Entscheidungsdatum: 28.05.2013
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 27. September 2012 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine Kosten zu erstatten.
Mit Urteil vom 27.9.2012 hat das LSG Niedersachsen-Bremen einen Anspruch der Klägerin auf Rente wegen Erwerbsminderung verneint. Für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat ihr der Senat Prozesskostenhilfe bewilligt und ihre Prozessbevollmächtigten beigeordnet (Beschluss vom 17.1.2013). Diese haben am 5.2.2013 "Nichtzulassungsbeschwerde" zum BSG eingelegt und beantragt, "die Berufung zuzulassen". Hierbei handelt es sich offensichtlich um ein Versehen (lapsus linguae) der Prozessbevollmächtigten, weil die Klägerin - nach erfolglos abgeschlossenem Berufungs- und erfolgreich durchgeführtem Prozesskostenhilfeverfahren - mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde ohne jeden Zweifel das alleinige Ziel verfolgt, die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs 1, § 160a Abs 4 S 1 SGG (und nicht der Berufung gemäß § 145 Abs 1 S 1 SGG) zu erreichen (zur Unschädlichkeit einer offensichtlichen Falschbezeichnung des Rechtsmittels durch rechtskundige Vertreter vgl Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 2. Aufl 2010, RdNr 139). Genauso hat das BSG das eingelegte Rechtsmittel von Beginn an aufgefasst und behandelt, was den - auch objektiv zutreffenden - Empfängerhorizont des Gerichts im Zeitpunkt des Eingangs der Sache widerspiegelt (vgl dazu BGH Beschluss vom 7.11.2012 - XII ZB 325/12 - FamRZ 2013, 371). In der Beschwerdebegründung macht die Klägerin Verfahrensmängel geltend.
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, weil sie nicht formgerecht begründet ist.
Die Revision ist nur zuzulassen, wenn |
||
- |
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG), |
|
- |
das Urteil von einer Entscheidung des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG abweicht und auf dieser Abweichung beruht (aaO Nr 2) oder |
|
- |
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (aaO Nr 3). |
Derartige Gründe werden in der Beschwerdebegründung nicht nach Maßgabe der Erfordernisse des § 160a Abs 2 S 3 SGG dargetan. Die Beschwerde ist daher gemäß § 160a Abs 4 S 1 iVm § 169 SGG zu verwerfen.
Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 1 SGG), so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 S 3 SGG) zunächst die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht.
1. Soweit die Klägerin bemängelt, das LSG habe sie nur über den "bevorstehenden Termin zur mündlichen Verhandlung informiert", "jedoch nicht als Beteiligte geladen", lässt sie offen, inwiefern darin ein Verstoß gegen § 110 Abs 1 S 1 SGG liegen könnte, wonach der Vorsitzende "Ort und Zeit der mündlichen Verhandlung" bestimmt und diese Terminbestimmung "den Beteiligten in der Regel zwei Wochen vorher" mitteilt, dh lediglich bekannt gibt (§ 63 Abs 1 S 2 SGG).
2. Wenn die Klägerin weiter rügt, das SG habe es versäumt, ihre ehemaligen Kolleginnen und ihre Arbeitgeberin U. als Zeuginnen zu vernehmen, trägt sie nichts dazu vor, warum dieser angebliche Verfahrensmangel im Berufungsverfahren fortgewirkt haben und deshalb ausnahmsweise als Fehler des LSG anzusehen sein könnte (vgl dazu Senatsbeschluss vom 27.1.2011 - B 5 R 214/10 B - BeckRS 2011, 69300 RdNr 9 sowie BSG Beschlüsse vom 19.1.2011 - B 13 R 211/10 B - Juris RdNr 15, vom 25.4.2001 - B 9 V 70/00 B - SozR 3-1500 § 73 Nr 10 S 31 und vom 11.4.1995 - 12 BK 97/94 - Juris RdNr 5).
