Entscheidungsdatum: 10.01.2013
Eine blinde oder sehbehinderte Person hat keinen Anspruch aus § 191a GVG, § 4 Abs. 1 ZMV auf Zugänglichmachung der Dokumente des gerichtlichen Verfahrens auch in einer für sie wahrnehmbaren Form, wenn sie in dem Verfahren durch einen Rechtsanwalt vertreten wird und der Streitstoff so übersichtlich ist, dass er ihr durch den Rechtsanwalt gut vermittelbar ist.
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 8. Zivilkammer des Landgerichts Dresden vom 23. Mai 2012 wird auf Kosten des Beklagten zu 2 zurückgewiesen.
I. Die Klägerin macht gegenüber den Beklagten einen Zahlungsanspruch auf der Grundlage eines mit der Beklagten zu 1 abgeschlossenen Vertrages geltend. Die Beklagte zu 1 ist eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts, die Beklagten zu 2 und 3 sind deren Gesellschafter. Der Beklagte zu 2 ist blind. Er ist nach der internen Geschäftsverteilung für die kaufmännischen Angelegenheiten und damit auch für die mit der finanziellen Abwicklung von Verträgen verbundenen Streitigkeiten zuständig.
Das Amtsgericht hat der Klage stattgegeben. Dagegen haben die Beklagten Berufung eingelegt. Sie haben beantragt, alle Prozessunterlagen auch der II. Instanz sowohl in Klarschrift wie auch in jeweils einer Ausfertigung in Blindenschrift an die Prozessbevollmächtigten II. Instanz des Beklagten zu 2 zu übermitteln. Das Landgericht hat den Antrag zurückgewiesen und die Rechtsbeschwerde zugelassen.
II. Das Landgericht hat angenommen, der als Antrag des Beklagten zu 2 zu deutende Antrag sei nicht begründet. Eine Zugänglichmachung der Prozessunterlagen des Berufungsverfahrens in einer für den blinden Beklagten zu 2 wahrnehmbaren Form sei nicht erforderlich, weil der Beklagte zu 2 durch einen Rechtsanwalt vertreten werde und der Streitstoff so übersichtlich sei, dass er dem Beklagten zu 2 durch seinen Rechtsanwalt gut vermittelbar sei.
III. Die statthafte (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 Satz 2 ZPO) und auch sonst zulässige (§ 575 ZPO) Rechtsbeschwerde ist nicht begründet.
1. Eine blinde oder sehbehinderte Person kann gemäß § 191a Abs. 1 Satz 1 GVG nach Maßgabe der Rechtsverordnung nach § 191a Abs. 2 GVG verlangen, dass ihr die für sie bestimmten gerichtlichen Dokumente auch in einer für sie wahrnehmbaren Form zugänglich gemacht werden, soweit dies zur Wahrnehmung ihrer Rechte im Verfahren erforderlich ist. Die auf der Grundlage des § 191a Abs. 2 GVG erlassene Verordnung zur barrierefreien Zugänglichmachung von Dokumenten für blinde und sehbehinderte Personen in gerichtlichen Verfahren (Zugänglichmachungsverordnung - ZMV) bestimmt, unter welchen Voraussetzungen und in welcher Weise einer blinden oder sehbehinderten Person die für sie bestimmten gerichtlichen Dokumente und die von den Parteien zu den Akten gereichten Dokumente zugänglich gemacht werden, sowie ob und wie diese Person bei der Wahrung ihrer Rechte mitzuwirken hat.
2. Das Landgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass sich der Anspruch auf Zugänglichmachung nach den genannten Regelungen nicht auf die gerichtlichen - also die vom Gericht erstellten - Dokumente beschränkt (§ 191a Abs. 1 Satz 1 GVG); sie umfasst vielmehr auch die von den Parteien zur Akte gereichten Dokumente (§ 191a Abs. 2 GVG) und erstreckt sich damit auf sämtliche Dokumente des gerichtlichen Verfahrens, die der blinden oder sehbehinderten Person zuzustellen oder formlos bekanntzugeben sind (vgl. § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 1 ZMV).
