Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 27.01.2015


BGH 27.01.2015 - II ZB 23/13

Rechtsanwaltsverschulden bei Versäumung der Berufungsbegründungsfrist: Pflicht zur Handaktenkontrolle auf etwaige Fristabläufe nach Ausfall der Computeranlage mit dem elektronischen Fristenkalender


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
2. Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
27.01.2015
Aktenzeichen:
II ZB 23/13
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, 8. November 2013, Az: 11 U 184/13vorgehend LG Hamburg, 30. Mai 2013, Az: 316 O 53/12
Zitierte Gesetze

Leitsätze

Ist der Zugriff auf einen ausschließlich elektronisch geführten Fristenkalender wegen eines technischen Defekts einen ganzen Arbeitstag lang nicht möglich, kann es die Sorgfaltspflicht des Rechtsanwalts in Fristensachen verlangen, dass die dem Rechtsanwalt vorliegenden Handakten auf etwaige Fristabläufe hin kontrolliert werden.

Tenor

Die Rechtsbeschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des 11. Zivilsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Hamburg vom 8. November 2013 wird auf ihre Kosten verworfen.

Beschwerdewert: bis zu 19.000 €

Gründe

1

I. Die Klägerin verfolgt Ansprüche wegen behaupteter Prospektfehler und angeblich fehlerhafter Beratung im Zusammenhang mit der Beteiligung an der Beklagten als atypische stille Gesellschafterin. Das die Klage abweisende Urteil des Landgerichts wurde ihr am 5. Juni 2013 zugestellt. Am 2. Juli 2013 legte sie Berufung ein. Mit Telefax vom 7. August 2013 beantragte die Klägerin Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist und begründete die Berufung. Zur Rechtfertigung ihres Wiedereinsetzungsgesuchs führte sie aus, aufgrund eines Totalausfalls des Computersystems im Büro ihrer Prozessbevollmächtigten am Montag, dem 5. August 2013 sei es nicht möglich gewesen, den Fristenkalender und die Fristabläufe einzusehen und zu bearbeiten. Der Hauptserver, an dem sämtliche Computer der Kanzlei hingen, sei bei dem Unwetter am Wochenende vom 2. August bis 4. August 2013 so schwer beschädigt worden, dass die Festplatte habe ausgetauscht werden müssen. Das Computersystem habe erst am Vormittag des 6. August 2013 durch den zuständigen Computertechniker soweit hergestellt werden können, dass ein Arbeiten wieder möglich geworden sei. Ein physischer Fristenkalender habe nicht bestanden. In der Kanzlei werde ausschließlich mit elektronischem Kalender gearbeitet.

2

Nachdem das Gericht darauf hingewiesen hatte, dass es die Angaben in dem Wiedereinsetzungsgesuch für unzureichend halte, hat die Klägerin ihr Vorbringen mit Schriftsatz vom 20. August 2013 vertieft: Die Kanzlei ihrer in M.   ansässigen Prozessbevollmächtigten arbeite mit dem Anwaltsprogramm WinMacs. Alle Akten der Kanzlei würden elektronisch innerhalb dieses Anwaltsprogramms geführt. Auch der Fristenkalender werde ausschließlich elektronisch in diesem Programm geführt. Das Programm sei zentral auf dem Terminalserver in den Kanzleiräumen in R.     gespeichert. Erst wenn man sich über den Terminalserver bei WinMacs anmelde, habe man Zugriff auf die Akten und den Fristenkalender. Der Server habe sich aufgrund des am Wochenende eingetretenen Schadens am Morgen des 5. August 2013 nicht hochfahren lassen. Der unverzüglich beauftragte Computertechniker habe den ganzen Tag versucht, das Problem zu beheben. Da es sich aber um ein größeres Problem gehandelt habe, welches bis zum heutigen Tag nicht endgültig habe behoben werden können, sei es erst am 6. August 2013 gelungen, den Serverzugang soweit herzustellen, dass auf WinMacs habe zugegriffen werden können.

