Entscheidungsdatum: 28.03.2017
NV: Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Gericht sein Urteil auf einen Bescheid stützt, der zuvor weder von den Beteiligten noch vom Gericht angesprochen wurde, und ein Beteiligter daher keinen Anlass zu dem Vortrag hatte, es handele sich nicht um eine Steuerfestsetzung (hier: Kindergeld), sondern lediglich um einen Abrechnungsbescheid, und selbst eine unbefristete Kindergeldfestsetzung beträfe nur den Zeitraum bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des Kindes und damit nicht mehr den streitigen Zeitraum.
Auf die Beschwerde der Beklagten wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Sächsischen Finanzgerichts vom 11. August 2016 6 K 87/16 (Kg) aufgehoben.
Die Sache wird an das Sächsische Finanzgericht zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.
I. Die Klägerin und Beschwerdegegnerin (Klägerin) ist Mutter einer im Oktober 1996 geborenen Tochter. Am 1. Oktober 2014 teilte sie der Beklagten und Beschwerdeführerin (Familienkasse) auf einem Antragsformular für Kindergeld mit, ihre Tochter habe sich im August und September 2014 erfolglos um eine Ausbildungsstelle bemüht. Die Familienkasse lehnte den Kindergeldantrag am 10. Februar 2015 für den Zeitraum ab November 2014 ab.
Nachdem die Klägerin unter dem 10. April 2015 einen weiteren Antrag eingereicht hatte, in dem sie Angaben zur Registrierung ihrer Tochter bei der Arbeitsvermittlung machte, lehnte die Familienkasse am 12. Oktober 2015 den Antrag der Klägerin vom "17. April 2015" für den Zeitraum November 2014 bis einschließlich Februar 2015 ab und verwies zur Begründung auf die Bestandskraft des Ablehnungsbescheides vom 10. Februar 2015, der nicht geändert werden könne, weil die Klägerin ihre Mitwirkungspflichten verletzt habe.
Das Finanzgericht (FG) gab der auf Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 12. Oktober 2015 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 17. Dezember 2015 gerichteten Klage --mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung-- statt. Zur Begründung verwies es darauf, dass am 23. Mai 2014 aufgrund eines Antrags vom 8. April 2014 für die Tochter unbefristet Kindergeld festgesetzt worden sei. Diese Festsetzung sei zu keinem Zeitpunkt aufgehoben worden; sie sei durch die Bescheide vom 10. Februar 2015 und vom 12. Oktober 2015 unberührt geblieben, weil diese nicht als Aufhebungsbescheide verstanden werden könnten. Darüber hinaus habe die Familienkasse hinsichtlich der Änderung des bestandskräftigen Bescheides vom 10. Februar 2015 nicht näher zum groben Verschulden der Klägerin vorgetragen.
Gegen das Urteil des FG wendet sich die Familienkasse und trägt vor, das FG-Urteil beruhe auf einem Verfahrensmangel. Das FG habe eine Überraschungsentscheidung getroffen, indem es sein stattgebendes Urteil mit dem Bescheid vom 23. Mai 2014 begründet habe. Dieser Bescheid habe im Verfahren keine Rolle gespielt. Sowohl die Klägerin als auch sie, die Familienkasse, seien übereinstimmend davon ausgegangen, dass die Bestandskraft der Entscheidung vom 10. Februar 2015 sowie die rechtliche Bedeutung eines Schreibens an das Jobcenter streitentscheidend seien. Hinweise auf die Bedeutung des Bescheides vom 23. Mai 2014 hätten sich auch nicht aus den schriftlichen Hinweisen des Gerichts vom 27. Mai 2016 ergeben.
Durch die ohne mündliche Verhandlung getroffene Überraschungsentscheidung sei sie --die Familienkasse-- gehindert worden, ihren Vortrag zu ergänzen. Sie hätte vorgetragen, dass der Bescheid vom 23. Mai 2014 nicht im Festsetzungsverfahren ergangen sei, sondern die Erstattung des Kindergeldes an das Jugendamt betreffe (§ 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes --EStG-- i.V.m. § 107 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch). Es handele sich somit um einen im Erhebungsverfahren ergangenen Abrechnungsbescheid. Sie hätte zudem weiter vorgetragen, dass die Klägerin im Antragsformular vom 8. April 2014 lediglich mitgeteilt habe, dass sie die Tochter nach der vorübergehenden Unterbringung durch das Jugendamt wieder in ihren Haushalt aufgenommen habe. Darüber hinaus hätte sie vorgetragen, dass die Festsetzung von Kindergeld für die Tochter gemäß § 32 Abs. 3 EStG im Oktober 2014 wegen Vollendung des 18. Lebensjahres geendet habe. Sie habe die Klägerin über das bevorstehende Ende der Festsetzung durch Zeitablauf informiert und ihr gleichzeitig Antragsunterlagen für ein volljähriges Kind übersandt, die die Klägerin nachweislich erhalten habe. Daraus sowie aus der Begründung des Ablehnungsbescheides vom 10. Februar 2015 hätte das FG folgern müssen, dass nach Vollendung des 18. Lebensjahres für die Tochter keine Kindergeldfestsetzung mehr vorgelegen habe und die Ablehnungsbescheide vom 10. Februar 2015 und vom 12. Oktober 2015 keiner Umdeutung bedurften.
