Entscheidungsdatum: 12.10.2016
Wird eine Datei, die eine Berufungsschrift enthält, ohne erforderliche qualifizierte elektronische Signatur über das elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach übermittelt, entspricht ihr Ausdruck durch das Gericht, unabhängig davon, ob diese Datei eine Unterschrift enthält oder auf welche Weise diese Unterschrift generiert wurde, nicht den Anforderungen an die Schriftform einer Berufungsschrift.
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 12. November 2015 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander auch für das Revisionsverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Die Klägerin wendet sich gegen die Verwerfung ihrer in ein elektronisches Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) übermittelten Berufung als unzulässig. In der Sache streiten die Beteiligten um die Aufhebung und Erstattung von Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II.
Der Beklagte hob gegenüber der Klägerin die Bewilligung von Leistungen für die Zeit vom 1.3.2012 bis 31.8.2012 teilweise auf und verlangte die Erstattung eines Betrages von 1011,68 Euro mit der Begründung, der Klägerin habe nur die Hälfte der bewilligten Unterkunftskosten zugestanden, weil eine weitere Person polizeilich in ihrer Wohnung gemeldet gewesen sei (Bescheide vom 5.7.2013; Widerspruchsbescheid vom 19.9.2013).
Das SG hat die Klage nach einer Beweisaufnahme abgewiesen (Urteil vom 28.4.2015). In der Rechtsmittelbelehrung des Urteils hat es auf die Möglichkeit einer Berufung, die Berufungsfrist von einem Monat nach Zustellung des Urteils sowie über die Einlegung der Berufung hingewiesen und darüber hinaus ausgeführt:
"Die Berufung ist … schriftlich, in elektronischer Form oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. … Die elektronische Form wird durch eine qualifizierte signierte Datei gewahrt, die nach den Maßgaben der Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr mit der Justiz im Land Berlin vom 27. Dezember 2006 (GVBl. S. 1183) i.d.F. vom 9. Dezember 2009 (GVBl. S. 881) bzw. der Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr im Land Brandenburg vom 14. Dezember 2006 (GVBl. II S. 558) i.d.F. vom 1. Oktober 2007 (GVBl. II S. 425) in die elektronische Poststelle des jeweiligen Gerichts zu übermitteln ist. …"
Das Urteil ist der Klägerin am 16.5.2015 zugestellt worden. Am 16.6.2015, einem Dienstag, ist um 1:13 Uhr im EGVP des LSG eine Datei im PDF-Format mit dem Titel "0004-Berufung fertig.pdf" eingegangen, ohne dass für die Übermittlung eine Signatur verwendet wurde. Die übersandte Datei enthielt einen Berufungsschriftsatz vom 16.6.2015 auf dem Kopfbogen der Klägerin mit der Bilddatei einer zuvor eingescannten Unterschrift. Dieser Schriftsatz ist um 6:32 Uhr durch einen Justizbediensteten ausgedruckt und am Folgetag von der Vorsitzenden des zuständigen LSG-Senats erstmals richterlich bearbeitet worden. Am 19.6.2015 ging beim LSG ein per Post übersandter Schriftsatz vom 15.6.2015 ein. Dieser entsprach inhaltlich dem zuvor als Datei übermittelten Berufungsschriftsatz, war jedoch davon abweichend handschriftlich von der Klägerin unterzeichnet.
Das LSG hat die Berufung als unzulässig verworfen (Urteil vom 12.11.2015), weil diese nicht formwirksam eingelegt worden sei. Durch die Übermittlung unsignierter Dateien in das EGVP des LSG am 16.6.2015 sei weder die Schriftform noch die elektronische Form gewahrt. Die Übermittlung elektronischer Dokumente erfordere, damit diese einem schriftlich zu unterzeichnenden Schriftstück gleichstehen, gemäß § 65a SGG die Verwendung einer qualifizierten elektronischen Signatur. Die Schriftform nach § 151 SGG, der in typischer Weise durch die eigenhändige Unterschrift des Berechtigten Rechnung getragen werde, sei nicht gewahrt durch den Ausdruck einer elektronisch übermittelten Datei, welche lediglich eine in das Dokument eingefügte Datei einer zuvor isoliert eingescannten Unterschrift wiedergebe.
Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision macht die Klägerin geltend, das LSG hätte statt einem Prozessurteil ein Sachurteil erlassen müssen. Unter Verletzung von § 65a Abs 2 S 3 SGG, § 151 Abs 1 SGG und § 158 S 1 SGG sei es zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Berufung nicht innerhalb der Monatsfrist schriftlich eingelegt worden sei. Der am Morgen des 16.6.2015 durch das LSG erstellte Ausdruck der zuvor eingegangenen PDF-Datei enthalte alle notwendigen Bestandteile einer Berufungsschrift und auch ihre Unterschrift. Es reiche entsprechend der zum Computerfax ergangenen Rechtsprechung aus, dass die Unterschrift - unabhängig davon, ob zusammen mit dem Schriftsatz oder isoliert - eingescannt worden sei. Sachlich gerechtfertigte Unterschiede zwischen der Übersendung per normalem Fax, per Computerfax oder per EGVP mit einzelner oder zusammen mit dem Dokument eingescannter Unterschrift seien nicht vorhanden. Jedenfalls aber habe das LSG es versäumt, unverzüglich mitzuteilen, dass das elektronisch übermittelte Dokument nicht den in § 65a Abs 1 SGG bestimmten Anforderungen genüge, was einen Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand begründe. Selbst ein Mitarbeiter, der kein Jurist sei, habe das Fehlen der elektronischen Signatur und damit den Wirksamkeitsmangel bereits am 16.6.2015 erkennen können und mitteilen müssen.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 12. November 2015 und des Sozialgerichts Berlin vom 28. April 2015 sowie die Bescheide vom 5. Juli 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. September 2013 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das Urteil des LSG für zutreffend.
Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet und zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 S 1 SGG). Zu Recht hat das LSG ihre Berufung gegen das am 16.5.2015 zugestellte Urteil des SG vom 28.4.2015 als unzulässig verworfen, denn die Berufung ist nicht innerhalb der am 16.6.2015 endenden Berufungsfrist formgerecht eingelegt worden. Durch Übermittlung der PDF-Datei in das EGVP des LSG am 16.6.2015 wurden weder die besonderen Anforderungen an die elektronische Form (dazu 1.) noch - durch den Ausdruck - die Schriftform (dazu 2.) eingehalten. Der postalisch übermittelte, am 19.6.2015 beim LSG eingegangene, Schriftsatz der Klägerin hat die Berufungsfrist nicht gewahrt (dazu 3.). Gründe für eine Widereinsetzung in den vorigen Stand liegen nicht vor (dazu 4.).
1. Gemäß § 65a Abs 1 S 1 SGG (anwendbar in der ab dem 1.4.2005 geltenden Fassung des Justizkommunikationsgesetzes
Die erforderliche Rechtsverordnung bestimmt den Zeitpunkt, von dem an Dokumente an ein Gericht elektronisch übermittelt werden können, sowie die Art und Weise, in der elektronische Dokumente einzureichen sind (§ 65a Abs 1 S 2 SGG). Für Dokumente, die einem schriftlich zu unterzeichnenden Schriftstück gleichstehen, enthält § 65a Abs 1 S 3 SGG besondere Vorgaben. Danach ist für die Übermittlung solcher Dokumente eine qualifizierte elektronische Signatur nach § 2 Nr 3 des Signaturgesetzes (SigG) vorzuschreiben. Daneben kann auch ein anderes sicheres Verfahren zugelassen werden, das die Authentizität und die Integrität des übermittelten elektronischen Dokuments sicherstellt (§ 65a Abs 1 S 4 SGG). Die Landesregierungen können die Ermächtigung zum Erlass einer Rechtsverordnung gemäß § 65a Abs 1 S 5 SGG auf die für die Sozialgerichtsbarkeit zuständigen Behörden übertragen; die Zulassung der elektronischen Übermittlung kann auf einzelne Gerichte oder Verfahren beschränkt werden (§ 65a Abs 1 S 6 SGG).