3. Der Beklagte zu 2 kann ferner grundsätzlich verlangen, dass das Landgericht ihm die Prozessunterlagen nicht nur in Klarschrift, sondern auch in Blindenschrift zugänglich macht. Die berechtigte Person hat nach § 6 Satz 1 ZMV ein Wahlrecht zwischen den in § 3 ZMV genannten Formen der Zugänglichmachung, zu denen nach § 3 Abs. 1 und 2 Satz 1 ZMV die schriftliche Zugänglichmachung in Form von Blindenschrift gehört (zur Einschränkung des Wahlrechts durch die Verpflichtung der berechtigten Person nach § 5 Satz 1 ZMV, bei der Wahrnehmung ihres Anspruchs auf Zugänglichmachung im Rahmen ihrer individuellen Fähigkeiten und ihrer technischen Möglichkeiten mitzuwirken vgl. Zöller/Lückemann, ZPO, 29. Aufl., § 191a GVG Rn. 2). Die nach § 1 Abs. 3 ZMV verpflichtete Stelle - im gerichtlichen Verfahren also das Gericht - hat die Zugänglichmachung gemäß § 6 Satz 2 ZMV in der von der berechtigten Person gewählten Form auszuführen.
4. Das Landgericht hat jedoch ohne Rechtsfehler angenommen, dass es nicht erforderlich ist, dem blinden Beklagten zu 2 im Berufungsverfahren des vorliegenden Rechtsstreits alle Prozessunterlagen auch in Blindenschrift zugänglich zu machen. Dessen bedarf es nicht, weil der Beklagte zu 2 durch einen Rechtsanwalt vertreten wird und der Streitstoff nach den Feststellungen des Landgerichts so übersichtlich ist, dass er dem Beklagten zu 2 durch seinen Rechtsanwalt grundsätzlich gut vermittelbar ist.
a) Die Bestimmung des § 4 Abs. 1 ZMV regelt aufgrund von § 191a Abs. 2 GVG - entgegen der Ansicht des Landgerichts - nicht nur hinsichtlich der von den Parteien zur Akte gereichten Dokumente, sondern auch bezüglich der vom Gericht erstellten Dokumente, unter welchen Voraussetzungen sie einer blinden oder sehbehinderten Person zugänglich zu machen sind. Danach besteht der Anspruch auf Zugänglichmachung, soweit der berechtigten Person dadurch der Zugang zu den ihr zugestellten oder formlos mitgeteilten Dokumenten erleichtert und sie in die Lage versetzt wird, eigene Rechte im Verfahren wahrzunehmen.
b) Nach der amtlichen Begründung zum Entwurf der Zugänglichmachungsverordnung (BR-Drucks. 915/06, S. 10) ist diese Vorschrift im Interesse der behinderten Personen weit auszulegen und wird der Anspruch auf Zugänglichmachung insbesondere auch nicht durch eine rechtswirksame Vertretung, sei es durch einen Prozessbevollmächtigten, einen Verteidiger, einen Beistand oder einen Betreuer, ausgeschlossen. Bei einer anwaltlichen Vertretung der berechtigten Person kann ein Anspruch auf Zugänglichmachung von Dokumenten jedoch ausgeschlossen sein, soweit gewährleistet ist, dass der anwaltliche Vertreter der berechtigten Person die in den Dokumenten enthaltenen Informationen so zu vermitteln vermag, dass eine zusätzliche Übermittlung der Dokumente durch das Gericht in einer für die berechtigte Person wahrnehmbaren Form zur Wahrnehmung ihrer Rechte im Verfahren nicht erforderlich ist (vgl. Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 14/9266, S. 41; Beschluss des Bundesrats, BR-Drucks. 915/06 [Beschluss], S. 2; Kissel/Mayer, GVG, 7. Aufl., § 191a Rn. 9; M. Jacobs in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl., § 191a GVG Rn. 6; MünchKomm.ZPO/Zimmermann, 3. Aufl., § 191a GVG Rn. 6; Zöller/Lückemann aaO § 191a GVG Rn. 2; Wickern in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 191a GVG Rn. 5; Diemer in Karlsruher Kommentar, StPO, 6. Aufl., § 191a GVG Rn. 2; Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., § 191a GVG Rn. 1). Nach den Feststellungen des Landgerichts ist diese Voraussetzung im Streitfall erfüllt; der Streitstoff ist so übersichtlich, dass er dem Beklagten zu 2 durch seinen Rechtsanwalt grundsätzlich gut vermittelbar ist. Unter diesen Umständen ist, wie das Landgericht mit Recht angenommen hat, ein Zugänglichmachen der Prozessunterlagen des Berufungsverfahrens auch in einer für den blinden Beklagten zu 2 wahrnehmbaren Form grundsätzlich nicht erforderlich.
