Entscheidungsdatum: 12.11.2013
Überlässt ein Rechtsanwalt die Berechnung und Notierung von Fristen einer gut ausgebildeten, als zuverlässig erprobten und sorgfältig überwachten Bürokraft, hat er die erforderliche eigenverantwortliche Gegenkontrolle so zu organisieren, dass es ihm anhand der Vermerke in der Handakte auch möglich ist zu überprüfen, ob die notierten Fristen richtig berechnet sind.
Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten wird der Beschluss des 13. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Dresden vom 19. Juli 2012 aufgehoben.
Der Beklagten wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Frist zur Begründung der Berufung gegen das Urteil der 3. Zivilkammer des Landgerichts Görlitz - Kammer für Handelssachen - vom 1. Februar 2012 gewährt.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Gegenstandswert der Rechtsbeschwerde: 7.500 €
I. Mit Urteil vom 1. Februar 2012, der Beklagten zugestellt am 4. Februar 2012, hat das Landgericht einen Beschluss der Gesellschafterversammlung der Beklagten über die Abberufung des Klägers als Geschäftsführer für nichtig erklärt. Gegen das Urteil hat die Beklagte am 5. März 2012, einem Montag, Berufung eingelegt. Mit Verfügung vom 5. April 2012 wurde der Prozessbevollmächtigte der Beklagten darauf hingewiesen, dass bisher keine Berufungsbegründung eingegangen sei. Mit Schriftsatz vom selben Tag, bei Gericht eingegangen am 10. April 2012, hat der Prozessbevollmächtigte der Beklagten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und mit gesondertem, auf den 4. April 2012 datiertem Schriftsatz die Berufung begründet.
Zur Begründung des Wiedereinsetzungsgesuchs hat die Beklagte im Wesentlichen ausgeführt: Die Berufungsbegründungsfrist sei aufgrund eines Kanzleiversehens ihres Prozessbevollmächtigten versäumt worden. Eine zuverlässige, in der Berechnung und Einhaltung von Fristen erfahrene und regelmäßig überwachte Hilfskraft habe die Frist im elektronischen Kalender falsch notiert. Ihr Prozessbevollmächtigter habe ausdrücklich auf der Ausfertigung des Urteils die folgende Verfügung getroffen:
1) o Mdt. (das bedeute: „Abschrift an die Mandantin“)
2) zdA (das bedeute: „zu den Akten“)
3) Frist not. (das bedeute: „Frist notieren“) Berufung +
Berufungsbegründung
4) WV (das bedeute: „Wiedervorlage“)
Vorsorglich habe ihr Prozessbevollmächtigter auch die Fristlängen angegeben. Es finde sich ein Pfeil auf „Berufung“ mit der Angabe „F: 1 Mon“, was für „Frist beträgt 1 Monat“ stehe, und ein weiterer Pfeil auf „Begründung“ mit der Angabe „F: 2 Monate“, was für „Frist beträgt 2 Monate“ stehe. Vorsorglich habe ihr Prozessbevollmächtigter sogar noch notiert: „Achtung WE!! F: 05.03. Berufung“. Damit habe er darauf hingewiesen, dass der Fristablauf für die Berufung an einem Wochenende liege und dass daher der 5. März der Tag des Fristablaufs sei. Dieses Hinweises habe es gar nicht bedurft, weil in der Kanzlei ihres Prozessbevollmächtigten das Rechtsanwaltsprogramm „Renoflex“ benutzt werde, das selbständig erkenne, ob die Frist an einem Wochenende, und die Frist dann entsprechend bemesse und erfasse. Bei der anschließenden Wiedervorlage habe ihr Prozessbevollmächtigter erkennen können, dass die einzelnen Punkte der Verfügung von der sachbearbeitenden Hilfskraft mit Erledigungshäkchen versehen worden seien.
Bei der Eingabe der Frist für die Begründung habe die Hilfskraft entgegen der ausdrücklichen Weisung nicht als Anfangsdatum den Tag der Zustellung eingegeben und dazu die Frist „2 Monate“, sondern als Anfangsdatum das Datum des Ablaufs der Frist für die Einlegung der Berufung und dazu die Frist „1 Monat“. Daher sei im elektronischen Fristenkalender als Tag des Fristablaufs der 5. April 2012 notiert worden und nicht der 4. April 2012.
