Entscheidungsdatum: 21.06.2011
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 19. Januar 2011 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
I. Streitig sind höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit vom 9.9.2005 bis 31.7.2006.
Die Beklagte bewilligte der Klägerin auf ihren Antrag vom 12.9.2006 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II unter Berücksichtigung von Einkommen aus Alg und Erwerbstätigkeit sowie eines von der Beklagten angenommenen (tlw) Verzichts der Klägerin auf SGB II-Leistungen nur iHv 12,30 Euro (12/2005), 73,80 Euro (1/2006) und 20,32 Euro (2/2006) und lehnte weitere Leistungen ab (Bescheid vom 15.5.2006; Widerspruchsbescheid vom 11.8.2006; Teilabhilfebescheid vom 2.3.2007). Die Beigeladene - als für die Kosten der Unterkunft und Heizung zuständige Trägerin - hat der Klägerin für die Zeit vom 27.12. bis 31.12.2005 iHv 43,42 Euro, für Januar 2006 iHv 264,50 Euro und für den Zeitraum vom 1.4. bis 16.4.2006 iHv 92,80 Euro bewilligt und Leistungen ab 16.4.2006 wegen eines von ihr angenommenen Verzichts der Klägerin auf Leistungen abgelehnt (Bescheide vom 19.7.2007).
Auf den Antrag der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem SG, die Beklagte unter Änderung der Bewilligungsbescheide zu verpflichten, ihr für den Zeitraum vom 9.9.2005 bis 31.7.2006 höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu gewähren und die Beigeladene zu verpflichten, für den Zeitraum vom 9.9.2005 bis 31.7.2006 höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unter Ansatz der tatsächlichen Unterkunfts- und Heizkosten zu erbringen, hat das SG die Beklagte unter Änderung der Bescheide verurteilt, der Klägerin für den Monat Oktober 2005 Alg II in Höhe von 345 Euro zu zahlen. Die Beigeladene wurde verurteilt, der Klägerin für den Zeitraum vom 12.9. bis 30.9.2005 Leistungen für Unterkunft und Heizung iHv 185 Euro und für den Monat Oktober 2007 (gemeint: Oktober 2005) iHv 318,78 Euro zu zahlen. Im Übrigen hat das SG die Klage abgewiesen (Urteil vom 16.6.2009). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das SG ausgeführt, soweit die Klägerin Leistungen für die Zeit vom 12.9. bis 27.12.2005 und 16.4. bis 31.7.2006 begehre, sei dieser Anspruch nicht bereits deshalb ausgeschlossen, weil sie für diesen Zeitraum einen Verzicht erklärt bzw den Antrag zeitlich eingeschränkt habe. Die Beigeladene habe aber für den Zeitraum vom 27.12.2005 bis 31.7.2006 bindend entschieden. Im Übrigen ergebe sich die Höhe der (nur) zugesprochenen Beträge unter Berücksichtigung ihres Einkommens aus Alg, Erwerbseinkommen in schwankender Höhe, des Meister-BAföGs und der Zuwendungen von privater Seite.
Gegen das ihr am 13.11.2009 zugestellte Urteil des SG hat die Beschwerdeführerin am 15.11.2010, einem Montag, Berufung eingelegt. Das LSG hat die Berufung der Klägerin als unzulässig mit der Begründung verworfen, dass die Klägerin diese nicht fristgerecht eingelegt habe (Beschluss vom 19.1.2011 - L 6 AS 591/10).
Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision rügt die Klägerin eine Verletzung von § 66 Abs 1 SGG und § 66 Abs 2 SGG. Über die Frist zur Einlegung der Berufung sei sie nicht belehrt worden. Die Rechtsmittelbelehrung des SG-Urteils mit dem Inhalt "Dieses Urteil kann nicht mit der Berufung angefochten werden, weil sie gesetzlich ausgeschlossen und vom Sozialgericht nicht zugelassen worden ist …" enthalte Ausführungen nur zur Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung. Maßgeblich sei daher die Frist von einem Jahr, die mit der am 15.11.2010 eingelegten Berufung gewahrt sei.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist zulässig und im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet.
Die Klägerin hat den als Zulassungsgrund geltend gemachten Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) formgerecht (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) gerügt, indem sie ausgeführt hat, das LSG habe die Berufung zu Unrecht wegen Fristversäumnis als unzulässig verworfen, also statt eines Sachurteils ein Prozessurteil erlassen.
Der geltend gemachte wesentliche Verfahrensmangel liegt auch vor, weil das LSG zu Unrecht im Wege eines Prozessurteils anstelle eines möglichen Sachurteils entschieden hat (BSG Urteil vom 25.6.2002 - B 11 AL 23/02 R). Die Berufung der Klägerin war zulässig. Nach § 151 Abs 1 SGG ist die Berufung bei dem LSG innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Die Berufungsfrist läuft nicht, wenn der Beteiligte keine oder nur eine unvollständige oder unrichtige Rechtsmittelbelehrung erhalten hat; es gilt dann für die Einlegung der Berufung grundsätzlich die Jahresfrist des § 66 Abs 2 SGG (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 151 RdNr 8). So liegt der Fall hier.
Die Rechtsmittelbelehrung des SG war unrichtig, weil die Klägerin - nach ihrem erstinstanzlichen Begehren - die Berufungssumme des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG iHv 750 Euro überschritten hat. Für die Frage, ob die Berufung ohne Zulassung statthaft ist oder nicht, kommt es nach § 144 Abs 1 SGG auf den Wert des Beschwerdegegenstandes an, der danach zu bestimmen ist, was das SG dem Rechtsmittelkläger versagt hat und was von diesem mit seinen Berufungsanträgen weiter verfolgt wird (Meyer-Ladewig, SGG, 9. Aufl 2008, § 144 RdNr 14). Mit ihrer Berufung hat die Klägerin ihr Begehren gegenüber dem in der mündlichen Verhandlung gestellten Klageantrag nicht weiter eingeschränkt. Bei der Bestimmung der von ihr mit der Berufung begehrten Leistungen ist daher ihr Schriftsatz gegenüber dem SG vom 13.1.2009 heranzuziehen, in dem sie den von ihr angenommenen (Gesamt-)Bedarf dem aus ihrer rechtlichen Sicht (nur) anrechenbarem Alg-Einkommen gegenübergestellt hat. Auch ohne Berücksichtigung des hiervon abzusetzenden Grundfreibetrags sowie des Erwerbstätigenfreibetrags ergibt sich - unter Beachtung der vom SG zugesprochenen Summe - ein 750 Euro übersteigender Betrag. Hierbei ist - unabhängig davon, dass zwei Leistungsträger im Verfahren beteiligt sind - der Gesamtanspruch maßgebend.
Ausgehend von einer am 13.11.2009 erfolgten Zustellung des erstinstanzlichen Urteils vom 16.6.2009 war die einjährige Berufungsfrist des § 66 Abs 2 SGG mit dem Eingang der Berufung der Klägerin am 15.11.2010, einem Montag, erfüllt. Damit hätte das LSG über die Berufung der Klägerin in der Sache entscheiden müssen.
Auf der Grundlage von § 160a Abs 5 SGG macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Die Entscheidung über die Kosten unter Einbeziehung der Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.