Nach den Ausführungen des LSG zum Landesrecht, die für den Senat maßgebend (§ 162 SGG; § 202 S 1 SGG iVm § 560 ZPO) und daher nicht zu überprüfen sind, hat das Land Berlin von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und die Ermächtigung durch § 1 Nr 6 der Verordnung zur Übertragung von Ermächtigungen auf dem Gebiet des elektronischen Rechtsverkehrs und der elektronischen Aktenführung vom 19.12.2006 (GVBl Berlin, S 1167) auf die für Justiz zuständige Senatsverwaltung übertragen. Für den Zuständigkeitsbereich des LSG Berlin-Brandenburg ist die Übermittlung elektronischer Dokumente seit dem 1.11.2007 durch Rechtsverordnung zugelassen. Gemäß § 1 S 1 der Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr mit der Justiz im Land Berlin (ERVJustizV) vom 27.12.2006 (GVBl Berlin, S 1183) können bei den in der Anlage zu dieser Verordnung bezeichneten Gerichten elektronische Dokumente eingereicht werden. Die Anlage zur ERVJustizV idF der Ersten Verordnung zur Änderung der ERVJustizV vom 11.10.2007 (GVBl Berlin, S 539) sieht vor, dass mit Wirkung zum 1.11.2007 in allen Verfahren vor dem LSG Berlin-Brandenburg elektronische Dokumente eingereicht werden können. Nach § 2 Abs 1 S 1 ERVJustizV hat die Einreichung durch die Übertragung eines elektronischen Dokuments in die elektronische Poststelle des jeweiligen Gerichts zu erfolgen. Nach § 2 Abs 2 S 1 ERVJustizV sind die elektronischen Dokumente mit einer qualifizierten elektronischen Signatur nach § 2 Nr 3 SigG zu versehen, wenn die Schriftform vorgeschrieben ist.
Die Klägerin übermittelte nach den Feststellungen des LSG am 16.6.2015 elektronisch eine Berufungsschrift in das EGVP des LSG als PDF-Dokument ohne eine Signatur zu verwenden. Diese Übermittlung bewirkte keine formgemäße Einlegung der Berufung, weil es sich bei der Berufung gemäß § 151 Abs 1 SGG um ein grundsätzlich schriftlich zu unterzeichnendes Dokument handelt; im Falle der Übermittlung in elektronischer Form bedarf dieses einer qualifizierten elektronischen Signatur, die hier nicht verwendet wurde.
2. Die Berufung ist auch nicht - ungeachtet des Fehlens der besonderen Voraussetzungen nach § 65a SGG iVm dem Verordnungsrecht - deshalb als form- und fristgemäß zu werten, weil der am 16.6.2015 elektronisch übermittelte Berufungsschriftsatz noch an diesem Tage beim LSG ausgedruckt wurde.
Allein der Ausdruck eines elektronisch über das EGVP als Datei übermittelten Schriftsatzes entspricht nicht den Anforderungen des § 151 Abs 1 SGG an die Schriftform einer Berufungsschrift. Dies gilt unabhängig davon, ob die übermittelte Datei eine Unterschrift enthält oder auf welche Weise diese Unterschrift generiert wurde. Denn wenn ein Absender zur Übermittlung eines bestimmenden Schriftsatzes als prozessualen Weg die elektronische Übermittlung eines Dokuments wählt, sind für die Beurteilung der Formrichtigkeit allein die hierfür vorgesehenen gesetzlichen Voraussetzungen maßgebend. Ein Rückgriff auf Rechtsprechungsgrundsätze, die entwickelt wurden, um bei Nutzung technischen Übermittlungsformen wie Telefax oder Computerfax die Einhaltung der Schriftform begründen zu können (ausführlich dazu Bernhardt/ Heckmann in jurisPK-Internetrecht, 4. Aufl 2014, Kap 6 RdNr 135 ff), kommt zur "Heilung" von Mängeln der elektronischen Übermittlung iS von § 65a SGG nicht in Betracht.