Es komme hinzu, dass der Prozessbevollmächtigte der Beklagten am 4. April 2012 krankheitsbedingt nicht im Büro gewesen sei, er also auch dann, wenn die Frist ordnungsgemäß notiert worden wäre, den bereits vor dem 4. April 2012 diktierten und am 4. April 2012 geschriebenen und ausgedruckten Schriftsatz nicht hätte unterschreiben können und die Frist dann - ebenfalls entschuldigt - versäumt worden wäre. Allerdings hätte ihr Prozessbevollmächtigter in diesem Fall telefonisch am 4. April 2012 das Berufungsgericht von seiner Verhinderung in Kenntnis gesetzt und um Fristverlängerung gebeten.
Das Berufungsgericht hat den Antrag der Beklagten auf Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Beklagten.
II. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses, zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Begründung der Berufung sowie zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
1. Die Rechtsbeschwerde der Beklagten, die sich gegen die Abweisung der beantragten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und gegen die Verwerfung der Berufung als unzulässig richtet, ist nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthaft. Sie ist auch im Übrigen zulässig, weil eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung gefordert ist (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO). Die angegriffene Entscheidung verletzt den verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch der Beklagten auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip). Dieses Verfahrensgrundrecht verbietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise zu erschweren (vgl. BVerfG, NJW 2010, 2567 Rn. 14; BGH, Beschluss vom 23. April 2013 - II ZB 21/11, ZIP 2013, 1494 Rn. 7 mwN).
2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Der Beklagten ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, weil sie ohne ihr Verschulden daran gehindert war, die Frist zur Begründung der Berufung einzuhalten (§ 233 ZPO).
a) Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:
Es könne dahinstehen, ob die Beklagte ausreichend glaubhaft gemacht habe, dass das Ende der Berufungsbegründungsfrist aufgrund eines Versehens einer zuverlässigen, in der Berechnung von Fristen erfahrenen und regelmäßig überwachten Kanzleikraft im Fristenkalender falsch notiert worden sei. Denn ihrem Prozessbevollmächtigten falle ein eigenes Verschulden zur Last, da er seine Pflicht zur eigenverantwortlichen Prüfung der richtigen Notierung des Endes der Berufungsbegründungsfrist verletzt habe. Nicht ausreichend sei hierzu, dass der Prozessbevollmächtigte die Bearbeitung seiner auf der Urteilsausfertigung vorgenommenen Verfügung anhand der Erledigungshäkchen wahrgenommen habe. Vielmehr hätte er eigenverantwortlich prüfen müssen, ob die Frist richtig ermittelt und eingetragen worden sei.
Am Verschulden des Prozessbevollmächtigten der Beklagten ändere es nichts, dass dieser am Tag des Fristablaufs krankheitsbedingt die Berufungsbegründungsschrift ohnehin nicht hätte unterzeichnen können. Der krankheitsbedingte Ausfall des Prozessbevollmächtigten der Beklagten am letzten Tag der Berufungsbegründungsfrist rechtfertige für sich allein nicht die Gewährung der Wiedereinsetzung. Ob und welche Vorkehrungen er für diesen Fall getroffen habe, trage die Beklagte nicht vor. Ihr Prozessbevollmächtigter wäre auch in der Lage gewesen, einen Vertreter zu informieren.
b) Die Beklagte hat die Frist zur Berufungsbegründung nach § 520 Abs. 2 ZPO versäumt. Die zweimonatige Berufungsbegründungsfrist begann gemäß § 520 Abs. 2 Satz 1 ZPO mit der Zustellung des Urteils des Landgerichts am 4. Februar 2012. Sie ist gemäß § 222 Abs. 1 ZPO, § 188 Abs. 2 BGB am 4. April 2012, einem Mittwoch, abgelaufen. Innerhalb dieser Frist ist keine Berufungsbegründung eingegangen.
c) Im Ausgangspunkt richtig geht das Berufungsgericht davon aus, dass der Prozessbevollmächtigte der Beklagten seine Pflicht zur eigenverantwortlichen Prüfung der richtigen Notierung des Endes der Berufungsbegründungsfrist verletzt hat.
