Entscheidungsdatum: 28.04.2016
1. NV: Auch bei nicht verheirateten, getrennt lebenden Eltern kann der nach nationalem Recht bestehende Kindergeldanspruch des in Deutschland lebenden Elternteils für das in Polen im Haushalt des anderen Elternteils lebende Kind nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG i.V.m. Art. 67 der VO Nr. 883/2004, Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 durch den vorrangigen Kindergeldanspruch des anderen Elternteils verdrängt werden .
2. NV: Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 schafft eine gesetzliche Fiktion dahingehend, dass bei Anwendung der Koordinierungsregelungen der Grundverordnung die Situation der gesamten Familie in einer Weise berücksichtigt wird, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des für die Gewährung von Familienleistungen zuständigen Mitgliedstaats fallen und dort wohnen .
3. NV: Hat der Kindsvater zur Kindsmutter keinen Kontakt, folgt aus der Fiktionswirkung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 nicht das Bestehen eines gemeinsamen Haushalts i.S. des § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG .
4. NV: Ein Klageverfahren wird nicht gemäß § 155 FGO i.V.m. § 240 ZPO aufgrund der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Klägers unterbrochen, wenn es in dem Klageverfahren um einen Anspruch auf Kindergeld und nicht etwa um die Rückzahlung von bereits ausgezahltem Kindergeld geht (vgl. Rechtsprechung und Literatur) .
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 14. August 2013 2 K 4354/10 Kg aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) lebt in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) und hat die deutsche Staatsbürgerschaft. Er ist Vater einer im August 2006 geborenen Tochter (T), die in Polen bei ihrer Mutter wohnt. Diese hat dort keinen Antrag auf polnische Familienleistungen gestellt. Der Kläger hat keinen Kontakt zur Kindsmutter. Er war in Deutschland nicht erwerbstätig, sondern bezog Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch.
Der Kläger erhielt für T zunächst Kindergeld. Durch Bescheid vom 20. Oktober 2010 hob die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) die Festsetzung ab Mai 2010 auf, weil die Kindsmutter vorrangig anspruchsberechtigt sei. Ab Mai 2010 erhielt der Kläger kein Kindergeld mehr ausgezahlt. Der gegen den Aufhebungsbescheid gerichtete Einspruch hatte keinen Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 9. November 2010).
Im Verlauf des anschließenden Klageverfahrens wurde über das Vermögen des Klägers das Insolvenzverfahren eröffnet. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt und hob den Aufhebungsbescheid sowie die Einspruchsentscheidung auf. Es war der Ansicht, der Anspruch auf Kindergeld stehe auch ab Mai 2010 dem Kläger und nicht der in Polen lebenden Kindsmutter zu. Aus Art. 68 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union --AblEU-- 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung (VO Nr. 883/2004 --Grundverordnung--) sowie aus Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der dazu ergangenen Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (AblEU 2009 Nr. L 284, S. 1) --VO Nr. 987/2009 (Durchführungsverordnung)-- ergebe sich nicht, dass die Kindsmutter vorrangig anspruchsberechtigt sei.
Gegen das Urteil richtet sich die Revision der Familienkasse. Zur Begründung trägt sie vor, nach § 64 Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes in der für das Jahr 2010 geltenden Fassung (EStG) sei die Kindsmutter vorrangig kindergeldberechtigt, denn es sei gemäß Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 883/2004 zu unterstellen, dass sie zusammen mit T in Deutschland in einem eigenen Haushalt lebe.
Die Familienkasse beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Durch Beschluss vom 12. Januar 2015 hat der Senat gemäß § 155 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. § 251 Satz 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) das Ruhen des Revisionsverfahrens bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) über das Vorabentscheidungsersuchen vom 8. Mai 2014 III R 17/13 (BFHE 245, 522, BStBl II 2015, 329) angeordnet. Der EuGH hat mit Urteil vom 22. Oktober 2015 C-378/14 (EU:C:2015:720, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst --DStRE-- 2015, 1501) in der Rechtssache Trapkowski über die Vorlagefragen entschieden.
