Entscheidungsdatum: 21.09.2017
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 18. April 2017 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
I. Im Streit sind Leistungen der Eingliederungshilfe für einen "integrativen Hortplatz".
Die 1999 geborene Klägerin ist schwerbehindert (Grad der Behinderung 100, Merkzeichen "G", "aG", "B" und "H"). Sie besuchte seit August 2006 eine Förderschule für geistige Entwicklung des C J D (CJD) und seit August 2007 den Hortbereich der integrativen Kindertagesstätte des CJD. Bis einschließlich August 2014 übernahm der zuständige Landkreis die Kosten für die Hortbetreuung als Leistung der Eingliederungshilfe. Den Antrag der Klägerin auf Kostenübernahme für einen Hortplatz ab dem 1.9.2014 lehnte er ab (Bescheid vom 16.7.2014; Widerspruchsbescheid vom 25.9.2014).
Die dagegen gerichtete Klage hat das SG Halle abgewiesen (Urteil vom 17.2.2016), weil die Klägerin keinen Anspruch auf Gewährung von Eingliederungshilfe durch Übernahme der Kosten für den integrativen Hortplatz für das Schuljahr 2014/2015 habe. Sie sei gehalten, ihren Förderungs- und Betreuungsanspruch gegenüber der Schulverwaltung zu verfolgen. Das SG hat die Klägerin darüber belehrt, dass das Urteil mit der Berufung angefochten werden könne.
Im daraufhin von der Klägerin geführten Berufungsverfahren hat das LSG Sachsen-Anhalt die Klägerin zu einer beabsichtigten Verwerfung der Berufung angehört, weil "ein Begehren, das eine Statthaftigkeit der Berufung nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 SGG begründen könnte, mit dem Rechtsmittel nicht verfolgt" werde (Schreiben vom 10.11.2016), und sodann die Berufung als unzulässig verworfen (Beschluss vom 18.4.2017). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, im Streit seien Leistungen für das Schuljahr 2014/2015, welches selbst unter Berücksichtigung der Ferienzeit nicht ein volles Jahr umfasse. Ein den Schwellenwert von 750 Euro übersteigendes Begehren sei von der Klägerin nicht vorgetragen worden. In Bezug auf das vor dem SG verfolgte Begehren lasse sich ein Betrag offener Kosten auch nach Anfragen durch den Senat nicht feststellen.
Gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des LSG wendet sich die Klägerin mit ihrer Beschwerde. Sie macht als Verfahrensfehler geltend, dass das LSG zu Unrecht keine Sachentscheidung getroffen habe.
II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Der angefochtene Beschluss des LSG vom 18.4.2017 ist aufzuheben und die Sache an das LSG gemäß § 160a Abs 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zurückzuverweisen. Die Entscheidung des LSG beruht auf einem Verfahrensmangel nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG.
Eine Nichtzulassungsbeschwerde ist ua begründet, wenn ein Verfahrensfehler geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§§ 160a, 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, weil die angefochtene Entscheidung des LSG unter Verletzung des § 158 SGG ergangen ist und das Ergehen eines Prozessurteils, wie die vorliegend erfolgte Verwerfung der Berufung der Klägerin als unzulässig, anstatt des eigentlich angezeigten Sachurteils ein Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist (vgl nur BSG SozR 4-1500 § 158 Nr 2).
Nach § 158 Satz 1 Alt 1 SGG ist die Berufung ua als unzulässig zu verwerfen, wenn sie nicht statthaft ist. Eine Berufung ist nicht zulässig, sondern bedarf der Zulassung, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro nicht übersteigt (§ 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG) und nicht wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betroffen sind (§ 144 Abs 1 Satz 2 SGG).
Diese Voraussetzungen sind entgegen der Auffassung des LSG nicht erfüllt. Der Berufungsgegenstand war nicht auf 750 Euro oder weniger begrenzt. Zwar hat die Klägerin ihren auf "Bewilligung von Leistungen der Eingliederungshilfe" gerichteten Antrag nicht beziffert. Verstöße gegen die Soll-Vorschrift des § 151 Abs 3 SGG, wonach die Berufungsschrift einen bestimmten Antrag enthalten soll, sind jedoch unschädlich (BSG SozR Nr 2 zu § 151 SGG; BSG vom 23.7.2015 - B 8 SO 58/14 B). Bei einem unbezifferten Antrag muss das Gericht den Wert ermitteln (vgl nur Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 144 RdNr 15b mwN) bzw anhand des wirtschaftlichen Interesses des Klägers am Ausgang des Rechtsstreits schätzen (§ 202 SGG iVm § 3 Zivilprozessordnung). Dabei ist auf die Angaben des Beschwerdeführers zumindest dann abzustellen, solange keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Bezifferung mutmaßlich falsch ist (vgl Wehrhahn in jurisPK-SGG, 1. Aufl 2017, § 144 RdNr 22; vgl zur Unmaßgeblichkeit der materiell-rechtlichen Bewertung eines Falls auch BSG vom 5.8.2015 - B 4 AS 17/15 B; BSG vom 23.7.2015 - B 8 SO 58/14 B).
