Entscheidungsdatum: 21.09.2016
Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 26. November 2015 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
I. Der 1961 geborene Kläger, der nicht unter Betreuung steht, erhält Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII). In dem vor dem Sozialgericht (SG) Mainz geführten Klageverfahren machte der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung durch seine auch zur besonderen Vertreterin bestellte Bevollmächtigte insgesamt 60 Anträge geltend, die er in dem seit dem Jahr 2005 geführten Verfahren formuliert hatte. Das SG hat die Klage unter inhaltlicher Bescheidung der Anträge im Einzelnen abgewiesen (Urteil vom 3.7.2015). Im Berufungsverfahren hat das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz die Bestellung der besonderen Vertreterin "wegen offensichtlicher Unzulässigkeit bzw Unbegründetheit der Klage" aufgehoben (Beschluss vom 20.11.2015) und die Berufung wegen Prozessunfähigkeit des Klägers als unzulässig verworfen (Urteil vom 26.11.2015).
Mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision rügt der Kläger als Verfahrensmangel, das LSG habe zu Unrecht ein Prozessurteil erlassen; er sei prozessfähig. Die vom LSG zur Begründung seiner gegenteiligen Auffassung herangezogenen Gutachten seien nicht zum vorliegenden Verfahren erstattet. Das LSG habe aber - ausgehend von seiner Rechtsansicht - zu Unrecht die Bestellung eines besonderen Vertreters aufgehoben, weil in der Sache keine offensichtlich haltlose Rechtsverfolgung vorliege; er sei damit nicht wirksam vertreten gewesen.
II. Die durch die vom Senat bestellte besondere Vertreterin des Klägers (Beschluss vom 10.5.2016) und Prozessbevollmächtigte eingelegte Beschwerde ist zulässig und begründet. Da der gerügte Verfahrensmangel der fehlenden ordnungsgemäßen Vertretung wegen Prozessunfähigkeit vorliegt, konnte das angefochtene Urteil gemäß § 160a Abs 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden. Dass die Beiordnung der besonderen Vertreterin vom Senat wieder aufgehoben worden ist (Beschluss vom 12.8.2016), steht dem nicht entgegen. Die Beiordnung wurde nur aufgehoben, weil die Prozessfähigkeit des Klägers mit der Beschwerdebegründung streitig wurde und der Kläger deshalb bis zur Entscheidung über seine Prozessfähigkeit als prozessfähig zu behandeln ist (vgl nur Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 71 RdNr 8 d mwN).
Die angefochtene Entscheidung beruht auf einem Verstoß gegen § 72 Abs 1 SGG, weil das LSG zu Unrecht die Bestellung der besonderen Vertreterin für den bereits im Klage- und Berufungsverfahren prozessunfähigen Kläger aufgehoben hat. Dieser war dadurch in der mündlichen Verhandlung beim LSG, auf die das Urteil ergangen ist, nicht wirksam vertreten (§ 202 SGG iVm § 547 Nr 4 Zivilprozessordnung); hierin liegt ein absoluter Revisionsgrund, bei dem unterstellt wird, dass das Urteil des LSG auf ihm beruht.
Gemäß § 72 Abs 1 SGG kann der Vorsitzende des jeweiligen Spruchkörpers für einen nicht prozessfähigen Beteiligten ohne gesetzlichen Vertreter bis zum Eintritt eines Vormundes, Betreuers oder Pflegers für das Verfahren einen besonderen Vertreter bestellen, dem alle Rechte, außer dem Empfang von Zahlungen, zustehen. Prozessunfähig ist eine Person, die sich nicht durch Verträge verpflichten kann (vgl § 71 Abs 1 SGG), also ua eine solche, die nicht geschäftsfähig iS des § 104 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ist, weil sie sich gemäß § 104 Nr 2 BGB in einem nicht nur vorübergehenden, die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet und deshalb nicht in der Lage ist, ihre Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen. Dabei können bestimmte Krankheitsbilder auch zu einer sog partiellen Prozessunfähigkeit führen, bei der die freie Willensbildung nur bezüglich bestimmter Prozessbereiche eingeschränkt ist. Soweit eine partielle Prozessunfähigkeit anzunehmen ist, erstreckt sie sich auf den gesamten Prozess (BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 32 S 65).