II. A. Das Verfahren wurde nicht gemäß § 155 FGO i.V.m. § 240 ZPO aufgrund der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Klägers unterbrochen.
Eine Unterbrechung setzt voraus, dass das Verfahren die Insolvenzmasse betrifft (Senatsbeschluss vom 22. November 2012 III B 73/11, BFH/NV 2013, 246). Dies trifft hier nicht zu. Das Kindergeld für die Zeit ab Mai 2010 wurde nicht mehr an den Kläger ausgezahlt. Es geht somit um einen Anspruch auf Kindergeld und nicht etwa um die Rückzahlung von bereits ausgezahltem Kindergeld (vgl. hierzu Senatsbeschluss in BFH/NV 2013, 246). Ein Anspruch auf Kindergeld ist gemäß § 76 EStG in nur sehr eingeschränktem Umfang pfändbar und fällt damit nach §§ 35 Abs. 1, 36 der Insolvenzordnung nicht in die Insolvenzmasse (s. FG München vom 19. September 2007 9 K 4047/06, Entscheidungen der Finanzgerichte 2008, 462; Keller in Kayser/ Thole, Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 8. Aufl., § 36 Rz 76). Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens hatte somit keine verfahrensrechtlichen Konsequenzen.
B. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO). Das FG hat zu Unrecht entschieden, dass der Anspruch auf Kindergeld (vorrangig) dem Kläger zusteht. Dieser ist zwar nach nationalem Recht anspruchsberechtigt (§§ 62 ff. EStG). Allerdings führt die Anwendung von Unionsrecht dazu, dass die Kindsmutter gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig anspruchsberechtigt ist.
1. Der Kläger erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 EStG. Dies wurde --für den Senat bindend (§ 118 Abs. 2 FGO)-- vom FG festgestellt und ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig. Es ist für den Ausgang des Verfahrens nicht erheblich, dass T ihren Wohnsitz in Polen hat (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG).
2. Allerdings ist die Kindsmutter nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig anspruchsberechtigt, weil sie T in ihren Haushalt aufgenommen hat und gemäß Art. 67 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 zu unterstellen ist, dass sie mit T in Deutschland wohnt.
a) Nach § 64 Abs. 1 EStG wird das Kindergeld nur einem Berechtigten gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG).
b) Im Streitfall ergibt sich die Anspruchsberechtigung der Kindsmutter aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Zwar liegt der nach dieser Vorschrift erforderliche Inlandswohnsitz tatsächlich nicht vor, es finden jedoch die Vorschriften der VO Nr. 883/2004 und der VO Nr. 987/2009 Anwendung. Dadurch wird gemäß Art. 67 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ein Inlandswohnsitz der Kindsmutter fingiert. Zudem erfüllt die Kindsmutter auch die übrigen Voraussetzungen für eine vorrangige Anspruchsberechtigung.
3. Der Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 ist im Streitfall eröffnet und Deutschland ist der zuständige Mitgliedstaat.
a) Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 in deren persönlichen Anwendungsbereich. Das Kindergeld ist eine Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004, weshalb auch der sachliche Anwendungsbereich eröffnet ist (Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004).
b) Nach Art. 11 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 unterliegen die von dieser Verordnung erfassten Personen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Im Streitfall ergibt sich die Anwendung der deutschen Rechtsvorschriften jedenfalls aus Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der VO Nr. 883/2004.
4. Aus Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 folgt, dass die Wohnsituation der Kindsmutter fiktiv in das Inland zu übertragen ist.
a) Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist bei Anwendung von Art. 67 und 68 der VO Nr. 883/2004, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen. Nach Art. 67 der VO Nr. 883/2004 hat eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als würden die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen. Danach schafft Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 eine gesetzliche Fiktion dahingehend, dass bei Anwendung der Koordinierungsregelungen der Grundverordnung die Situation der gesamten Familie in einer Weise berücksichtigt wird, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des für die Gewährung von Familienleistungen zuständigen Mitgliedstaats fallen und dort wohnen.