aa) Die Sorgfaltspflicht in Fristsachen verlangt von einem Rechtsanwalt, alles ihm Zumutbare zu tun, um die Wahrung von Rechtsmittelfristen zu gewährleisten. Überlässt er die Berechnung und Notierung von Fristen einer gut ausgebildeten, als zuverlässig erprobten und sorgfältig überwachten Bürokraft, hat er durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, dass die Fristen zuverlässig festgehalten und kontrolliert werden. Zu den zur Ermöglichung einer Gegenkontrolle erforderlichen Vorkehrungen im Rahmen der Fristenkontrolle gehört insbesondere, dass die Rechtsmittelfristen in der Handakte notiert werden und die Handakte durch entsprechende Erledigungsvermerke oder auf sonstige Weise erkennen lässt, dass die Fristen in den Fristenkalender eingetragen worden sind (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Februar 2003 - VIII ZB 115/02, NJW 2003, 1815, 1816; Beschluss vom 22. Januar 2008 - VI ZB 46/07, NJW 2008, 1670 Rn. 6; Beschluss vom 8. Februar 2010 - II ZB 10/09, MDR 2010, 533 Rn. 7; Beschluss vom 22. September 2011 - III ZB 25/11, juris Rn. 8). Wird dem Rechtsanwalt die Sache im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Prozesshandlung zur Bearbeitung vorgelegt, hat er die Einhaltung seiner Anweisungen zur Berechnung und Notierung laufender Rechtsmittelfristen einschließlich deren Eintragung in den Fristenkalender eigenverantwortlich zu prüfen, wobei er sich grundsätzlich auf die Prüfung der Vermerke in der Handakte beschränken darf (BGH, Beschluss vom 22. Januar 2008 - VI ZB 46/07, NJW 2008, 1670 Rn. 6; Beschluss vom 8. Februar 2010 - II ZB 10/09, MDR 2010, 533 Rn. 7; Beschluss vom 25. Oktober 2012 - IX ZB 124/10, juris Rn. 5).
Zu Recht weist die Rechtsbeschwerde darauf hin, dass die Frist und ihre Eintragung im Fristenkalender nicht in jedem Fall auf dem Handaktenbogen notiert werden müssen. Auch die Anbringung entsprechender Vermerke auf dem jeweiligen Schriftstück genügt den an eine ordnungsgemäße Organisation des Fristenwesens zu stellenden Anforderungen (BGH, Beschluss vom 22. Januar 2008 - VI ZB 46/07, NJW 2008, 1670 Rn. 1, 8; Beschluss vom 26. Januar 2009 - II ZB 6/08, NJW 2009, 1083, Rn. 11).
bb) Die erforderliche eigenverantwortliche Prüfung konnte der Prozessbevollmächtigte der Beklagten jedoch nicht vornehmen. Die Überprüfungspflicht erstreckt sich auch darauf, ob das (zutreffend errechnete) Fristende im Fristenkalender notiert worden ist (BGH, Beschluss vom 22. Januar 2008 - VI ZB 46/07, NJW 2008, 1670 Rn. 6). Nach dem Wiedereinsetzungsvorbringen der Beklagten hat die Büroangestellte ihres Prozessbevollmächtigten aber nicht das von ihr errechnete Ende der Berufungsbegründungsfrist auf der Ausfertigung des Urteils notiert und so einer Überprüfung durch den Prozessbevollmächtigten zugänglich gemacht. Sie hat mittels des von ihr angebrachten Erledigungsvermerks nur bestätigt, dass sie die Frist (vermeintlich) richtig berechnet und in den Fristenkalender eingetragen habe. Eine eigenverantwortliche Überprüfung durch den Prozessbevollmächtigten, ob die Frist auch richtig berechnet wurde, gestattet dieses Vorgehen nicht.
d) Der Organisationsmangel ist jedoch für die Fristversäumung nicht ursächlich geworden. Die Beklagte hat glaubhaft gemacht, dass ihr Prozessbevollmächtigter selbst bei ordnungsgemäßer Notierung des Fristendes auf den 4. April 2012 unverschuldet nicht in der Lage gewesen wäre, die Frist einzuhalten, weil es ihm an diesem Tag aufgrund einer unvorhergesehenen kurzfristigen Erkrankung nicht möglich gewesen wäre, den bereits gefertigten Schriftsatz zu unterschreiben.