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In einem Parallelverfahren (vgl. Senatsbeschluss vom heutigen Tag - II ZB 21/13) habe deshalb am 5. August 2013 handschriftlich ein Fristverlängerungsantrag gestellt werden können, weil der Prozessbevollmächtigten der Klägerin dieser Fristablauf aus dem Gedächtnis bekannt gewesen sei. Im vorliegenden Verfahren sei ihrer Prozessbevollmächtigten aufgrund der Vielzahl von Fristabläufen nicht aus dem Gedächtnis bekannt gewesen, dass diese Frist ebenfalls am 5. August 2013 ablaufen werde. Da im Bereich des Bank- und Kapitalmarktrechts bekanntlich eine große Masse an Fällen parallel bearbeitet würde, sei es auch bei größtmöglicher Sorgfalt nicht möglich, alle Fristabläufe auswendig im Kopf zu haben. Auf weitere Nachfrage des Gerichts hat die Klägerin ihr Vorbringen weiter dahin ergänzt, dass der Server zum Datum der Vorfrist am 29. Juli 2013 noch funktioniert habe.

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Das Berufungsgericht hat den Antrag auf Wiedereinsetzung in die Berufungsbegründungsfrist zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Klägerin.

5

II. Die Rechtsbeschwerde der Klägerin ist statthaft (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Sie ist jedoch nicht zulässig, weil die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO nicht erfüllt sind. Die Rechtssache wirft weder entscheidungserhebliche Fragen von grundsätzlicher Bedeutung auf noch erfordert sie eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde verletzt der angefochtene Beschluss auch nicht den verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch des Klägers auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip). Danach darf einer Partei die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht aufgrund von Anforderungen an die Sorgfaltspflichten ihres Prozessbevollmächtigten versagt werden, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht verlangt werden und den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren (st. Rspr.; BGH, Beschluss vom 4. November 2014 - VIII ZB 38/14, WM 2014, 2388 Rn. 6 mwN). Dies ist hier nicht der Fall.

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1. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung wie folgt begründet: Es sei auf der Grundlage des Vorbringens der Klägerin davon auszugehen, dass der sachbearbeitenden Rechtsanwältin die Handakte des vorliegenden Berufungsverfahrens aufgrund der auf den 29. Juli 2013 notierten Vorfrist an diesem Tag zur Bearbeitung vorgelegt worden sei. Dass die Handakte von der sachbearbeitenden Rechtsanwältin nachfolgend wieder zur erneuten Wiedervorlage erst auf den 5. August 2013, den Tag des Ablaufs der Berufungsbegründungsfrist, wegverfügt worden wäre, sei weder dargelegt noch glaubhaft gemacht. Bei dieser Sachlage sei es der sachbearbeitenden Rechtsanwältin in Kenntnis des Serverausfalls aber noch am 5. August 2013 unschwer möglich gewesen, zumindest die ihr vorliegenden Handakten händisch auf etwaige bevorstehende Fristabläufe zu kontrollieren. Dass mit derartigen Fristabläufen zu rechnen gewesen sei, sei der sachbearbeitenden Rechtsanwältin aufgrund des ihr in dem Parallelverfahren erinnerlichen Fristablaufs ebenfalls am 5. August 2013 bekannt gewesen und habe sich auch bereits daraus ergeben, dass die ihr in den Vortagen zur Bearbeitung vorgelegten Handakten naturgemäß zumindest zum Teil ebenfalls aufgrund entsprechend notierter Vorfristen vorgelegt worden seien. Dass es der sachbearbeitenden Rechtsanwältin gegebenenfalls unter Hinzuziehung weiterer Mitarbeiter in der Zeit vom Morgen des 5. August 2013 bis zum Ende dieses Tages nicht möglich gewesen wäre, auch nur die ihr vorliegenden Handakten auf entsprechende Fristabläufe hin zu prüfen, sei trotz der mit richterlicher Verfügung vom 29. August 2013 an die Prozessbevollmächtigten der Klägerin ergangenen Aufforderung zur ergänzenden Darlegung nicht ausreichend dargetan worden. Das nicht näher substantiierte Vorbringen, es seien in der Kanzlei ihrer Prozessbevollmächtigten an jedem Tag „extrem viele“ Fristabläufe zu beachten und zu bearbeiten, ersetze entsprechende Darlegungen und deren Glaubhaftmachung nicht.