b) Art. 67 der VO Nr. 883/2004 ist ungeachtet dessen anwendbar, dass es bereits nach nationalem Recht (§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 3 EStG) nicht darauf ankommt, ob das Kind seinen Wohnsitz im Inland oder in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union hat (EuGH-Urteil in DStRE 2015, 1501). Zudem ist nicht erheblich, ob zusätzlich eine von Art. 68 der VO Nr. 883/2004 erfasste Konkurrenzsituation gegeben ist, denn Art. 60 der VO Nr. 987/2009 findet bereits über Art. 67 der VO Nr. 883/2004 Anwendung.
c) Zu den "beteiligten Personen" i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 gehören die Familienangehörigen i.S. des Art. 1 Buchst. i Nr. 1 Buchst. i der VO Nr. 883/2004. Da das Kindergeldrecht nach dem EStG den Begriff des Familienangehörigen weder verwendet noch definiert, sind hierunter neben den Elternteilen und dem Kind auch alle Personen zu verstehen, die nach nationalem Recht berechtigt sind, Anspruch auf diese Leistungen zu erheben (EuGH-Urteil in DStRE 2015, 1501). Daher werden von diesem Begriff auch nicht verheiratete, getrennt lebende Eltern umfasst.
Der Begriff der "beteiligten Personen" i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist nicht unter Rückgriff auf Art. 1 Buchst. i Nr. 2 der VO Nr. 883/2004 zu bestimmen. Danach werden als Familienangehörige nur der Ehegatte, die minderjährigen Kinder und die unterhaltsberechtigten volljährigen Kinder angesehen, wenn die anzuwendenden Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats die Familienangehörigen nicht von anderen Personen unterscheiden, auf die diese Rechtsvorschriften anwendbar sind. Die Nichtanwendbarkeit dieser Bestimmung ergibt sich zum einen daraus, dass im deutschen Kindergeldrecht die Anspruchsberechtigung von einer familienrechtlichen Beziehung abhängig gemacht wird (vgl. § 62 Abs. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 EStG). Zum anderen hat auch der EuGH in seinem Urteil in DStRE 2015, 1501 zur Bestimmung der "beteiligten Person" auf die nach dem nationalen Recht Anspruchsberechtigten abgestellt und damit auch die ehemalige (geschiedene) Ehefrau (die Kindsmutter) als beteiligte Person qualifiziert.
5. Die Kindsmutter erfüllt neben dem Wohnsitzerfordernis nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch.
a) Anhaltspunkte dafür, dass die Kindsmutter eine nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländerin i.S. des § 62 Abs. 2 EStG ist, hat das FG nicht festgestellt.
b) Ein vorrangiger Anspruch des Klägers ergibt sich nicht aus § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG. Denn die Anwendung dieser Bestimmung würde einen gemeinsamen Haushalt der Eltern voraussetzen. Es bestand jedoch kein gemeinsamer Haushalt, der zur vorrangigen Anspruchsberechtigung des Klägers hätte führen können. Ein gemeinsamer Haushalt folgt auch nicht aus der Fiktionswirkung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009. Nach den Feststellungen des FG hatte der Kläger zur Kindsmutter keinen Kontakt. Am Fehlen eines gemeinsamen Haushalts ändert sich somit auch dann nichts, wenn man fingiert, dass sich der Haushalt der Kindsmutter in Deutschland befand.
6. Schließlich kommt es nicht darauf an, ob die Kindsmutter selbst einen Antrag auf Kindergeld nach deutschem Recht gestellt hat.
Nimmt eine Person, die berechtigt ist, Anspruch auf Leistungen zu erheben, dieses Recht nicht wahr, berücksichtigt nach Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der VO Nr. 987/2009 der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften anzuwenden sind (hier: Deutschland), einen Antrag auf Familienleistungen, der von dem anderen Elternteil gestellt wird. Der Anspruch auf Kindergeld musste dem Kläger daher nicht wegen einer etwaigen fehlenden Antragstellung der Kindsmutter zuerkannt werden. Vielmehr reicht es aus, dass der Kläger einen Antrag auf Kindergeld gestellt hat. Diesen hat die deutsche Familienkasse als solchen zugunsten der Kindsmutter zu berücksichtigen.
7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 1, § 135 Abs. 1 FGO.