Nach seinem Sinn und Zweck ist § 65a SGG als abschließende Regelung aller Fallgestaltungen elektronischer Kommunikation anzusehen. § 65a Abs 1 S 3 SGG sieht ausdrücklich vor, dass elektronisch übermittelte Dokumente nur bei Einhaltung besonderer Sicherheitsanforderungen einem schriftlich zu unterzeichnenden Schriftstück "gleichstehen", nämlich wenn eine qualifizierte elektronische Signatur nach § 2 Nr 3 SigG verwendet wird. Die Signatur ist als Funktionsäquivalent zur Unterschrift anzusehen (so BFH Urteil vom 18.10.2006 - XI R 22/06 - BFHE 215, 47, juris RdNr 25; vgl auch BSG Urteil vom 7.7.2011 - B 14 AS 153/10 R - BSGE 108, 289 = SozR 4-4200 § 38 Nr 2, RdNr 11). Konkretisiert werden diese Anforderungen an die Sicherheit durch § 65a Abs 1 S 4 SGG, der verlangt, die Authentizität und Integrität von elektronisch übermittelten bestimmenden Schriftsätzen sicherzustellen. Die verwendeten Verfahren müssen also gewährleisten, dass das elektronische Dokument, wenn es bei Gericht eingeht, dem angegebenen Absender zuzurechnen ist (Authentizität) und inhaltlich (Integrität) durch die Übermittlung nicht verändert werden konnte (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein JKomG, BT-Drucks 15/4067 S 37 zur Parallelvorschrift § 55a VwGO; Müller, NZS 2015, 896, 899; Bernhardt/Heckmann in jurisPK-Internetrecht, 4. Aufl 2014, Kap 6 RdNr 78).
Authentizität und Integrität eines elektronischen Dokuments werden bei Verwendung einer qualifizierten elektronischen Signatur dadurch sichergestellt, dass diese einen öffentlichen und einen persönlichen Signaturschlüssel erfordert, welche von einer Zertifizierungsstelle ausgegeben werden. Der Inhaber dieser Schlüssel erhält eine Smartcard, welche beide Schlüssel enthält und mit einer PIN nur durch den Inhaber berechtigt verwendet werden kann (Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein JKomG, BT-Drucks 15/4067 S 24; ausführlich dazu Bernhardt/ Heckmann in jurisPK-Internetrecht, 4. Aufl 2014, Kap 6 RdNr 93 ff und 108 ff). Nur dadurch ist bei Verwendung der Signatur die Integrität und die Authentizität des Dokuments in einer Weise gewährleistet, die es rechtfertigt, die handschriftliche Unterzeichnung zu ersetzen (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein JKomG, BT-Drucks 15/4067 S 24 unter II.). Der mit diesem Verfahren verbundene Aufwand ist durch den damit verfolgten Zweck gerechtfertigt und erschwert den Zugang zu den Gerichten nicht in unzumutbarer Weise (vgl dazu BVerfG Nichtannahmebeschluss vom 18.4.2007 - 1 BvR 110/07 - RdNr 22).
