Entscheidungsdatum: 19.04.2012
NV: Es besteht keine Rechtsgrundlage dafür, bei der Vergleichsrechnung nach § 31 EStG die für mehrere Kinder zu gewährenden Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG zusammenzufassen, wenn dies wegen der Besteuerung außerordentlicher Einkünfte nach § 34 Abs. 1 EStG (sog. Fünftelregelung) günstiger wäre. Auch in diesem Fall wird die Vergleichsrechnung für jedes Kind einzeln durchgeführt (Anschluss an Senatsurteil vom 28. April 2010 III R 86/07, BFHE 230, 294, BStBl II 2011, 259).
I. Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) wurden im Jahr 2003 (Streitjahr) zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Sie bezogen für ihre beiden minderjährigen Kinder für das gesamte Streitjahr Kindergeld. Der Kläger erzielte u.a. gewerbliche Einkünfte aus Beteiligungen in Höhe von ./. 27.666 € und aus einem tarifbegünstigten --nach § 34 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes in der für das Streitjahr maßgeblichen Fassung (EStG) ermäßigt zu besteuernden-- Veräußerungsgewinn in Höhe von 25.091 €. Das zu versteuernde Einkommen der Kläger belief sich auf 49.030 €. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) berücksichtigte in der Einkommensteuerfestsetzung für 2003 für die beiden Kinder keine Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG, weil die gebotene steuerliche Freistellung des Existenzminimums der Kinder über das ausgezahlte Kindergeld bewirkt worden sei. Die Einkommensteuer wurde auf 8.508 € festgesetzt. Bei der Festsetzung des Solidaritätszuschlags für 2003 wurden die genannten Freibeträge abgezogen.
Mit dem gegen die Einkommensteuerfestsetzung für 2003 eingelegten Einspruch begehrten die Kläger den Abzug der Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG, weil sich hierdurch --nach Hinzurechnung des ausbezahlten Kindergeldes-- lediglich eine festzusetzende Einkommensteuer in Höhe von 6.747 € ergebe. Der Einspruch blieb erfolglos.
Die von den Klägern gegen die Festsetzung der Einkommensteuer und des Solidaritätszuschlags für 2003 erhobene Klage war hinsichtlich der Einkommensteuer, nicht aber hinsichtlich des Solidaritätszuschlags erfolgreich. Das Finanzgericht (FG) änderte die Einkommensteuerfestsetzung für 2003 mit der Maßgabe, dass die Freibeträge gemäß § 32 Abs. 6 EStG in Höhe von 11.616 € vom Einkommen abgezogen und das ausgezahlte Kindergeld in Höhe von 3.696 € der tariflichen Einkommensteuer hinzugerechnet wurden (Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2008, 1460). Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, dass sich die von der Finanzverwaltung (R 175 Abs. 1 der Einkommensteuer-Richtlinien --EStR-- 2003) praktizierte Günstigerprüfung, wonach bei mehreren Kindern die Vergleichsrechnung für jedes Kind einzeln durchzuführen sei, nur bei ausschließlicher Anwendung des Grund- oder Splittingtarifs als richtig erweise. Etwas anderes könne sich bei Hinzutreten der Tarifvergünstigung nach § 34 Abs. 1 EStG ergeben. Dementsprechend sei im Streitfall die kumulative Gewährung der Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG unter Hinzurechnung des ausgezahlten Kindergeldes für die Kläger vorteilhafter als die Einzelbetrachtung.
Zur Begründung der auf die Einkommensteuer für 2003 beschränkten Revision trägt das FA vor, die vom FG befürwortete Gesamtbetrachtung könne --wie die beigefügte Beispielsberechnung zeige-- in bestimmten Fällen trotz ausschließlicher Anwendung des Grund- oder Splittingtarifs gegenüber der Einzelbetrachtung nachteilig sein. Schon deshalb sei die Vergleichsrechnung für jedes Kind einzeln durchzuführen. Diese Berechnungsmethode sei aber auch im Falle des Zusammentreffens laufender Einkünfte mit solchen nach § 34 Abs. 1 EStG anzuwenden, weil die eintretenden "Übereffekte" eine ausschließliche Folge des § 34 Abs. 1 EStG seien. Die Auslegung des FG lasse sich auch nicht unter dem Aspekt einer verfassungskonformen Auslegung aufrechterhalten, da sie lediglich der Optimierung eines rechnerischen Effekts in einer konkret bestimmbaren Gruppe von Sonderfällen diene.