aa) Allerdings hat ein Rechtsanwalt im Rahmen seiner Organisationspflichten grundsätzlich auch dafür Vorkehrungen zu treffen, dass im Falle einer Erkrankung ein Vertreter die notwendigen Prozesshandlungen wahrnimmt (BGH, Beschluss vom 5. April 2011 - VIII ZB 81/10, NJW 2011, 1601 Rn. 18; Beschluss vom 7. August 2013 - XII ZB 533/10, NJW 2013, 3183 Rn. 10). Auf einen krankheitsbedingten Ausfall muss sich der Rechtsanwalt aber nur dann durch konkrete Maßnahmen vorbereiten, wenn er eine solche Situation vorhersehen kann. Wird er dagegen unvorhergesehen krank, gereicht ihm eine unterbleibende Einschaltung eines Vertreters nicht zum Verschulden, wenn ihm diese weder möglich noch zumutbar war (BGH, Beschluss vom 18. September 2008 - V ZB 32/08, NJW 2008, 3571 Rn. 9; Beschluss vom 6. Juli 2009 - II ZB 1/09, NJW 2009, 3037 Rn. 10; Beschluss vom 5. April 2011 - VIII ZB 81/10, NJW 2011, 1601 Rn. 18; Beschluss vom 7. August 2013 - XII ZB 533/10, NJW 2013, 3183 Rn. 10).
bb) So liegt der Fall hier. Die Beklagte hat durch Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung ihres Prozessbevollmächtigten in der Beschwerdeinstanz ihr Wiedereinsetzungsvorbringen konkretisiert und glaubhaft gemacht, dass ihr Anwalt am Tag des Fristablaufs plötzlich und unvorhergesehen erkrankt war. Er musste sich mehrfach übergeben und litt unter einem Schwindelgefühl, so dass er sich nicht in der Lage sah, in sein Büro zu fahren. Es liegen keine Umstände vor, die die kurzfristige Einschaltung eines Vertreters möglich oder zumutbar erscheinen lassen.
Es gereicht der Beklagten auch nicht zum Nachteil, dass ihr Prozessbevollmächtigter - wenn die Frist richtig notiert worden wäre - nach seinem Vorbringen trotz seiner Erkrankung willens und in der Lage gewesen wäre, telefonisch einen Fristverlängerungsantrag zu stellen. Denn dies wäre keine zur Vermeidung einer Fristversäumung geeignete Maßnahme gewesen.
Wenn ein Rechtsanwalt erkennt, dass er eine Frist zur Rechtsmittelbegründung nicht einhalten kann, muss er zwar durch einen rechtzeitig gestellten Antrag auf Fristverlängerung dafür Sorge tragen, dass ein Wiedereinsetzungsgesuch gar nicht erst notwendig wird (BGH, Beschluss vom 1. Juli 2013 - VI ZB 18/12, NJW 2013, 3181 Rn. 9). Der Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist unterliegt jedoch dem Anwaltszwang, bedarf der Schriftform und muss daher vom Berufungsanwalt unterzeichnet sein (BGH, Beschluss vom 23. Januar 1985 - VIII ZB 18/84, BGHZ 93, 300, 303 f.; Beschluss vom 22. Oktober 1997 - VIII ZB 32/97, NJW 1998, 1155, 1156; MünchKommZPO/Rimmelspacher, 4. Aufl., § 520 Rn. 8; Musielak/Ball, ZPO, 10. Aufl., § 520 Rn. 7). Dazu war der Prozessbevollmächtigte der Beklagten nach seiner eidesstattlichen Versicherung nicht in der Lage.
III. Gemäß § 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO ist der angefochtene Beschluss aufzuheben. Da die Sache hinsichtlich des Wiedereinsetzungsantrags zur Entscheidung reif ist, entscheidet der Senat gemäß § 577 Abs. 5 Satz 1 ZPO insoweit abschließend. Im Übrigen ist die Sache zur erneuten Entscheidung gemäß § 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Bergmann Caliebe Drescher
Born Sunder