Bei dem Ausdruck eines nicht nach diesem Verfahren übermittelten Dokuments ist dessen Authentizität und Integrität keinesfalls in gleicher Weise gewährleistet, selbst wenn das Dokument eine eingescannte Unterschrift enthält. Den besonderen Risiken der digitalen Form im Hinblick auf die Veränderbarkeit und die Urheberschaft von Dokumenten, denen der Gesetzgeber begegnen will, kann ein Ausdruck nicht in gleicher Weise Rechnung tragen, wie eine Signatur (vgl Müller, AnwBl 2016, 27, 29). Dies gilt im Hinblick auf die vorhandenen Manipulationsmöglichkeiten auch dann, wenn der Ausdruck eine - wie auch immer generierte - Unterschrift abbildet. Der Zweck der besonderen (Sicherheits-)Anforderungen würde letztlich verfehlt, wenn allein die eingescannte Unterschrift bei elektronischer Übermittlung eine Verletzung dieser spezifisch in § 65a SGG iVm dem Verordnungsrecht geregelten Anforderungen "heilen" und die Form wahren könnte (so auch Sächsisches OVG Beschluss vom 19.10.2015 - 5 D 55/14 - RdNr 8 f zu § 55a VwGO; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 16.8.2012 - L 3 R 801/11 - RdNr 35; Hessisches LSG Beschluss vom 31.3.2016 - L 6 AS 247/15 - RdNr 30; Müller, NZS 2015, 896, 898 und AnwBl 2016, 27, 28).
Entgegen der Auffassung der Klägerin ist es deshalb ohne Bedeutung, ob bezogen auf das Unterschriftserfordernis sachlich gerechtfertigte Unterschiede zwischen der Übersendung per normalem Fax, per Computerfax oder per EGVP bestehen. Auf die Unterschrift kommt es nicht an, wenn Dokumente auf elektronischem Weg übermittelt werden, weil an ihre Stelle die qualifizierte elektronische Signatur tritt. Für eine Rechtsfortbildung, wie sie mit dem Ziel, effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, durch die - den Begriff der Schriftform erweiternden - Rechtsprechung zu Telefax und Computerfax erfolgt ist (zusammenfassend Skrobotz, jurisPR-ITR 24/2015 Anm 2), besteht wegen der mittlerweile geschaffenen gesetzlichen Regelungen zum elektronischen Rechtsverkehr kein Bedürfnis und daher auch kein Raum mehr (so zu Recht Müller, NZS 2015, 896, 898 und AnwBl 2016, 27, 28 f).
§ 65a Abs 1 S 3 SGG würde im Übrigen weitgehend leerlaufen, wenn der Ausdruck bei elektronischer Übermittlung in der Regel die Schriftform des Dokuments wahren könnte (vgl LSG Rheinland-Pfalz Beschluss vom 4.6.2013 - L 6 AS 194/13 B - RdNr 13; zustimmend Keller, jurisPR-SozR 21/2013 Anm 6; Hessisches LSG Beschluss vom 22.6.2016 - L 3 U 71/14 - RdNr 11; Sächsisches OVG Beschluss vom 19.10.2015 - 5 D 55/14 - RdNr 10 zu § 55a VwGO; zustimmend Kuhls, jurisPR-ITR 3/2016 Anm 6; Müller, NZS 2015, 896, 898 und AnwBl 2016, 27, 28). Denn gerade in der Phase des Übergangs vom gewohnten, der Schriftform verbundenen, Rechtsverkehr zum elektronischen Rechtsverkehr wird ein Ausdruck elektronischer Dokumente noch regelmäßig erfolgen.
