Entscheidungsdatum: 02.11.2012
NV: Das Finanzgericht verletzt durch eine Überraschungsentscheidung das rechtliche Gehör des Klägers, wenn es eine auf die Gewährung von Kindergeld gerichtete Klage mit der Begründung ablehnt, es sei zweifelhaft, ob das Kind neben seinen Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit weitere Einkünfte und Bezüge gehabt habe, obwohl der Kläger im finanzgerichtlichen Verfahren ausdrücklich erklärt hatte, dass das Kind ausschließlich die der Familienkasse bereits bekannten Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit hatte und im gesamten finanzgerichtlichen Verfahren weder von der Familienkasse noch seitens des Finanzgerichts geltend gemacht wurde, dass der Vortrag des Klägers Zweifeln begegnet .
I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) ist die Mutter des im März 1988 geborenen Sohnes S. S nahm im September 2007 eine Ausbildung zum Tischler auf, die im Januar 2011 mit der Gesellenprüfung endete. Die Ausbildungsvergütung betrug laut Ausbildungsvertrag vom 4. September 2007 im ersten Ausbildungsjahr 282 €, im zweiten Ausbildungsjahr 296,10 € und im dritten Ausbildungsjahr 310,91 € monatlich.
Nachdem die Klägerin mehrere Anfragen der Beklagten und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) zu den Einkünften und Bezügen des S nicht oder unzureichend beantwortet hatte, hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung mit Bescheid vom 1. Juni 2011 nach § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ab Januar 2010 auf und forderte das für den Zeitraum Januar 2010 bis März 2011 bereits ausgezahlte Kindergeld in Höhe von 2.760 € von der Klägerin zurück. Auch im Einspruchsverfahren legte die Klägerin keine geeigneten Nachweise hinsichtlich der Einkünfte des S vor, woraufhin die Familienkasse den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 6. September 2011 als unbegründet zurückwies.
Die dagegen gerichtete Klage wies das Finanzgericht (FG) als unbegründet ab.
Mit ihrer Beschwerde begehrt die Klägerin die Zulassung der Revision wegen des Vorliegens von Verfahrensmängeln (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung --FGO--), weil das FG gegen seine Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO) verstoßen und den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör (§ 96 Abs. 2 FGO) verletzt habe.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 FGO).
1. Es liegt ein von der Klägerin in der erforderlichen Form (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO) dargelegter Verfahrensmangel vor, auf dem die Entscheidung des FG beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO). Denn die von der Klägerin gerügte Verletzung des Rechts auf Gehör liegt vor.
a) Rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO) wird den Beteiligten dadurch gewährt, dass sie Gelegenheit erhalten, sich zu dem Sachverhalt zu äußern, der einer gerichtlichen Entscheidung zu Grunde gelegt werden soll. Das rechtliche Gehör bezieht sich vor allem auf Tatsachen und Beweisergebnisse; darüber hinaus darf das FG seine Entscheidung auf einen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt nur stützen, wenn die Beteiligten zuvor Gelegenheit hatten, dazu Stellung zu nehmen (§ 155 FGO i.V.m. § 139 Abs. 2 der Zivilprozessordnung). Deshalb kann eine Verletzung des Rechts auf Gehör vorliegen, wenn das Gericht die Beteiligten nicht auf einen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt hinweist, den es seiner Entscheidung zu Grunde legen will und der dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein kundiger Beteiligter nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht hat rechnen müssen (vgl. z.B. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs vom 15. Juni 2001 VII B 45/01, BFH/NV 2001, 1580; vom 14. November 2002 XI B 69/02, BFH/NV 2003, 293; vom 1. Juli 2003 III B 94/02, BFH/NV 2003, 1591).
b) Eine solche sog. Überraschungsentscheidung stellt das angefochtene Urteil dar.
