Entscheidungsdatum: 24.11.2010
Die Revision gegen das Urteil des 6. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 11. Dezember 2009 wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Die Parteien, zwei pharmazeutische Unternehmen, vertreiben Darmreinigungspräparate in Pulverform, die in drei bis vier Liter Wasser aufgelöst einzunehmen sind. Die Präparate enthalten als wirksame Bestandteile jeweils Macrogol 3350, Natriumchlorid, Natriumhydrogencarbonat sowie Kaliumchlorid in nahezu identischer Dosierung und dienen der Vorbereitung von Darmspiegelungen (Koloskopien) und von operativen Eingriffen im Darmbereich, die die vollständige Entleerung des Darms voraussetzen. Das von der Klägerin vertriebene Präparat ist als Arzneimittel zugelassen. Die Beklagte vertreibt ihr Präparat als Medizinprodukt der Risikoklasse IIa. Die Klägerin ist der Ansicht, dass das Präparat der Beklagten ebenfalls ein zulassungspflichtiges Arzneimittel sei, und hält das Verhalten der Beklagten daher für rechts- und wettbewerbswidrig. Sie hat die Beklagte auf Unterlassung des Inverkehrbringens und der Bewerbung ihres Präparats, Auskunftserteilung über den Umfang und Feststellung der Schadensersatzpflicht in Anspruch genommen.
Das Landgericht hat das Präparat der Beklagten als Arzneimittel eingeordnet und der Klage daher stattgegeben (LG Köln, PharmR 2009, 570). Die Berufung der Beklagten ist ohne Erfolg geblieben (OLG Köln, PharmR 2010, 73).
Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision, deren Zurückweisung die Klägerin beantragt, verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Klageabweisung weiter.
I. Das Berufungsgericht hat das Produkt der Beklagten in Übereinstimmung mit dem Landgericht als Funktionsarzneimittel eingeordnet, das ohne entsprechende Zulassung weder vertrieben noch beworben werden dürfe. Zur Begründung hat es ausgeführt:
Nach der ursprünglichen Fassung des Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 2001/83/EG zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel seien Arzneimittel unter anderem alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die dazu bestimmt seien, zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen physiologischen Funktionen angewandt zu werden. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union seien dabei alle Merkmale des Stoffs zu berücksichtigen; eine pharmakologische Eigenschaft sei anzunehmen, wenn der Stoff geeignet sei, sich auf Körperfunktionen in nennenswertem Umfang auszuwirken. Gemäß dem mit der Richtlinie 2004/27/EG in die Richtlinie 2001/83/EG eingefügten Zusatz, dass die Einwirkung auf die menschlichen physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung erfolgen müsse, seien nunmehr auch die immunologischen und metabolischen Eigenschaften des Stoffs sowie die Entstehung neuer Therapien und die steigende Zahl so genannter Grenzprodukte zu berücksichtigen; die insoweit vorgenommene Änderung diene aber lediglich der Klarstellung. Entsprechend einer in der medizinischen Wissenschaft verbreiteten Definition seien als "pharmakologisch" die tatsächlichen Wirkungszusammenhänge zwischen einem dem Organismus zugeführten Stoff und der Reaktion des Organismus zu bezeichnen. Da der zugeführte Stoff die Funktionsbedingungen des Stoffwechsels nur "nennenswert" bzw. "wirklich" beeinflussen müsse, könne auch ein zunächst physikalisch wirkendes Mittel pharmakologische Wirkung haben. Dass ein Molekül der aufgenommenen Substanz die Reaktion eines Zellbestandteils unmittelbar hervorrufe, sei nicht erforderlich. Im Blick auf das Ziel, Gesundheitsschutz und Warenverkehrsfreiheit zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen, sei auch nach der Änderung des Gemeinschaftskodexes eine Gesamtabwägung im Einzelfall geboten. Danach sei ein Mittel ein Arzneimittel, das wie das Präparat der Beklagten zu derart heftigen Reaktionen des Organismus führe, dass der hervorgerufene Zustand als pathologisch zu bewerten sei, und sich auch im Übrigen als Arzneimittel darstelle. Mögliche Zweifel hinsichtlich der Einordnung des Präparats der Beklagten als Arzneimittel oder Medizinprodukt gingen nach der Zweifelsregel des durch die Richtlinie 2004/27/EG geänderten Art. 2 Abs. 2 RL 2001/83/EG zu Lasten der Beklagten.