3. Soweit die Klägerin darüber hinaus Verstöße des Berufungsgerichts gegen die tatrichterliche Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) geltend macht, lässt sie die besonderen Anforderungen dieser Rüge unbeachtet. Denn nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG kann ein Verfahrensmangel "auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist". Der Beweisantrag hat im sozialgerichtlichen Verfahren Warnfunktion und soll der Tatsacheninstanz unmittelbar vor der Entscheidung signalisieren, dass ein Beteiligter die gerichtliche Aufklärungspflicht noch für defizitär hält (vgl dazu BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 9 S 21 und Nr 31 S 52). Diese Warnfunktion des Beweisantrags verfehlen Beweisgesuche, die lediglich in der Berufungsschrift oder sonstigen Schriftsätzen enthalten sind (BSG SozR 1500 § 160 Nr 67 S 73; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 9 S 21 und Nr 35 S 73). Sie sind nur als Hinweise oder bloße Anregungen zu verstehen (BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 9 S 21 und Nr 35 S 73). Um die Warnfunktion zu aktivieren, muss eine rechtskundig vertretene Beschwerdeführerin ihr Beweisbegehren deshalb in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG als prozessordnungskonformen "Beweisantrag" im hier maßgeblichen Sinne der ZPO wiederholen und protokollieren lassen (§ 122 SGG iVm § 160 Abs 4 S 1 ZPO). Ohne eine solche förmliche Antragstellung ist grundsätzlich davon auszugehen (vgl § 202 S 1 SGG iVm § 295 Abs 1 ZPO), dass sie ihr Beweisverlangen nicht mehr weiterverfolgt, sondern fallengelassen hat. Diese erhöhten Anforderungen an Präzisierung und Formulierung eines Beweisantrags gelten zwar ausnahmsweise nicht, wenn Beschwerdeführer in der Berufungsinstanz - wie hier - nicht durch einen rechtskundigen Prozessbevollmächtigten vertreten waren (BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 1 RdNr 5 und Nr 13 RdNr 11; BVerfG SozR 3-1500 § 160 Nr 6 S 14; Kummer, aaO, RdNr 733). Dann sind an Form und Inhalt eines prozessordnungsgemäßen Beweisantrags weniger strenge Anforderungen zu stellen (BSG Beschlüsse vom 2.6.2003 - B 2 U 80/03 B - Juris RdNr 4 und vom 1.3.2006 - B 2 U 403/05 B - Juris RdNr 5; Becker, SGb 2007, 328, 331). Hat ein unvertretener Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung keinen Beweisantrag zu Protokoll erklärt, so lässt sich daraus nicht zwingend schließen, er habe einen solchen Antrag nicht mehr weiterverfolgen wollen (BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 1 RdNr 5 mwN). Dass ein Beteiligter im Berufungsverfahren nicht rechtskundig vertreten war, setzt die in § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG normierten Anforderungen an eine Sachaufklärungsrüge andererseits aber nicht vollständig außer Kraft. Vielmehr muss auch ein solcher Beteiligter darlegen, einen konkreten Beweisantrag zumindest sinngemäß gestellt zu haben, und deshalb angeben, welche konkreten Punkte er am Ende des Verfahrens noch für aufklärungsbedürftig gehalten hat und auf welche Beweismittel das Gericht hätte zurückgreifen sollen, um welchen Sachverhalt weiter aufzuklären (BSG Beschlüsse vom 2.6.2003 - B 2 U 80/03 B - Juris RdNr 4 und vom 22.7.2010 - B 13 R 585/09 B - BeckRS 2010, 71863). Deshalb müssen auch unvertretene Kläger dem Berufungsgericht verdeutlichen, dass und ggf wo sie die Sachaufklärungspflicht noch nicht als erfüllt ansehen und deshalb im Berufungsverfahren auf die Sachverhaltsaufklärung hinwirken, deren Unterlassen sie nunmehr rügen (BSG Beschlüsse vom 2.6.2003 - B 2 U 80/03 B - Juris RdNr 4 und vom 1.3.2006 - B 2 U 403/05 B - Juris RdNr 5; Kummer, aaO, RdNr 732). Denn § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG setzt einen Beweisantrag ohne jede Einschränkung voraus. Deshalb ist im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren detailliert und nachvollziehbar aufzuzeigen, dass und ggf wodurch diese Voraussetzung zumindest im oben genannten Sinne erfüllt ist. Ebenso wie bei vor dem LSG rechtskundig vertretenen Klägern im Rahmen der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde der Beweisantrag so genau zu bezeichnen ist, dass ihn das Revisionsgericht ohne weiteres auffinden kann (BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 5; Nr 21 RdNr 5), ist daher entsprechend modifiziert auch bei unvertretenen Klägern darzustellen, wann und wie sie dem LSG gegenüber den aus ihrer Sicht noch notwendigen Aufklärungsbedarf geltend gemacht haben (vgl zum Ganzen: Senatsbeschluss vom 18.1.2011 - B 5 RS 55/10 B - BeckRS 2011, 68263 RdNr 9). Daran mangelt es hier. Denn die Klägerin hat es versäumt, in der Beschwerdebegründung detailliert anzugeben, welcher Vortrag zu welchen Tatsachen und Beweismitteln an welcher (Fund-)Stelle in der Berufungsschrift oder im Schriftsatz vom 27.9.2011 enthalten ist und aus welchen Begleitumständen das Berufungsgericht zwingend auf das (sinngemäße) Vorhandensein der geschilderten Beweisanträge hätte schließen müssen. Hierfür genügte keinesfalls der bloße Hinweis, dass die Klägerin andere Mitarbeiterinnen angelernt habe.
