Entscheidungsdatum: 10.03.2016
1 NV: Rechtsgrundlos gezahltes Kindergeld ist auch dann vom Kindergeldberechtigten als Leistungsempfänger i.S. des § 37 Abs. 2 AO zurückzufordern, wenn die Familienkasse das Kindergeld auf seine Anweisung hin an das Kind ausgezahlt hat.
2. NV: § 37 Abs. 2 AO setzt kein Verschulden auf Seiten des Leistungsempfängers voraus. Der Rückzahlungsanspruch besteht vielmehr auch dann, wenn den Leistungsempfänger an der Fehlleistung kein Verschulden trifft bzw. wenn er diese nicht einmal erkannt hat.
3. NV: Wird die Kindergeldfestsetzung gegenüber dem Kindergeldberechtigten aufgehoben, wird damit gleichzeitig die Abzweigung gegenstandlos. Die Familienkasse ist nicht verpflichtet, den Kindergeldberechtigten auf die Möglichkeit eines erneuten Abzweigungsantrags hinzuweisen.
Auf die Revision der Familienkasse wird das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 2. Juli 2014 3 K 3261/11 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.
I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) bezog von der Beklagten und Revisionsklägerin (Familienkasse) für ihre im September 1986 geborene Tochter T Kindergeld.
T stellte am 3. Mai 2007 bei der Familienkasse den Antrag, das Kindergeld an sie abzuzweigen.
In einem Bescheid vom 14. Mai 2007, mit dem die Familienkasse gegenüber der Klägerin Kindergeld für T ab Februar 2007 festsetzte, hieß es unter anderem wörtlich: "Das Kindergeld wird weiterhin an T abgezweigt".
Mit Bescheid vom 20. August 2007 hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung mit Ablauf des Monats September 2007 auf, da T im September 2007 das 21. Lebensjahr vollendete. Dieser Bescheid wurde bestandskräftig.
T begann am 1. September 2008 eine Ausbildung zur Altenpflegerin. Die Ausbildung sollte nach dem Ausbildungsvertrag voraussichtlich am 31. August 2011 enden.
T beantragte bei der Familienkasse im September 2008 formlos Kindergeld. Die von der Familienkasse der Klägerin daraufhin übersandten Antragsvordrucke sandte T mit einem von ihr unterzeichneten Schreiben vom 3. November 2008 der Familienkasse zurück. Als Anschrift der Antragstellerin ist in dem von der Klägerin unterschriebenen Antrag die Adresse der T eingetragen. Ferner erhielt der Antrag die Eintragung, das Kindergeld solle nicht der Klägerin, sondern T gezahlt werden.
Mit Kindergeldverfügung (Kassenanordnung vom 5. Dezember 2008) zahlte die Familienkasse das Kindergeld auf das in dem Kindergeldantrag angegebene Konto der T. Unter den Personaldaten war als Anschrift in der Kindergeldverfügung "X-Str. …" eingetragen. Hierbei handelte es sich um die Anschrift der T.
Nachdem die Familienkasse erfahren hatte, dass das Ausbildungsverhältnis der T durch Kündigung zum 31. Oktober 2010 beendet worden war, hob sie mit Bescheid vom 27. Januar 2011 die Kindergeldfestsetzung ab November 2010 gemäß § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) gegenüber der Klägerin auf und forderte für den Zeitraum November 2010 bis Januar 2011 gezahltes Kindergeld in Höhe von 552 € gemäß § 37 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) zurück.
Die Klägerin legte gegen den vorgenannten Bescheid Einspruch ein. Zur Begründung trug sie insbesondere vor, sie sei weder verpflichtet noch wirtschaftlich in der Lage, das Kindergeld zurückzuzahlen. Sie habe seit längerer Zeit keinerlei Kontakt mehr zu T. Daher habe sie auch keinen Einfluss auf T und keine Kenntnisse über ihr Ausbildungsverhalten. Dementsprechend habe sie die Familienkasse angewiesen, das Kindergeld direkt T zu zahlen.