Ohne die Überraschungsentscheidung hätte sie, die Familienkasse, auch zum Grad der Fahrlässigkeit im Hinblick auf § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO) vorgetragen. Der Klägerin falle nicht, wie man aus dem vom FG zitierten Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 10. Februar 2015 IX R 18/14 (BFHE 249, 195, BStBl II 2017, 7) schließen könne, lediglich leichte Fahrlässigkeit zur Last. Denn die Klägerin habe offenkundig anspruchsbegründende und ausdrücklich angeforderte Unterlagen nicht vorgelegt und somit nach den Grundsätzen des Senatsbeschlusses vom 29. April 2009 III B 113/08 (BFH/NV 2009, 1239) grob schuldhaft gehandelt. Der Bescheid vom 10. Februar 2015 habe somit Bestandskraft bis einschließlich Februar 2015 entfaltet.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Familienkasse ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
1. Es liegt ein von der Familienkasse in der erforderlichen Form (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO) dargelegter Verfahrensmangel vor, auf dem die Entscheidung des FG beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).
a) Rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes --GG--, § 96 Abs. 2 FGO) wird den Beteiligten dadurch gewährt, dass sie Gelegenheit erhalten, sich zu dem Sachverhalt zu äußern, der einer gerichtlichen Entscheidung zu Grunde gelegt werden soll. Das rechtliche Gehör bezieht sich vor allem auf Tatsachen und Beweisergebnisse; darüber hinaus darf das FG seine Entscheidung auf einen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt nur stützen, wenn die Beteiligten zuvor Gelegenheit hatten, dazu Stellung zu nehmen (§ 155 FGO i.V.m. § 139 Abs. 2 der Zivilprozessordnung). Deshalb kann eine Verletzung des Rechts auf Gehör vorliegen, wenn das Gericht die Beteiligten nicht auf einen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt hinweist, den es seiner Entscheidung zu Grunde legen will und der dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein kundiger Beteiligter nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht hat rechnen müssen (Senatsbeschluss vom 2. November 2012 III B 88/12, BFH/NV 2013, 234).
b) Eine solche sog. Überraschungsentscheidung stellt das angefochtene Urteil dar.
Die Klage gegen den Ablehnungsbescheid vom 12. Oktober 2015 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 17. Dezember 2015 war damit begründet worden, dass die Klägerin ihre Mitwirkungspflicht nachträglich erfüllt habe; die Arbeitsagentur habe die Arbeitsuchendmeldung erst nach mehrmaligem Nachfragen erstellt. Die Familienkasse war der Klage unter Hinweis auf die Sperrwirkung des nicht angefochtenen Ablehnungsbescheides vom 10. Februar 2015 entgegengetreten. Während des FG-Verfahrens wurden schriftsätzlich verschiedene Fragen erörtert, z.B. die Bedeutung eines Schreibens der Familienkasse an das Landratsamt/Jobcenter wegen des von diesem geltend gemachten Erstattungsanspruchs.
Die streitentscheidende Kindergeldfestsetzung vom 8. April 2014 ist nach Aktenlage jedoch vor Abfassung des Urteils weder von den Beteiligten noch von der Berichterstatterin angesprochen worden. Die Familienkasse hatte daher keinen Anlass vorzutragen, es handele sich nicht um eine Kindergeldfestsetzung, sondern lediglich um einen Abrechnungsbescheid, und selbst eine unbefristete Kindergeldfestsetzung beträfe nur den Zeitraum bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres der Tochter.
c) Das FG-Urteil beruht außerdem darauf, dass die Familienkasse nicht hinreichend zum groben Verschulden der Klägerin i.S. von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO vorgetragen habe. Insoweit ergibt sich jedoch aus dem Tatbestand des FG-Urteils, dass die Klägerin die (anspruchsbegründende) Bescheinigung über die Arbeitssuche und die Registrierung als Bewerberin um eine Ausbildungsstelle erst am 21. Mai 2015 einreichte, d.h. mehr als zwei Monate nach Ablauf der Einspruchsfrist gegen den Ablehnungsbescheid vom 10. Februar 2015.
Das FG ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Feststellungslast hinsichtlich der groben Fahrlässigkeit der Familienkasse obliegt. Ein die Änderung wegen neuer Tatsachen ausschließendes grobes Verschulden ist indessen anzunehmen, wenn trotz mehrfacher Aufforderung durch die Familienkasse offenkundig anspruchserhebliche Tatsachen nicht mitgeteilt oder nachgewiesen werden; auf die Folgen braucht die Behörde nicht hinzuweisen (Senatsbeschluss in BFH/NV 2009, 1239). Der Senat vermag nach den Urteilsgründen nicht nachzuvollziehen, ob das FG diesen Grundsatz beachtend die Tatsachen entsprechend gewürdigt hat (z.B.: Unmissverständliche Anforderung der Nachweise durch die Familienkasse? Verspätete Ausstellung der Bescheinigung durch die Arbeitsagentur? Trotz rechtzeitigen Antrags der Klägerin?).
2. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.