c) Die Rechtsbeschwerde rügt ohne Erfolg, der sehbehinderten Person werde damit im Fall ihrer - gegebenenfalls gesetzlich vorgeschriebenen - Vertretung durch einen Anwalt jede Möglichkeit einer selbstbestimmten Verfahrensführung genommen. Die Zugänglichmachung der Dokumente soll der berechtigten Person die Wahrnehmung ihrer Rechte im Verfahren und nicht die Kontrolle der Tätigkeit ihres Rechtsanwalts ermöglichen. Auch eine nicht sehbehinderte und nicht rechtskundige Person muss im Falle ihrer Vertretung durch einen Rechtsanwalt darauf vertrauen, dass dieser ihre Rechte und Interessen im Verfahren ordnungsgemäß wahrnimmt.
Der berechtigten Person wird die Wahrnehmung ihrer Interessen entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde auch dann nicht in unzumutbarer Weise erschwert, wenn sich die Komplexität eines Rechtsstreits erst im Laufe des Verfahrens ergeben sollte. In einem solchen Fall sind der sehbehinderten Person die Dokumente auch nachträglich in einer für sie wahrnehmbaren Form zugänglich zu machen, soweit dies zur Wahrnehmung ihrer Rechte im Verfahren erforderlich ist. Soweit sich daraus, wie die Rechtsbeschwerde geltend macht, Verfahrensverzögerungen ergeben, weil der Betroffene nach dem Selbststudium der Gerichtsdokumente noch ergänzenden Vortrag für erforderlich hält, ist dies hinzunehmen.
Die sehbehinderte Person kann allerdings auch bei einem durch einen Rechtsanwalt an sich gut vermittelbaren Streitstoff ausnahmsweise Anspruch auf Zugänglichmachung der Dokumente auch in einer für sie wahrnehmbaren Form haben, wenn sie - wie die Rechtsbeschwerde geltend macht - aufgrund ihrer individuellen Einsichtsfähigkeit nicht dazu in der Lage ist, den Sinngehalt der Dokumente bei einer nur mündlichen Vermittlung durch den anwaltlichen Vertreter zu erfassen. Im Streitfall ist jedoch weder vorgetragen noch ersichtlich, dass der Beklagte zu 2 solche Verständnisschwierigkeiten hat.
Die Rechtsbeschwerde macht vergeblich geltend, es gehöre nicht zu den Aufgaben eines Anwalts, seinen Mandanten die Wahrnehmung von Gerichtsdokumenten zu ermöglichen und Schriftsätze vorzulesen. Zu den Aufgaben eines Rechtsanwalts kann es durchaus gehören, einem sehbehinderten Mandanten den wesentlichen Inhalt der Dokumente des Verfahrens zu vermitteln. Es ist nicht ersichtlich, dass eine sachgerechte rechtliche Bearbeitung der Angelegenheit dadurch - wie die Rechtsbeschwerde meint - deutlich erschwert wird.
IV. Danach ist die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts auf Kosten des Beklagten zu 2 (§ 97 Abs. 1 ZPO) zurückzuweisen.
Bornkamm Büscher Schaffert
Koch Löffler