II. Die gegen diese Beurteilung gerichtete Revision der Beklagten ist nicht begründet.
1. Für die im Grenzbereich zwischen Arzneimitteln und Medizinprodukten vorzunehmende Einordnung eines Produkts als Funktionsarzneimittel im Sinne von § 2 Abs. 2 AMG aF und § 2 Abs. 1 Nr. 2 AMG nF oder aber als Medizinprodukt im Sinne von § 3 Nr. 1 Buchst. a MPG kommt es auf die bestimmungsgemäße Hauptwirkung des Produkts an: Wirkt das Präparat vor allem auf pharmakologischem oder immunologischem Weg oder durch Metabolismus, handelt es sich um ein Arzneimittel (vgl. Art. 1 Nr. 2 Buchst. b RL 2001/83/EG; Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 93/42/EWG über Medizinprodukte; BGH, Urteil vom 9. Juli 2009 - I ZR 193/06, GRUR 2010, 169 Rn. 14 = WRP 2010, 247 - CE-Kennzeichnung; Urteil vom 10. Dezember 2009 - I ZR 189/07, GRUR 2010, 754 Rn. 16 = WRP 2010, 869 - Golly Telly; Urteil vom 24. Juni 2010 - I ZR 166/08, GRUR 2010, 1026 Rn. 14 = WRP 2010, 1393 - Photodynamische Therapie). Erreicht das Produkt seine Hauptwirkung dagegen auf physikalischem Weg, liegt grundsätzlich ein Medizinprodukt vor. Abweichendes gilt für Mittel, die zwar die begrifflichen Voraussetzungen von Medizinprodukten erfüllen, die jedoch dazu bestimmt sind, durch Anwendung am oder im Körper dessen Beschaffenheit, Zustand oder Funktionen oder seelische Zustände erkennen zu lassen; sie sind diagnostische Arzneimittel (vgl. Art. 1 Nr. 2 Buchst. b RL 2001/83/EG; § 2 Abs. 3 Nr. 7 AMG iVm § 2 Abs. 1 Nr. 2 AMG aF bzw. § 2 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b AMG nF; § 2 Abs. 5 Nr. 1 MPG; BGH, GRUR 2010, 169 Rn. 15 - CE-Kennzeichnung; GRUR 2010, 754 Rn. 17 - Golly Telly).
Bei der jeweils im Einzelfall zu treffenden Entscheidung, ob ein Erzeugnis ein Funktionsarzneimittel oder ein Medizinprodukt ist, sind im Übrigen alle Merkmale des Erzeugnisses zu berücksichtigen. Dies gilt insbesondere für seine Zusammensetzung, seine pharmakologischen, immunologischen und metabolischen Eigenschaften - wie sie sich beim jeweiligen Stand der Wissenschaft feststellen lassen -, die Modalitäten seines Gebrauchs, den Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern und die Risiken, die seine Verwendung mit sich bringen kann (EuGH, Urteil vom 5. März 2009 - C-88/07, Slg. 2009, I-1353 = ZLR 2009, 321 Rn. 72 - Kommission/Königreich Spanien, mwN; Urteil vom 30. April 2009 - C-27/08, Slg. 2009, 3785 = GRUR 2009, 790 Rn. 18 - BIOS Naturprodukte).