Unabhängig von der materiell-rechtlichen Bewertung der Rechtslage ist hier ausgehend von dem von der Klägerin im Klage- und Berufungsverfahren formulierten Begehren dieses auf deutlich mehr als einen Wert von 750 Euro gerichtet. Nach ihrem Vorbringen, das sie durch ein Bestätigungsschreiben des CJD unterlegt hat (Schreiben des CJD vom 18.11.2014), belaufen sich die von ihr für das Jahr 2014/2015 beantragten Leistungen auf wöchentlich 1485 Euro. Dass sich ihr wirtschaftliches Interesse an eben diesem Betrag orientiert, hat sie auch dem LSG im dort geführten Eilverfahren (L 8 SO 21/15 B ER) zur Kenntnis gebracht; das Schreiben des CJD lag dem LSG zum Zeitpunkt der Entscheidung im Hauptsacheverfahren vor.
Von einer mutmaßlich falschen Bezeichnung des wirtschaftlichen Interesses durch die Klägerin kann schon deshalb nicht ausgegangen werden, weil das LSG weder Feststellungen zum Streitgegenstand (in Betracht kommt etwa die Beantragung eines Schuldbeitritts ggf mit anschließender Umstellung auf eine Fortsetzungsfeststellungsklage oder etwa die Klage gerichtet auf einen bereits bezahlten Betrag für in Anspruch genommene Nachmittagsbetreuung bis einschließlich Dezember 2014) noch zum daraus resultierenden wirtschaftlichen Interesse der Klägerin getroffen hat; der Verweis auf den Widerspruchsbescheid einerseits, ausweislich dessen der Landkreis von Kosten in Höhe von 40 bis 50 Euro monatlich ausgegangenen sei, bzw der Bescheinigung des CJD über weit höhere Kosten andererseits stellen keine Feststellung eines konkreten Betrags dar. Auch in der Anhörung der Beteiligten zur beabsichtigten Entscheidung nach § 158 Satz 2 SGG hat das LSG nicht offengelegt, warum die Berufungssumme nicht erreicht sein könnte. Das SG ist ersichtlich davon ausgegangen, dass der Schwellenwert überschritten ist. Aufgrund der vorgelegten Bescheinigung des CJD erscheint der von der Klägerin vorgebrachte Wert jedenfalls nicht willkürlich.
Eine Zurückweisung der Beschwerde war auch nicht deshalb geboten, weil bereits feststünde, dass die angegriffene Entscheidung unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt Bestand haben wird (vgl dazu nur Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 160a RdNr 18 mwN). Abgesehen davon, dass schon angesichts der fehlenden Feststellungen zum (noch) streitgegenständlichen Begehren ein Erfolg der Berufung nicht ausgeschlossen ist, hat das BSG zum sog Nachranggrundsatz bereits mehrfach entschieden, dass § 2 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) keine eigenständige Ausschlussnorm darstellt, wenn andere Leistungen tatsächlich nicht erbracht werden, sondern regelmäßig nur im Zusammenhang mit ergänzenden bzw konkretisierenden sonstigen Vorschriften des SGB XII Bedeutung hat; ein Leistungsausschluss ohne Rückgriff auf andere Normen des SGB XII ist mithin allenfalls in extremen Ausnahmefällen denkbar, etwa wenn sich der Bedürftige generell eigenen Bemühungen verschließt und Ansprüche ohne Weiteres realisierbar sind (BSG vom 2.2.2010 - B 8 SO 21/08 R - RdNr 13; BSGE 104, 219 ff RdNr 20 = SozR 4-3500 § 74 Nr 1; BSG vom 26.8.2008 - B 8/9b SO 16/07 R - RdNr 15).
Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen, was - wie ausgeführt - hier der Fall ist. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch, weil er mangels tatsächlicher Feststellungen des LSG eine Entscheidung in der Sache nicht treffen könnte und ein etwaiges Revisionsverfahren deshalb ohnehin nur zur Aufhebung des LSG-Urteils und der Zurückverweisung der Sache führen kann (vgl Leitherer, aaO, RdNr 19c).
Das LSG wird abschließend ggf auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.