Die Familienkasse wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 19. September 2011 als unbegründet zurück.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2015, 1459 veröffentlichten Urteil vom 2. Juli 2014 3 K 3261/11 statt.
Mit der Revision rügt die Familienkasse die Verletzung von Bundesrecht. Da im vorliegenden Fall kein Abzweigungsantrag gestellt worden sei, sei die Klägerin nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs --BFH-- (Beschluss vom 28. Dezember 2009 III B 108/08, BFH/NV 2010, 641) Leistungsempfängerin nach § 37 Abs. 2 AO, weil das Kindergeld auf Grund ihrer Zahlungsanweisung dem Kind gezahlt worden sei. Die frühere Abzweigung sei mit der Aufhebung der Kindergeldfestsetzung wirkungslos geworden, ohne dass es insoweit eines weiteren aufhebenden Verwaltungsakts bedurft hätte (BFH-Urteil vom 24. August 2001 VI R 83/99, BFHE 196, 278, BStBl II 2002, 47). Es bestehe selbst bei einer vorherigen Abzweigung keine Pflicht der Familienkasse, auf die Möglichkeit einer erneuten Abzweigung hinzuweisen. Nach der Rechtsprechung des BFH sei eine solche allenfalls dann in Betracht zu ziehen, wenn eine Abzweigung nach den Verhältnissen des Einzelfalls geboten sei (BFH-Beschluss vom 10. April 2012 III B 131/11, BFH/NV 2012, 1129).
Die Familienkasse beantragt, das Urteil des FG vom 2. Juli 2014 3 K 3261/11 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II. Die Revision der Familienkasse ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Entgegen der Auffassung des FG war die Klägerin verpflichtet, das T für die Zeit von November 2010 bis Januar 2011 gezahlte Kindergeld in Höhe von 552 € zurückzuzahlen.
1. Der Rückzahlungsanspruch der Familienkasse ergibt sich aus § 37 Abs. 2 AO.
a) Ist eine Steuervergütung wie das Kindergeld (§ 31 Satz 3 EStG) ohne rechtlichen Grund gezahlt worden, so hat derjenige, auf dessen Rechnung die Zahlung bewirkt worden ist, nach § 37 Abs. 2 AO gegenüber dem Leistungsempfänger einen Anspruch auf Erstattung des gezahlten Betrags. Diese Rechtsfolge tritt auch ein, wenn der rechtliche Grund für die Zahlung später wegfällt (§ 37 Abs. 2 Satz 2 AO).
Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist Leistungsempfänger i.S. des § 37 Abs. 2 AO derjenige, dem gegenüber die Finanzbehörde oder Familienkasse ihre --vermeintlich oder tatsächlich bestehende-- abgabenrechtliche Verpflichtung erfüllen will (BFH-Urteile vom 23. Oktober 2012 VII R 63/11, BFH/NV 2013, 689; vom 18. September 2012 VII R 53/11, BFHE 239, 292, BStBl II 2013, 710, Rz 13, m.w.N.). Demnach ist ein Dritter als tatsächlicher Empfänger einer Zahlung dann nicht Leistungsempfänger i.S. des § 37 Abs. 2 AO, wenn die Behörde u.a. aufgrund einer Zahlungsanweisung des Erstattungs- bzw. Vergütungsberechtigten einem Dritten zahlt (vgl. Senatsbeschluss vom 28. Januar 2010 III B 112/08, BFH/NV 2010, 836; BFH-Urteile vom 29. Januar 2003 VIII R 64/01, BFH/NV 2003, 905; vom 25. März 2003 VIII R 84/98, BFH/NV 2003, 1404). Denn auch in einem derartigen Fall erbringt die Finanzbehörde ihre Leistung mit dem Willen, eine Forderung gegenüber dem tatsächlichen Rechtsinhaber zu erfüllen. Da der durch die Anweisung begünstigte Zahlungsempfänger den Zahlungsanspruch nicht aus eigenem Recht geltend machen kann und die Leistung mit dem Willen erbracht wird, eine Forderung gegenüber dem tatsächlichen Rechtsinhaber mit befreiender Wirkung zu erfüllen, ist nicht der Empfänger der Zahlung, sondern der nach materiellem Steuerrecht Erstattungs- bzw. Vergütungsberechtigte als Leistungsempfänger i.S. des § 37 Abs. 2 AO anzusehen (vgl. BFH-Urteil in BFH/NV 2003, 905).