Die Rechtssicherheit erfordert es zudem, dass die Formwirksamkeit nicht von Faktoren abhängt, auf die der Urheber des Dokuments keinen Einfluss hat. Eine "Heilung" von Mängeln der elektronischen Form durch den Ausdruck hätte aber gerade dies zur Folge, denn der Absender hat es - anders als etwa in der Regel bei der Übermittlung per Fax - nicht in der Hand, ob und wann ein elektronisch übermitteltes Dokument vom Empfänger ausgedruckt wird (vgl hierzu LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 16.8.2012 - L 3 R 801/11 - RdNr 38; Skrobotz, jurisPR-ITR 24/2015 Anm 2; Müller, AnwBl 2016, 27, 29). Solche Unsicherheiten sind ebenso wenig hinzunehmen, wie die oben beschriebenen Abstriche an die Sicherheitsanforderungen (so schon BVerwG Urteil vom 25.4.2012 - 8 C 18/11 - BVerwGE 143, 50 RdNr 17; Hauck in Hennig, SGG, § 65a RdNr 15 - Stand Dezember 2012).
Zur Vermeidung von Überschneidungen und den damit verbundenen Rechtsunsicherheiten für die Beurteilung der Formwirksamkeit bestimmender Dokumente ist daher allein auf die Art der Kommunikation abzustellen, der sich der Absender bedient. Im vorliegenden Fall hat die Klägerin durch die Nutzung des EGVP zur Übermittlung ihrer Berufungsschrift ausdrücklich den elektronischen Weg zur Berufungseinlegung gewählt, sodass sich - trotz des Ausdrucks des übermittelnden Dokuments - die formellen Anforderungen allein nach § 65a Abs 1 SGG iVm den entsprechenden Rechtsverordnungen richten. Diese sind, wie oben dargelegt, mangels der Verwendung einer elektronischen Signatur nicht erfüllt.
Der Senat stimmt mit seiner Rechtsauffassung zwar nicht überein mit dem BGH und dem BAG. Diese haben vertreten, dass der Ausdruck eines nach Maßgabe des § 130a ZPO - der weitgehend § 65a SGG entspricht - nicht formgerecht elektronisch eingereichten Dokuments dieses durchaus zu einem schriftlichen Dokument machen kann; die Schriftform soll gewahrt sein, wenn es innerhalb der Rechtsmittelfrist ausgedruckt wird und zudem aus einem eingescannten Schriftsatz besteht, der im Original von dem Rechtsmittelführer eigenhändig unterschrieben wurde (BGH Beschluss vom 18.3.2015 - XII ZB 424/14 - RdNr 9; BAG Beschluss vom 11.7.2013 - 2 AZB 6/13 - RdNr 12; ablehnend Müller, AnwBl 2016, 27, 28 und NZS 2015, 896, 898; aA auch Skrobotz, jurisPR-ITR 24/2015 Anm 2).
Einer Anrufung des GmSOGB nach § 2 Abs 1 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (RsprEinhG) bedarf es indes nicht. Nach dieser Vorschrift ist verbindlich die Entscheidung des Gemeinsamen Senats einzuholen, wenn ein oberster Gerichtshof in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen obersten Gerichtshofs oder des Gemeinsamen Senats abweichen will (§ 2 Abs 1 RsprEinhG). Die Rechtsfrage muss jedoch sowohl für den erkennenden Senat in der anhängigen Sache als auch für den divergierenden Senat in der bereits entschiedenen Sache entscheidungserheblich sein (vgl nur BSG Urteil vom 15.12.2015 - B 10 ÜG 1/15 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 13 RdNr 16). Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. So war die Auffassung des BAG in dem von ihm entschiedenen Fall schon nicht tragend mangels eines Ausdrucks des Dokuments innerhalb der einzuhaltenden Frist. Der BGH wiederum wäre in der hier vorliegenden Konstellation, wie vom LSG zutreffend dargelegt, im Ergebnis ebenso wie der Senat nicht von einer formwirksamen schriftlichen Berufung ausgegangen, weil er die eigenhändige Unterschrift des Schriftsatzes vor dem Digitalisierungsvorgang fordert (BGH Beschluss vom 18.3.2015 - XII ZB 424/14 - RdNr 13). Hier enthält der elektronisch übermittelte Berufungsschriftsatz der Klägerin nach den Feststellungen des LSG nicht deren eigenhändige Unterschrift, sondern eine lediglich in das elektronische Dokument eingefügte elektronische Bilddatei mit der Darstellung einer händischen Unterschrift.
