrenz zwischen der niederländischen und der inländischen Familienleistung nicht nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG, sondern nach der vorrangig anzuwendenden gemeinschaftsrechtlichen Antikumulierungsregelung des Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 574/72 aufzulösen ist (vgl. dazu EuGH-Urteil Hudzinski und Wawrzyniak in DStRE 2012, 999, Rdnrn. 73 f.; BFH-Urteil vom 18. Juli 2013 III R 51/09, BFH/NV 2013, 1973, Rz 19 f.). Danach ruht der inländische Kindergeldanspruch der Klägerin, dessen Gewährung im Inland nicht von einer Versicherung, Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit abhängig ist, nur bis zur Höhe der in den Niederlanden für denselben Zeitraum (April 2005 bis Juni 2007) und für dasselbe Kind geschuldeten Familienleistungen. Daher ruht im Streitzeitraum der inländische Kindergeldanspruch (monatlich 154 €) in Höhe der vierteljährlich dem Ehemann der Klägerin gewährten niederländischen Familienleistung ("Kinderbejslag") von 285,01 € (monatlich 95 €).
3. Sollte das Begehren der Klägerin im Revisionsverfahren darauf gerichtet sei, einen Anspruch über das Differenzkindergeld hinaus auf volles Kindergeld in Höhe von monatlich 154 € zu haben, könnte der erkennende Senat darüber aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht entscheiden. Aus dem Zweck des Revisionsverfahrens folgt nämlich, dass das Revisionsbegehren nicht über das Klagebegehren hinausgehen darf (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl. 2010, § 120 Rz 56). Im Klageverfahren hatte sich die Klägerin mit ihrer Anfechtungsklage aber ausschließlich gegen die Höhe des aufgehobenen Differenzkindergeldes (monatlich 59 €) gewandt, ohne darüber hinaus zugleich volles Kindergeld zu begehren.