Diese Grundsätze gelten auch für das Kindergeld, da es nach § 31 Satz 3 EStG als Steuervergütung gezahlt wird (BFH-Urteile in BFH/NV 2003, 905, und vom 16. März 2004 VIII R 48/03, BFH/NV 2004, 1218). Demnach ist nicht das Kind, sondern der Kindergeldberechtigte Leistungsempfänger i.S. des § 37 Abs. 2 Satz 1 AO, wenn die Familienkasse das Kindergeld auf Grund einer Zahlungsanweisung des Kindergeldberechtigten dem Kind zahlt (Senatsbeschluss in BFH/NV 2010, 836, Rz 3, m.w.N.).
b) Im Streitfall ist das Kindergeld für den Streitzeitraum ohne Rechtsgrund gezahlt worden.
Der Senat kann dahinstehen lassen, ob der Klägerin der Bewilligungsbescheid für die Zahlung des Kindergeldes ab September 2008 wirksam bekannt gegeben worden ist. Sofern der Bescheid der Klägerin als Kindergeldberechtigter nicht bekanntgegeben und damit nicht wirksam geworden sein sollte (§ 124 Abs. 1 Satz 1 AO), bestand für die Zahlung des Kindergeldes an T von Anfang an kein Rechtsgrund (§ 37 Abs. 2 Satz 1 AO). Sollte der Bewilligungsbescheid der Klägerin gegenüber wirksam geworden sein, so ist der Rechtsgrund durch die bestandskräftige Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für den Streitzeitraum später weggefallen (§ 37 Abs. 2 Satz 2 AO).
c) Die Klägerin ist Leistungsempfängerin des ohne Rechtsgrund gezahlten Kindergeldes.
Mit der Angabe des Kontos ihrer Tochter im Kindergeldantrag hat die Klägerin der Familienkasse die Anweisung erteilt, das Kindergeld auf dieses Konto zu überweisen. Damit hat sie den Zahlungsweg veranlasst. Zudem erbrachte die Familienkasse mit der Befolgung der Anweisung ihre Leistung mit dem Willen, den Zahlungsanspruch der Klägerin als (vermeintliche) Kindergeldberechtigte zu erfüllen.
Es kommt nicht darauf an, ob die Klägerin von der tatsächlichen Leistung an T Kenntnis hatte. § 37 Abs. 2 AO setzt kein Verschulden auf Seiten des Leistungsempfängers voraus. Der Rückzahlungsanspruch besteht vielmehr auch dann, wenn den Leistungsempfänger an der Fehlleistung kein Verschulden trifft bzw. wenn er diese nicht einmal erkannt hat (FG Düsseldorf, Urteil vom 12. Mai 2015 10 K 2954/14 Kg, AO, nicht veröffentlicht).
2. Entgegen der Ansicht des FG steht diesem Ergebnis auch keine fortwirkende Abzweigung nach § 74 Abs. 1 EStG entgegen.
a) Es ist zwar richtig, dass in Abzweigungsfällen der Dritte (Abzweigungsempfänger) und nicht der Kindergeldberechtigte gemäß § 37 Abs. 2 AO zur Erstattung verpflichtet ist (BFH-Urteil in BFHE 196, 278, BStBl II 2002, 47). Eine Abzweigung bestand aber zum Zeitpunkt der Rückforderung nicht mehr.