Nach Art. 2 Abs. 2 RL 2001/83/EG in der durch die Richtlinie 2004/27/EG geänderten Fassung gilt die Richtlinie 2001/83/EG in Zweifelsfällen, in denen ein Erzeugnis unter Berücksichtigung aller seiner Eigenschaften sowohl unter die Arzneimitteldefinition in Art. 1 Nr. 2 RL 2001/83/als auch unter die Definition eines durch andere Vorschriften des Unionsrechts geregelten Erzeugnisses fallen kann. Diese Regelung, die mit der am 23. Juli 2009 in Kraft getretenen Bestimmung des § 2 Abs. 3a AMG nunmehr auch in das deutsche Recht umgesetzt worden ist, hat zwar nicht zur Folge, dass die Anforderungen für eine Einordnung des Produkts als Arzneimittel abgesenkt werden. Die Vorrangregelung für das Arzneimittelrecht kommt vielmehr nur dann zur Anwendung, wenn die Arzneimitteleigenschaft des Produkts festgestellt ist; denn andernfalls würden die strengeren Vorschriften des Arzneimittelregimes auf Sachverhalte erstreckt und der freie Warenverkehr damit behindert, ohne dass hierfür eine ausreichende Rechtfertigung aus Gründen des Gesundheitsschutzes vorliegen würde (vgl. EuGH, Urteil vom 15. Januar 2009 - C-140/07, Slg. 2009, I-41 = GRUR 2009, 511 Rn. 23 ff. - Hecht-Pharma/Gewerbeaufsichtsamt Lüneburg; EuGH, ZLR 2009, 321 Rn. 79 - Kommission/Königreich Spanien; BGH, GRUR 2010, 1026 Rn. 18 - Photodynamische Therapie). Die Vorschrift des Art. 2 Abs. 2 RL 2001/83/EG bestimmt aber - abgesehen von der durch sie angeordneten vorrangigen Anwendung des Arzneimittelrechts - immerhin auch, dass bei der Beurteilung der Frage, ob ein Produkt ein Funktionsarzneimittel ist, nicht allein seine unmittelbaren Wirkungen, sondern ebenso seine Neben- und Folgewirkungen zu berücksichtigen sind. Ein Produkt ist daher auch dann ein Arzneimittel, wenn es durch seine auf physikalischem Gebiet liegende primäre Wirkung eine auf pharmakologischem Gebiet liegende weitere Wirkung auslöst und diese weitere Wirkung die bestimmungsgemäße Hauptwirkung darstellt (BGH, GRUR 2010, 1026 Rn. 15 ff. - Photodynamische Therapie; vgl. auch BGH, Urteil vom 5. Oktober 2010 - I ZR 90/08, GRUR 2010, 1140 Rn. 12 f. = WRP 2010, 1479 - Mundspüllösung, zur Abgrenzung zwischen Arzneimitteln und kosmetischen Mitteln). Ein Medizinprodukt ist es dagegen dann, wenn seine auf physikalischem Gebiet liegende Wirkungsweise durch pharmakologisch oder immunologisch oder metabolisch wirkende Mittel lediglich unterstützt wird (§ 3 Nr. 1 MPG; BGH, GRUR 2010, 754 Rn. 16 - Golly Telly; GRUR 2010, 1026 Rn. 14 - Photodynamische Therapie).
2. Das Berufungsgericht hat das Produkt der Beklagten nach Maßgabe dieser Grundsätze ohne Rechtsfehler als ein (Funktions-)Arzneimittel eingeordnet, das ohne eine entsprechende Zulassung weder vertrieben noch beworben werden darf (§ 21 Abs. 1 AMG; § 3a Satz 1 HWG).
a) Nach den vom Berufungsgericht in tatsächlicher Hinsicht getroffenen Feststellungen wirkt sich das streitgegenständliche Mittel in ganz erheblichem Maß auf Körperfunktionen aus, indem es zu einer dem normalen Verlauf nicht entsprechenden Entleerung des Darms führt und so auf einen physiologischen Vorgang einwirkt, der durch eine Aufnahme von Nahrungsmitteln in dieser Weise nicht ausgelöst werden kann. Seine damit gegebene pharmakologische Wirkung spreche - so das Berufungsgericht - ebenso für seine Einordnung als Arzneimittel wie der Umstand, dass das Mittel erhebliche Nebenwirkungen habe, die die Gesundheit gefährdeten; außerdem werde es in einer für Arzneimittel typischen Weise eingenommen.