Eine solche partielle Prozessunfähigkeit zur Führung sozialgerichtlicher Verfahren liegt vor. Dabei stützt sich der Senat in seiner Beurteilung insbesondere auf das Gutachten nach Aktenlage von Prof. Dr. B. vom 22.5.2015 im Verfahren L 1 AL 122/11 beim LSG, das erstellt wurde, nachdem sich der Kläger geweigert hatte, sich einer Untersuchung zu seiner Prozessfähigkeit zu unterziehen. Dass das Gutachten in einem anderen Verfahren des Klägers eingeholt worden ist, hindert seine Verwertung im Wege des Urkundenbeweises im vorliegenden Verfahren nicht, weil sich die Beurteilung Prof. Dr. B. nicht auf ein bestimmtes Verfahren begrenzt. Danach besteht beim Kläger ein sog paranoischer Querulantenwahn (Prägnanztyp einer Psychose, die durch ein subjektiv empfundenes Trauma in Gang gesetzt wurde), der ihn bereits im Klage- und Berufungsverfahren, aber auch fortlaufend außerstande setzt, sein eigenes Denken in Frage zu stellen bzw zu reflektieren. Er ist deshalb nicht in der Lage, in gerichtlichen Verfahren Entscheidungen in freier Willensbestimmung zu treffen.
Die Ausführungen seiner Bevollmächtigten widersprechen dem nicht. Zwar teilt sie mit, der Kläger sei sich seiner Behinderung und der daraus resultierenden Schwierigkeiten, seine Rechtsangelegenheiten zielführend und effektiv zu betreiben, bewusst. Entscheidend ist aber nicht, ob der Kläger seine Behinderung erkennt und akzeptiert, sondern ob er in der Lage ist, diese aus eigener Kraft zu überwinden, um in einem gerichtlichen Verfahren seine Interessen zielgerichtet zu verfolgen. Der Einholung eines weiteren Gutachtens bedurfte es deshalb nicht.
Im Berufungsverfahren hätte die Bestellung des besonderen Vertreters nicht aufgehoben werden dürfen. Steht die Prozessunfähigkeit für den Prozess fest, muss dieser grundsätzlich mit einem besonderen Vertreter fortgeführt werden, wenn eine sonstige gesetzliche Vertretung nicht gewährleistet und ein Betreuer nicht bestellt ist (im Einzelnen zuletzt BSG SozR 4-1500 § 72 Nr 2 RdNr 9). Zwar sind Ausnahmen von der Vertreterbestellung für zulässig erachtet worden, wenn unter Anlegung eines strengen Maßstabs das Rechtsmittel eines Prozessunfähigen "offensichtlich haltlos" ist (BSGE 5, 176, 178 f); dies kann insbesondere bei absurden Klagebegehren ohne jeden Rückhalt im Gesetz oder bei offensichtlich unschlüssigem Vorbringen anzunehmen sein, etwa wenn kein konkreter Streitgegenstand erkennbar ist, nur allgemeine Ausführungen ohne irgendeinen Bezug zum materiellen Recht geäußert werden oder wenn das Vorbringen bereits mehrmals Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen war (BSG SozR 4-1500 § 72 Nr 2 RdNr 10).
Ein solches generell haltloses Begehren liegt aber nicht vor. Bei der prozessualen Begründung eines offensichtlich haltlosen Klagebegehrens, wie sie das LSG mit der Annahme einer aus anderen Gründen als der Prozessunfähigkeit unzulässigen Klage seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, ist besondere Zurückhaltung geboten (BSG aaO). Es ist nicht ausgeschlossen, dass zumindest nach Hinweisen des Vorsitzenden (§ 106 SGG) unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes (vgl nur: BSGE 74, 77 ff = SozR 3-4100 § 104 Nr 11 S 49 ff; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 92 RdNr 12 mwN) ein besonderer Vertreter durchaus in der Lage gewesen wäre, im wohlverstandenen Interesse des Klägers sachdienliche Klageanträge mit hinreichendem Bezug zum materiellen Recht zu formulieren (BSG aaO).
Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.