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2. Diese Ausführungen halten der rechtlichen Nachprüfung stand. Das Berufungsgericht hat die beantragte Wiedereinsetzung zu Recht versagt. Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand setzt nach § 233 Satz 1 ZPO voraus, dass die Partei ohne ihr Verschulden gehindert war, die versäumte Frist einzuhalten. Diese Voraussetzung ist hier nicht erfüllt, weil nicht auszuschließen ist, dass an der Fristversäumung ursächlich eine schuldhafte Pflichtenverletzung der Prozessbevollmächtigten der Klägerin mitgewirkt hat; diese muss sich die Klägerin nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen. Die Klägerin hat nicht dargetan, dass ihre Prozessbevollmächtigte das ihr Mögliche und Zumutbare zur Fristwahrung getan hat, als am 5. August 2013 der Zugriff auf den Fristenkalender aufgrund eines Computerdefekts nicht möglich war.

8

a) Nach gefestigter Rechtsprechung verlangt die Sorgfaltspflicht des Rechtsanwalts in Fristensachen zuverlässige Vorkehrungen, um den rechtzeitigen Ausgang fristwahrender Schriftsätze sicherzustellen. Zu den Aufgaben des Rechtsanwalts gehört es deshalb, durch entsprechende Organisation seines Büros dafür zu sorgen, dass die Fristen ordnungsgemäß eingetragen und beachtet werden. Der Anwalt hat sein Möglichstes zu tun, um Fehlerquellen bei der Eintragung und Behandlung von Fristen auszuschließen (BGH, Beschluss vom 8. April 1997 - VI ZB 8/97, NJW 1997, 2120, 2121; Beschluss vom 13. Juli 2010 - VI ZB 1/10, NJW 2011, 151 Rn. 6). Ein bestimmtes Verfahren ist insoweit zwar weder vorgeschrieben noch allgemein üblich. Auf welche Weise der Anwalt sicherstellt, dass die Eintragung im Fristenkalender und die Wiedervorlage der Handakten rechtzeitig erfolgen, steht ihm grundsätzlich frei (BGH, Beschluss vom 13. Juli 2010 - VI ZB 1/10, NJW 2011, 151 Rn. 6 mwN). Sämtliche organisatorischen Maßnahmen müssen aber so beschaffen sein, dass auch bei unerwarteten Störungen des Geschäftsablaufs, etwa durch Überlastung oder Erkrankung der zuständigen Angestellten, Verzögerungen der anwaltlichen Bearbeitung oder ähnliche Umstände, bei Anlegung eines äußersten Sorgfaltsmaßstabs die Einhaltung der anstehenden Frist gewährleistet ist (BGH, Beschluss vom 22. Juni 2010 - VIII ZB 12/10, NJW 2010, 3305 Rn. 12; Beschluss vom 13. Juli 2010 - VI ZB 1/10, NJW 2011, 151 Rn. 6).

9

Führt der Anwalt einen elektronischen Kalender, darf diese Organisation keine hinter der manuellen Führung zurückbleibende Überprüfungssicherheit bieten (BGH, Beschluss vom 12. Oktober 1998 - II ZB 11/98, NJW 1999, 582, 583; Beschluss vom 2. März 2000 - V ZB 1/00, NJW 2000, 1957; Beschluss vom 2. Februar 2010 - XI ZB 23/08 und XI ZB 24/08, NJW 2010, 1363 Rn. 12; Beschluss vom 21. Dezember 2010 - IX ZB 115/10, HFR 2011, 706 Rn. 9; Beschluss vom 27. März 2012 - II ZB 10/11, NJW-RR 2012, 745 Rn. 7; Beschluss vom 17. April 2012 - VI ZB 55/11, NJW-RR 2012, 1085 Rn. 8; Beschluss vom 4. November 2014 - VIII ZB 38/14, WM 2014, 2388 Rn. 10). Das Gleiche gilt für die Handakte; wird diese allein elektronisch geführt, muss sie ihrem Inhalt nach der herkömmlich geführten entsprechen. Sie muss insbesondere zu Rechtsmittelfristen und deren Notierung ebenso wie diese verlässlich Auskunft geben können und darf keine geringere Überprüfungssicherheit bieten als ihr analoges Pendant (BGH, Beschluss vom 9. Juli 2014 - XII ZB 709/13, NJW 2014, 3102 Rn. 13).