Mit der Aufhebung der Kindergeldfestsetzung (Bescheid vom 20. August 2007) ab Oktober 2007 wurde auch die verfügte Abzweigung an T aufgehoben. Wird die Kindergeldfestsetzung gegenüber dem Kindergeldberechtigten aufgehoben, so wird damit gleichzeitig die Abzweigung gegenstandslos bzw. wirkungslos, ohne dass es insoweit eines weiteren aufhebenden Verwaltungsakts bedarf (BFH-Urteil in BFHE 196, 278, BStBl II 2002, 47). Daher kommt es entgegen der Ansicht des FG auch nicht darauf an, ob die Klägerin aus der --ihr möglicherweise nicht bekanntgegebenen-- Festsetzung ab September 2008 hätte erkennen können, ob das Kindergeld weiterhin abgezweigt wird.
b) Die Familienkasse war im Streitfall auch nicht verpflichtet, die Klägerin oder die T auf die Möglichkeit eines erneuten Abzweigungsantrags hinzuweisen. Der Senat kann insoweit dahinstehen lassen, welche Rechtsfolge eine etwaige Verletzung einer Hinweispflicht auslöst (vgl. Söhn in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, § 89 AO Rz 122, m.w.N.; Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 89 AO Rz 19).
aa) Eine solche Hinweispflicht ergibt sich insbesondere nicht aus § 89 Abs. 1 Satz 1 AO, denn aus dieser Vorschrift folgt keine Verpflichtung der Behörden, die Vor- und Nachteile eines Antrags abzuwägen und den Antragsteller insoweit zu beraten (Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., Rz 106).
bb) Nach Auffassung des Senats musste es sich der Familienkasse auf Grund des im Mai 2007 gestellten Abzweigungsantrags nicht aufdrängen, dass eine Abzweigung auch mit dem Kindergeldantrag vom November 2008 für den Zeitraum ab September 2008 beantragt werden sollte. Insbesondere ging aus dem Antrag der Klägerin nicht hervor, dass die Klägerin ihrer gesetzlichen Unterhaltspflicht auch im Zeitpunkt der erneuten Antragstellung ganz oder teilweise nicht nachgekommen sei (§ 74 Abs. 1 Satz 1 EStG) oder mangels Leistungsfähigkeit weniger Unterhalt schuldete als das in Betracht kommende Kindergeld (§ 74 Abs. 1 Satz 3 EStG). Ohne einen wenn auch nur formlos gestellten Abzweigungsantrag und Darlegung der für eine Abzweigung maßgeblichen Umstände erhält die Behörde keine Kenntnis von dem für eine Abzweigung entscheidungserheblichen Sachverhalt. Schon aus diesem Grund besteht daher auch keine Aufklärungs- oder Hinweispflicht der Familienkasse über die Möglichkeiten einer Abzweigung (Senatsbeschluss in BFH/NV 2012, 1129, Rz 9).
3. Einer Rückforderung steht auch nicht der Gesichtspunkt von Treu und Glauben bzw. der Verwirkungsgedanke entgegen (vgl. BFH-Beschluss vom 27. Februar 2007 III B 1/06, BFH/NV 2007, 1120).
Es fehlt an einem Verhalten der Familienkasse, aus dem die Klägerin bei objektiver Beurteilung den Schluss ziehen durfte, das zu Unrecht ausgezahlte Kindergeld werde ihr bzw. der Tochter belassen. Der Umstand, dass die Klägerin möglicherweise von der Zahlung des Kindergeldes an T mangels Bekanntgabe des Bewilligungsbescheids keine Kenntnis hatte, ändert hieran nichts. Denn die rechtsgrundlose Zahlung an T hat die Klägerin durch ihren Kindergeldantrag und die hierin angegebene Zahlungsanweisung veranlasst und damit selbst verursacht, so dass es an einer schutzwürdigen Position ihrerseits fehlt, die Vorrang vor dem öffentlichen Interesse an der Rückforderung haben könnte. Hieran ändern auch die späteren und möglicherweise gefälschten Veränderungsmitteilungen der T nichts, da diese keine Auswirkungen auf die von der Klägerin im Kindergeldantrag vorgenommene (wirksame) Zahlungsanweisung hatten.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 1, § 135 Abs. 1 FGO.