aa) Das FG hat sein Urteil auf folgende Erwägungen gestützt: S habe die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nicht erfüllt. Die Klägerin und ihr Sohn hätten offensichtlich unzutreffende Angaben gemacht, wie sich daran zeige, dass die Frage nach Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit wiederholt mit "nein" beantwortet worden sei. Zwar könne der Vortrag, dass S im Jahr 2010 310,91 € brutto im Monat verdient habe, als wahr unterstellt werden, so dass die beantragte Zeugenvernehmung des Geschäftsführers des Ausbildungsbetriebs unterbleiben könne. Gleichwohl stehe nicht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Sohn der Klägerin nicht über andere Einkünfte und Bezüge verfügt habe. Die nachhaltige Weigerung der Klägerin, zutreffende Erklärungen über die Einkünfte und Bezüge des S vorzulegen, spreche für das Vorliegen weiterer Einnahmen. Die Unaufklärbarkeit des Sachverhalts gehe zu Lasten der Klägerin.
Nach Aktenlage hat die Klägerin im finanzgerichtlichen Verfahren ausdrücklich erklärt, dass S im Jahr 2010 "ausschließlich" die der Familienkasse bereits bekannte Ausbildungsvergütung in Höhe von 310,91 € brutto erhalten habe. In der mündlichen Verhandlung erklärte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin laut den Feststellungen des FG, dass der Ausbildungsbetrieb des S weder eine Lohnsteuerbescheinigung 2010 noch eine Verdienstbescheinigung für den Monat Januar 2011 erstellt habe; er benannte deshalb den Geschäftsführer des Ausbildungsbetriebs als Zeugen zum Beweis der Tatsache, dass die Jahresbruttovergütung 2010 3.730,93 € betragen habe.
Aus der Klageerwiderung ergeben sich keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass neben der Ausbildungsvergütung andere Einkünfte oder Bezüge vorgelegen haben könnten. Ebenso ergibt sich aus dem Sitzungsprotokoll nicht, dass das Vorliegen weiterer Einkünfte oder Bezüge problematisiert wurde. Vielmehr hat das FG nach den Urteilsgründen seine Zweifel allein auf das vorprozessuale Verhalten der Klägerin gestützt.
bb) Angesichts dieses Prozessverlaufs musste die Klägerin trotz ihrer Vertretung durch einen fachkundigen Prozessbevollmächtigten nicht damit rechnen, dass das FG die Klage wegen Zweifeln hinsichtlich des Fehlens weiterer Einkünfte und Bezüge abweisen würde, ohne zuvor S im Wege eines Auskunftsverlangens nach § 79 Abs. 1 Nr. 3 FGO aufzufordern, eine Erklärung über seine Einkünfte und Bezüge abzugeben, oder ihn hierzu als Zeugen zu vernehmen.
cc) Das FG hat insoweit das rechtliche Gehör der Klägerin verletzt. Auf diesem Verfahrensfehler beruht das angefochtene Urteil (§ 119 Nr. 3 FGO).
2. Es kann dahingestellt bleiben, ob das FG daneben seine aus § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO folgende Pflicht zur Sachaufklärung verletzt hat, indem es Ermittlungen unterlassen hat, die sich nach Lage der Akten und dem Vortrag der Beteiligten aufdrängten. Denn schon der festgestellte Verfahrensmangel der Verletzung des rechtlichen Gehörs rechtfertigt die Aufhebung der Entscheidung.
3. Im Interesse eines möglichst raschen Abschlusses des Rechtsstreits weist der Senat --allerdings ohne Bindungswirkung für den zweiten Rechtsgang-- auf Folgendes hin:
Nachdem im Rahmen der Einspruchsentscheidung vom 6. September 2011 eine sachliche Prüfung des Kindergeldanspruchs stattgefunden hat, erstreckt sich der Streitgegenstand der auf Aufhebung des Aufhebungsbescheids gerichteten Klage auf das Kindergeld für den Zeitraum von Januar 2010 bis September 2011 (vgl. Senatsurteil vom 22. Dezember 2011 III R 41/07, BFHE 236, 144, BStBl II 2012, 681, unter II.2. der Gründe). Sofern keine entsprechende Einschränkung des Klageantrags erfolgt, bedürfte es daher zunächst noch näherer Feststellungen, ob ab Februar 2011 weiter ein Begünstigungstatbestand i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 EStG vorgelegen hat. Bislang hat das FG nur ein bis Januar 2011 bestehendes Ausbildungsverhältnis festgestellt.