Während des Revisionsverfahrens ergingen infolge zweier geänderter Gewinnfeststellungsbescheide (Grundlagenbescheide) zwei Einkommensteuer-Änderungsbescheide für 2003, die jeweils zu einer Korrektur der beim Kläger angesetzten gewerblichen Einkünfte aus Beteiligungen führten. In dem ersten Änderungsbescheid für 2003 vom 25. Oktober 2010 wurden die von den Klägern begehrten Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG abgezogen. Daraufhin ordnete der Senat mit Beschluss vom 2. Mai 2011 das Ruhen des Verfahrens an, weil der die Korrektur auslösende Gewinnfeststellungsbescheid angefochten worden war. Der zweite Änderungsbescheid vom 3. Januar 2012, dem nunmehr der in Bestandskraft erwachsene Gewinnfeststellungsbescheid zugrunde lag, berücksichtigte hingegen keine Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG mehr, weil --wie im ursprünglich angegriffenen Einkommensteuerbescheid für 2003 vom 14. April 2005-- die gebotene steuerliche Freistellung des Existenzminimums der Kinder über das ausgezahlte Kindergeld bewirkt worden sei. Der zweite Änderungsbescheid unterschied sich von dem Einkommensteuerbescheid für 2003 vom 14. April 2005 allein darin, dass der Verlust des Klägers aus den gewerblichen Beteiligungseinkünften um 65 € erhöht wurde. Danach belief sich das zu versteuernde Einkommen der Kläger nunmehr auf 48.965 €. Das FA setzte die Einkommensteuer auf 8.490 € fest. Der Senat hat das Verfahren zwischenzeitlich wieder fortgesetzt.
Das FA beantragt sinngemäß, das Urteil des FG hinsichtlich der Einkommensteuer für 2003 aufzuheben und die Klage auch insoweit abzuweisen.
Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
II. Die Revision ist begründet. Sie führt hinsichtlich der angegriffenen Einkommensteuerfestsetzung 2003 zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage auch insoweit (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO).
1. Das Urteil des FG ist bereits aus verfahrensrechtlichen Gründen aufzuheben. Da während des Revisionsverfahrens Änderungsbescheide ergangen sind, ist das Urteil gegenstandslos geworden (z.B. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 10. November 2004 XI R 30/04, BFHE 208, 194, BStBl II 2005, 274, m.w.N.). Einer Zurückverweisung an das FG nach § 127 FGO bedarf es jedoch nicht, weil sich im Ergebnis durch die Änderungen nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung der bisherige Streitstoff nicht verändert hat.
Der Senat entscheidet über den gemäß § 68 Satz 1 i.V.m. § 121 Satz 1 FGO zum Gegenstand des Revisionsverfahrens gewordenen Einkommensteuerbescheid vom 3. Januar 2012.
2. Die Revision ist auch in der Sache begründet. Zu Unrecht hat das FG bei der Vergleichsrechnung nach § 31 EStG die für zwei Kinder der Kläger zu berücksichtigenden Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG zusammengefasst und keine Einzelberechnung vorgenommen.
a) Nach § 31 Satz 1 EStG wird die steuerliche Freistellung eines Einkommensbetrags in Höhe des Existenzminimums eines Kindes einschließlich der Bedarfe für Betreuung und Erziehung oder Ausbildung entweder durch die Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG oder durch das Kindergeld nach dem X. Abschnitt des EStG bewirkt.
Welche der beiden Alternativen des § 31 Satz 1 EStG im Einzelfall zutrifft, bestimmt sich nach § 31 Satz 4 EStG. Hiernach sind die Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG abzuziehen, wenn das Kindergeld die gebotene steuerliche Freistellung nicht in vollem Umfang bewirkt; in diesem Fall wird das gezahlte Kindergeld der Einkommensteuer hinzugerechnet (§ 36 Abs. 2 Satz 1 EStG). Die gebotene steuerliche Freistellung wird nicht in vollem Umfang bewirkt, wenn das Kindergeld geringer ist als die Entlastung, die bei Abzug der Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG eintritt. Die Systematik des Gesetzes erfordert daher eine Vergleichsrechnung. Bei mehreren zu berücksichtigenden Kindern stellt sich die Frage, ob die Vergleichsrechnung für jedes Kind einzeln (Einzelbetrachtung) oder für alle Kinder gemeinsam unter Zusammenfassung aller Freibeträge und Hinzurechnung des gesamten Kindergeldes (Gesamtbetrachtung) durchzuführen ist.