4. Überdies macht die Klägerin Verletzungen ihres Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs geltend (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG, Art 47 Abs 2 Charta der Grundrechte der EU, Art 6 Abs 1 EMRK).
a) Soweit die Klägerin ein richterliches "Hinweisschreiben" vermisst, ohne dies freilich näher zu spezifizieren, und sinngemäß eine Überraschungsentscheidung rügt, gilt Folgendes: Das Gericht ist grundsätzlich nicht verpflichtet, die Beteiligten vor der Entscheidung auf seine Rechtsauffassung oder die beabsichtigte Würdigung des Prozessstoffs schriftlich hinzuweisen (BVerfGE 74, 1, 5; BVerfGK 5, 10, 13; BSG SozR 3-1500 § 112 Nr 2 S 3; BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 1 S 3; zu Ausnahmekonstellationen vgl BVerfGE 86, 133, 145). Denn die tatsächliche und rechtliche Würdigung ergibt sich regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung. Richterliche Hinweise sind aber ausnahmsweise erforderlich, wenn das Gericht auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellen möchte, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf - selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen - nicht zu rechnen brauchte (BVerfGE 98, 218, 263; BSG Beschlüsse vom 17.12.2009 - B 3 P 9/09 B - Juris RdNr 4 und vom 11.10.2006 - B 9a VJ 4/06 B - Juris RdNr 6; Kummer, aaO, RdNr 701). Deshalb hätte die Klägerin in der Beschwerdeschrift den bisherigen Prozessverlauf genau beschreiben und auf dieser Grundlage darlegen müssen, dass die Entscheidung des Berufungsgerichts nach dem bisherigen Sach- und Streitstand von keiner Seite als möglich vorausgesehen werden konnte (vgl BSG Beschlüsse vom 5.3.2007 - B 4 RS 58/06 B - Juris RdNr 8, vom 21.9.2006 - B 12 KR 24/06 B - Juris RdNr 9 und vom 20.8.2008 - B 13 R 217/08 B - Juris RdNr 8). Hieran fehlt es. Im Übrigen gibt die Klägerin auch nicht an, was sie bei Erteilung der vermissten Hinweise vorgetragen hätte und dass sie bis zum Schluss des Verfahrens alles getan hat, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen.
b) Darüber hinaus rügt sie der Sache nach einen Verstoß gegen § 128 Abs 2 SGG, wenn sie behauptet, das LSG habe seiner "Entscheidung Tatsachen zu Grunde gelegt", zu denen sie sich nicht habe äußern können. Die Klägerin lässt jedoch schon offen, welche Tatumstände ihr vorenthalten worden sein sollen. Dass ihr die Arbeitgeberauskunft vom 21.4.2009 bekannt gewesen ist, hat sie nicht in Abrede gestellt; andernfalls hätte sie das LSG auch nicht auf angebliche innere "Widersprüchlichkeiten" hinweisen können.
c) Soweit darüber hinaus auch mangelhafte Sachaufklärung geltend gemacht wird, kommt der Gehörsrüge keine eigenständige Bedeutung zu. Zwar kann der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt sein, wenn das Unterlassen von Zeugenvernehmungen im Prozessrecht keine Stütze mehr findet (vgl BVerfGE 50, 32, 35 f; 69, 141, 144; BVerfG
5. Soweit die Klägerin dem LSG eine fehlerhafte Handhabung des sog 4-Stufen-Schemas vorwirft, greift sie die Rechtsanwendung des LSG im Stil eines bereits zugelassenen Rechtsmittels an. Dabei verkennt sie jedoch die grundsätzlichen Unterschiede zwischen Revision und Nichtzulassungsbeschwerde, die es dem BSG als Beschwerdegericht verwehren, in eine dem Revisionsverfahren vorbehaltene Fehlerkontrolle der Berufungsentscheidung einzutreten. Soweit sich die Klägerin gegen die Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 S 1 SGG) des LSG wendet, lässt sie unberücksichtigt, dass eine derartige Rüge im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde ausdrücklich ausgeschlossen ist (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG). Erst recht ist nicht Gegenstand der Nichtzulassungsbeschwerde, ob die hiermit angegriffene Entscheidung rechtlich richtig ist (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 7). Die Klägerin verkennt, dass sich die Sachentscheidung mit der Nichtzulassungsbeschwerde nicht überprüfen, sondern allenfalls erreichen lässt, dass die Revision gegen diese Sachentscheidung überhaupt erst zugelassen wird.