Entscheidungsdatum: 13.09.2012
1. NV: Ein im sozialgerichtlichen Verfahren eingeholtes Gutachten zur Feststellung des Grades der Behinderung kann grundsätzlich in einem finanzgerichtlichen Verfahren, in dem um die Berücksichtigungsfähigkeit eines behinderten Kindes gestritten wird, verwertet werden.
2. NV: Die Entscheidung, das "Fremdgutachten" zu verwerten oder eine weitere Begutachtung anzuordnen, steht im Ermessen des FG.
Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) hat keinen Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) begangen, als es den Antrag der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) auf Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens ablehnte.
1. Nach § 82 FGO i.V.m. § 411a der Zivilprozessordnung (ZPO) darf das FG die schriftliche Begutachtung durch die Verwertung eines gerichtlich eingeholten Sachverständigengutachtens aus einem anderen Verfahren ersetzen. Entscheidet sich das Gericht für die Verwertung, dann ist das "Fremdgutachten" als vollwertiger Sachverständigenbeweis zu behandeln (Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 82 Rz 37a). Erachtet das Gericht das Gutachten aus einem anderen Verfahren für ungenügend, dann kann es eine neue Begutachtung durch dieselben oder andere Sachverständige anordnen (§ 82 FGO i.V.m. § 412 Abs. 1 ZPO). Wie der Wortlaut der §§ 411a und 412 Abs. 1 ZPO ("kann") deutlich macht, steht sowohl die Verwertung des "Fremdgutachtens" als auch die Einholung eines Zweitgutachtens im Ermessen des Tatsachengerichts. Dieses Ermessen wird nur dann verfahrensfehlerhaft ausgeübt, wenn das Gericht von der Einholung gutachterlicher Stellungnahmen absieht, obwohl sich ihm die Notwendigkeit einer zusätzlichen Beweiserhebung hätte aufdrängen müssen. Dies gilt auch für die Einholung eines Zweitgutachtens. Ein solches ist insbesondere dann einzuholen, wenn die Einschätzung des Erstgutachters nicht dem Stand der Wissenschaft entspricht, widersprüchlich oder von unsachlichen Erwägungen getragen ist (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 9. Mai 1996 X B 223/95, BFH/NV 1996, 773; vom 31. Oktober 2002 XI B 43/02, juris; vom 5. Mai 2004 VIII B 107/03, BFH/NV 2004, 1533).
2. Bei Anwendung dieser Rechtsgrundsätze muss der Verfahrensrüge der Klägerin der Erfolg versagt bleiben.
a) Zur Klärung der Frage, ob der Sohn (S) der Klägerin als behindertes Kind gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes berücksichtigungsfähig ist, hat das FG im Streitfall das im sozialgerichtlichen Verfahren eingeholte Gutachten zur Klärung der Frage, ob bei S ein Grad der Behinderung (GdB) festzustellen ist, gemäß § 411a FGO verwertet. Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Beschwerde auch nicht. Ihre Rüge geht vielmehr dahin, dass ein weiteres Gutachten hätte eingeholt werden müssen. Das FG hat sich mit dieser Frage ausdrücklich befasst und nachvollziehbar begründet, weshalb es das vorliegende (Erst-)Gutachten für tragfähig und in sich schlüssig hält. Damit hat es sein Ermessen fehlerfrei ausgeübt. Dass die ärztliche Einschätzung des körperlich-geistigen Zustandes von S durch den Erstgutachter nicht dem Stand der Wissenschaft entsprochen habe, dass dessen Erwägungen unsachlich oder widersprüchlich seien, hat die Klägerin weder dargelegt noch gibt es sonst dafür objektive Anhaltspunkte.
b) Der Gesichtspunkt, dass der vom Sozialgericht beauftragte Gutachter sich allein mit dem GdB befasst hat und nicht zusätzlich auf die Frage der Ursächlichkeit einer etwaigen Behinderung für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt eingegangen ist, musste das FG nicht zu einer weiteren Beweisaufnahme drängen. Denn bei S wurde im sozialgerichtlichen Verfahren wegen Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule und Intelligenzminderung lediglich ein GdB von 30 rechtskräftig festgestellt. Wenn der GdB weniger als 50 beträgt und keine besonderen Umstände dafür ersichtlich sind, dass auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt keine Erwerbstätigkeit ausgeübt werden kann, dann spricht eine widerlegbare Vermutung dafür, dass die Behinderung für die Unfähigkeit des Kindes zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit grundsätzlich nicht ursächlich ist (BFH-Urteil vom 19. November 2008 III R 105/07, BFHE 223, 365, BStBl II 2010, 1057). Besondere Umstände wurden im Streitfall weder substantiiert vorgetragen noch sind sie sonst ersichtlich. Das in diesem Zusammenhang vorgelegte privatärztliche Attest des Herrn Dr. H hat das FG zu Recht nicht zum Anlass für eine weitere Begutachtung genommen, weil der Aussteller des Attests Internist ist und er die behinderungsbedingte Unfähigkeit zum Selbstunterhalt lediglich pauschal behauptet hat.
c) Soweit die Klägerin schließlich die Einschätzung des Erstgutachters nicht teilt, dass der Intelligenzquotient des S 80 beträgt, macht sie keinen Verfahrensfehler geltend, sondern rügt letztendlich die Beweiswürdigung des FG. Das FG hat sich mit der Frage der Intelligenzminderung und dem hieraus resultierenden Einzel-GdB unter Auseinandersetzung mit dem Gutachten, anderen vorliegenden ärztlichen Attesten und der Würdigung des Landessozialgerichts befasst. Diese Würdigung ist revisionsrechtlich dem materiellen Recht zugeordnet. Etwaige Fehler können daher mit der Verfahrensrüge grundsätzlich nicht geltend gemacht werden (vgl. BFH-Beschlüsse vom 10. August 2011 X B 100/10, BFH/NV 2011, 2098; vom 13. Februar 2012 II B 12/12, BFH/NV 2012, 772).