b) Der Senat hat in seinem Urteil vom 28. April 2010 III R 86/07 (BFHE 230, 294, BStBl II 2011, 259) die im Regelfall für den Steuerpflichtigen günstigere Einzelbetrachtung als die gesetzlich vorgegebene Berechnungsmethode qualifiziert. Diese Auffassung wird auch nahezu einhellig in der Literatur (vgl. Schmidt/Loschelder, EStG, 31. Aufl., § 31 Rz 13; Blümich/Selder, § 31 EStG Rz 43; Pust in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 31 EStG Rz 242; Jachmann, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 31 Rz B 28; Seiler in Kirchhof, EStG, 11. Aufl., § 31 Rz 8; Dürr in Frotscher, EStG, Freiburg 2011, § 31 Rz 46; Stache in Bordewin/Brandt, § 31 EStG Rz 33a; i.E. ebenso Helmke in Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach A, I. Kommentierung, § 31 Rz 23; Plenker, Der Betrieb --DB-- 1996, 2095; Leichtle, DB 1997, 1149; Kanzler in Herrmann/ Heuer/Raupach, § 31 EStG Rz 33; a.A. FG des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 14. Oktober 2002 1 K 925/98, EFG 2003, 169) und von der Finanzverwaltung (Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 18. Dezember 1995 IV B 5 -S 2282a- 438/95 II, BStBl I 1995, 805 Rz 7; R 31 Abs. 1 EStR 2008) vertreten. Zugleich hat sich der Senat in seinem Urteil in BFHE 230, 294, BStBl II 2011, 259 gegen ein Wahlrecht entschieden, die für mehrere Kinder zu gewährenden Freibeträge zusammenzufassen, wenn dies bei Anwendung der sog. Fünftelregelung nach § 34 Abs. 1 EStG günstiger sein sollte. Wegen der Einzelheiten wird auf das genannte Senatsurteil verwiesen.
c) Hieran hält der Senat fest. Die Vergleichsrechnung ist auch dann für jedes Kind einzeln durchzuführen, wenn bei Anwendung des § 34 Abs. 1 EStG die zusammengefasste Gewährung der Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG vorteilhafter sein sollte.
aa) Abweichendes ergibt sich nicht aus dem von dem FG und den Klägern hervorgehobenen Gesichtspunkt, die Beschränkung der Günstigerprüfung nach § 31 Satz 4 EStG auf die Einzelbetrachtung bedürfe bei Anwendung des § 34 Abs. 1 EStG einer gesetzlichen Regelung. Vielmehr ergibt sich aus § 31 Satz 1 EStG und § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG, dass die Vergleichsrechnung für jedes Kind einzeln durchzuführen ist. Daher bedürfte umgekehrt das vom FG im Ergebnis bejahte --von der gesetzlich normierten Berechnungsmethode abweichende-- (Wahl)Recht einer Stütze im Gesetz. Hierfür finden sich aber keine Anhaltspunkte.
bb) Das vom FG angenommene Wahlrecht lässt sich auch nicht mittels einer verfassungskonformen Auslegung des § 31 Sätze 1 und 4 EStG sowie des § 32 Abs. 6 EStG rechtfertigen.
Eine verfassungskonforme Auslegung kommt in Betracht, wenn die Rechtsnorm nach den herkömmlichen Auslegungsregeln mehrere Interpretationen zulässt, von denen eine mit der Verfassung übereinstimmt, wohingegen andere zu einem verfassungswidrigen Ergebnis führen (z.B. Senatsurteil vom 12. Dezember 2002 III R 33/01, BFHE 201, 379, BStBl II 2003, 322).
Ein hierauf gestütztes Wahlrecht scheitert aber schon daran, dass § 31 EStG hinsichtlich der Frage, nach welcher Methode die Vergleichsrechnung durchzuführen ist, nicht mehrere Vorgehensweisen zulässt. Vielmehr geben die maßgeblichen gesetzlichen Vorschriften (§ 31 Sätze 1 und 4, § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG) die Einzelbetrachtung vor. Die verfassungskonforme Auslegung ist kein Mittel, ein in einzelnen Fällen als unbefriedigend erachtetes --ggf. als verfassungswidrig anzusehendes-- Gesetz zu optimieren (vgl. dazu Drüen in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 4 AO Rz 239b).
d) Schließlich hat der Senat bereits in seinem Urteil in BFHE 230, 294, BStBl II 2011, 259 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BFH dargelegt, dass die Einzelbetrachtung bei Anwendung des § 34 Abs. 1 EStG zu keiner verfassungswidrigen Besteuerung führt. Die hieran in der Literatur geäußerte Kritik (vgl. Siegel, Deutsche Steuer-Zeitung 2010, 859, 865 f.) enthält keine neuen rechtlichen Gesichtspunkte, die der Senat bei seiner Entscheidung noch nicht geprüft hat. Er hält daher auch an der Auffassung fest, dass der durch § 34 Abs. 1 EStG ausgelöste Anstieg der Steuerprogression weder gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes --GG--) noch gegen das Verbot konfiskatorischer Besteuerung (Art. 14 Abs. 1 GG) verstößt.