10

b) Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ist davon auszugehen, dass der sachbearbeitenden Rechtsanwältin die Handakte des vorliegenden Berufungsverfahrens aufgrund der auf den 29. Juli 2013 notierten Vorfrist an diesem Tag zur Bearbeitung vorgelegt wurde und es weder dargelegt noch glaubhaft gemacht ist, dass die Handakte von der sachbearbeitenden Rechtsanwältin nachfolgend wieder zur erneuten Wiedervorlage erst auf den 5. August 2013 wegverfügt wurde. Für die rechtliche Beurteilung im Rechtsbeschwerdeverfahren ist von diesen von der Rechtsbeschwerde nicht angegriffenen Feststellungen auszugehen.

11

Bei dieser Sachlage hat das Berufungsgericht entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde die Anforderungen an die Sorgfaltspflicht der Prozessbevollmächtigten der Klägerin nicht überspannt, wenn es von der sachbearbeitenden Rechtsanwältin erwartet, dass die ihr vorliegenden - nicht alle, wie die Rechtsbeschwerde unterstellt - Handakten händisch auf etwaige Fristabläufe hin kontrolliert werden. Treten Störungen in der Organisation des Büros auf, die dazu führen können, dass die Pflichten des Anwalts bei der Fristenkontrolle nicht erfüllt werden, erhöhen sich seine Sorgfaltspflichten. Er muss sicherstellen, dass seine Angestellten ihre Aufgaben auch dann zuverlässig erfüllen, wenn das zur Fristenkontrolle eingerichtete System aufgrund eines Computerdefekts vorübergehend nicht zuverlässig funktioniert (vgl. BGH, Beschluss vom 1. April 1965 - II ZB 11/64, VersR 1965, 596 f.; Beschluss vom 26. August 1999 - VII ZB 12/99, NJW 1999, 3783; Beschluss vom 15. September 2014 - II ZB 12/13, juris Rn. 13; BFH, Beschluss vom 23. Dezember 2005 - VI R 79/04, BFH/NV 2006, 787 Rn. 12; Beschluss vom 17. Juli 2006 - VII B 291/05, BFH/NV 2006, 1876 Rn. 7). Die Durchsicht der vorgelegten Handakten drängt sich insbesondere deshalb auf, weil die Einhaltung der Berufungsbegründungsfrist durch eine ausreichende Vorfrist sicherzustellen ist (statt anderer Nachweise BGH, Beschluss vom 24. Januar 2012 - II ZB 3/11, NJW-RR 2012, 747 Rn. 9), so dass die Prozessbevollmächtigte der Klägerin damit rechnen musste, dass sich unter den ihr vorliegenden Handakten solche befinden, die ihr aufgrund der Vorfrist im Hinblick auf den bevorstehenden Ablauf der Berufungsbegründungsfrist vorgelegt worden sind. Dies gilt vorliegend erst recht, weil nach dem Wiedereinsetzungsvorbringen der Klägerin mit solchen Fristabläufen konkret zu rechnen gewesen ist.

12

Die Klägerin hat nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht dargelegt, dass ihrer Prozessbevollmächtigten die händische Durchsicht der ihr vorliegenden Handakten auf Fristabläufe tatsächlich nicht möglich gewesen wäre, sondern sie hat nur ohne die eine Beurteilung ermöglichende Substanz behauptet, es seien in der Kanzlei ihrer Prozessbevollmächtigten an jedem Tag „extrem viele“ Fristabläufe zu beachten und zu bearbeiten gewesen.

13

c) Danach kommt es nicht darauf an, ob das von der Rechtsbeschwerde in Bezug genommene Wiedereinsetzungsvorbringen den Anforderungen genügt, die im Falle eines auf einen vorübergehenden Computerabsturz gestützten Wiedereinsetzungsantrags an die substantiierter Darlegung der Art des Defekts und seiner Behebung zu stellen sind (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Mai 2004 - II ZB 22/03, NJW 2004, 2525 Rn. 8; BFH, Beschluss vom 23. Dezember 2005 - VI R 79/04, BFH/NV 2006, 787 Rn. 14; Beschluss vom 17. Juli 2006 - VII B 291/05, BFH/NV 2006, 1876 Rn. 5). Denn das der Klägerin zuzurechnende Verschulden ihrer Prozessbevollmächtigten liegt nicht in dem Versuch der Beseitigung der Überspannungsschäden an dem Kanzleiserver.

Bergmann                 Caliebe                      Drescher

                   Born                     Sunder