b) Die Revision nimmt die tatrichterliche Beurteilung hin, die das Berufungsgericht insoweit unter Bezugnahme auf entsprechende Feststellungen im Urteil des Landgerichts vorgenommen hat, das sich dabei seinerseits auf die Ausführungen des von ihm beauftragten Sachverständigen Prof. Dr. F. gestützt hat. Sie macht lediglich geltend, das Berufungsgericht habe seiner Gesamtabwägung ein unzutreffendes Verständnis des Begriffs der pharmakologischen Wirkung zugrunde gelegt, weil es ausschließlich auf die spezifischen Wirkungsläufe und insbesondere bei der bestimmungsgemäßen Hauptwirkung nicht auf die weitere Wirkung des Mittels ankomme, sondern allein auf die zunächst ausgelöste primäre Wirkung. Die Revision hat damit, wie im Wesentlichen bereits aus den Ausführungen zu vorstehend II 1 (Rn. 7 ff.) folgt, keinen Erfolg. Darüber hinaus geben ihre Rügen noch zu folgenden ergänzenden Ausführungen Anlass:
aa) Der Senatsentscheidung "Golly Telly", auf die sich die Revision wiederholt beruft, betraf zwar ein Mittel, das ebenfalls den Wirkstoff Macrogol enthielt und für dieselben Anwendungsgebiete bestimmt war wie das Präparat der Beklagten. Sie bezog sich aber gleichwohl auf einen abweichend gelagerten Sachverhalt, und zwar insofern, als nach den im dortigen Verfahren getroffenen Feststellungen - anders als im Streitfall - weder eine die Gesundheit gefährdende Wirkung des Mittels noch ein durch dieses verursachter pathologischer Zustand in Rede stand. Die pharmakologische bzw. metabolische Wirkung des in jenem Verfahren zu beurteilenden Präparats bestand nach den dort getroffenen Feststellungen allein darin, dass einer durch die Abführwirkung bedingten Mangelversorgung des Patienten entgegengewirkt und damit Herzrhythmusstörungen, Muskelkrämpfen und Blutdruckproblemen vorgebeugt wurde. Diese Wirkung unterstützte mithin lediglich die auf osmotischem und physikalischem Weg erreichte bestimmungsgemäße Hauptwirkung des Präparats und hatte daher auf seine Einordnung als Medizinprodukt keinen Einfluss (§ 3 Nr. 1 MPG; BGH, GRUR 2010, 754 Rn. 16 - Golly Telly).
bb) Der Senat hat in seinen bereits oben unter II 1 (Rn. 7 u. 9) angesprochenen Entscheidungen "Photodynamische Therapie" und "Mundspüllösung", die zeitlich nach dem vorliegend zu überprüfenden Berufungsurteil ergangen sind, darauf hingewiesen, dass zur Konkretisierung des Begriffs der pharmakologischen Wirkung auch die von einer europäischen Expertengruppe aus Behörden- und Industrievertretern unter Federführung der Europäischen Kommission entwickelte Leitlinie "Medical Devices: Guidance document" (sogenannte MEDDEV-Borderline-Leitlinie) mit heranzuziehen ist. Diese Leitlinie setzt aber ebenfalls keine unmittelbare Wechselwirkung mit "zellulären Bestandteilen des Anwenders" voraus; vielmehr lässt auch sie für eine pharmakologische Wirkung jegliche Wechselwirkung zwischen den Molekülen der in Frage stehenden Substanz und "einem zellulären Bestandteil" genügen (vgl. BGH, GRUR 2010, 1026 Rn. 17 - Photodynamische Therapie; BGH, GRUR 2010, 1140 Rn. 12 f. - Mundspüllösung). Eine in diesem Sinne relevante Wechselwirkung liegt insbesondere auch dann vor, wenn die betreffende Substanz die Reaktion (Antwort) eines anderen Agens blockiert (BGH, GRUR 2010, 1140 Rn. 12 - Mundspüllösung).
3. Die Revisionserwiderung weist im Übrigen mit Recht darauf hin, dass das Berufungsgericht, soweit es - von der Revision unangegriffen - des Weiteren eine metabolische Wirkung des Präparats der Beklagten durch extreme Beschleunigung der Darmentleerung unter pathologischer Verhinderung des Verdauungsprozesses bejaht hat, sich nicht nur - wie bei der pharmakologischen Wirkung - auf das Ergebnis der Beweisaufnahme stützen konnte, sondern darüber hinaus auch auf den eigenen Vortrag der Beklagten. Diese hatte mit ihrem im ersten Rechtszug eingereichten Schriftsatz vom 2. April 2008 ein von ihr in Auftrag gegebenes Gutachten von Prof. Dr. H. vorgelegt. Nach den Ausführungen in dem Gutachten, die sich die Beklagte zu eigen gemacht hat, beschleunigt das Mittel der Beklagten die Entleerung des Darms in einer Weise, wie sie durch eine entsprechende Aufnahme von Flüssigkeit nicht zu bewirken ist. Das Mittel der Beklagten führt danach zu einer Änderung des Beginns sowie zu einem Wechsel der Geschwindigkeit der normalen Körperfunktionen im Sinne der Definition der metabolischen Wirkung in der MEDDEV 2.1/3, wobei es auch nicht nur im Sinne von § 3 Nr. 1 MPG unterstützend wirkt.
III. Nach allem ist die Revision der Beklagten unbegründet und deshalb mit der Kostenfolge aus § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.
Bornkamm Pokrant Büscher
Schaffert Koch