3. Durch die per Post übersandte, von der Klägerin persönlich unterschriebene Berufungsschrift vom 15.6.2015, die am 19.6.2015 beim LSG eingegangen ist, konnte die Berufungsfrist, über die die Klägerin zutreffend belehrt wurde, nicht gewahrt werden, denn zum Zeitpunkt des Eingangs dieses Schriftsatzes war diese bereits abgelaufen. Die einmonatige Frist (§ 151 Abs 1 SGG) begann nach § 64 Abs 1 SGG am Tag nach der Zustellung (16.5.2015) des vollständigen Urteils, also dem 17.5.2015, und endete nach § 64 Abs 2 SGG am Dienstag, dem 16.6.2015.
4. Der Klägerin war auch, wie das LSG zu Recht erkannt hat, keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand setzt nach § 67 Abs 1 SGG voraus, dass jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Das LSG hat keine Gründe festgestellt, welche die Klägerin vorliegend gehindert haben könnten, die Frist zur Einlegung der Berufung zu wahren. Zudem ist zu berücksichtigen, dass Rechtsbehelfsfristen zwar bis zum letzten Tag ausgeschöpft werden dürfen, dann aber erhöhte Sorgfaltsanforderungen bestehen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 67 RdNr 9n mwN).
Wiedereinsetzung kommt auch nicht wegen Verletzung einer gerichtlichen Mitteilungspflicht in Betracht (vgl zur Wiedereinsetzung bei Fehlern des Gerichts nur Keller in Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 67 RdNr 4a ff). Nach § 65a Abs 2 S 3 SGG hat das Gericht dem Absender einer elektronischen Nachricht unverzüglich mitzuteilen, wenn das übersandte Dokument den rechtlichen Anforderungen nicht genügt. Das dürfte auch hinsichtlich der qualifizierten elektronischen Signatur und nicht nur bezüglich technischer Erfordernisse der Übersendung, etwa bei Übermittlung einer Datei in einem nicht zugelassenen Format, anzunehmen sein (vgl BVerwG Urteil vom 25.4.2012 - 8 C 18/11 - BVerwGE 143, 50 RdNr 18). Unverzüglich ist eine Mitteilung, wenn sie ohne schuldhaftes Zögern erfolgt. Da die Klägerin vorliegend die Berufungsschrift (erst) am letzten Tag der Berufungsfrist übermittelt hat, wäre sie nur durch einen Hinweis noch an diesem Tag in die Lage versetzt worden, Weiteres zur Wahrung der Frist zu veranlassen.
Ein dem Gericht zurechenbares schuldhaftes Zögern liegt aber nicht darin, dass am Tag des Eingangs der Berufungsschrift ein richterlicher Hinweis unterblieben ist. Denn die richterliche Erstbearbeitung eines Dokuments nicht bereits am Tag seines Eingangs entspricht jedenfalls dann, wenn dieses keinen Hinweis auf eine besondere Dringlichkeit erhält, wegen der regelmäßig erforderlichen verwaltungstechnischen Vorarbeiten (Zuordnung des Dokuments zu einer Akte oder Anlegen der Akte; Zuständigkeitsbestimmung; Zutrag) dem üblichen Geschäftsgang. Die Gerichte sind im Rahmen ihrer Fürsorgepflicht nicht verpflichtet, außerordentliche Maßnahmen zugunsten des Betroffenen zu ergreifen (vgl BSG Beschluss vom 23.7.2012 - B 13 R 280/12 B - RdNr 6 mwN; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 67 RdNr 4d). Ein besonderer Hinweis am Folgetag, als die Akte erstmals von der Senatsvorsitzenden bearbeitet wurde, war nicht geboten, denn selbst eine telefonische Benachrichtigung der Klägerin an diesem Tag hätte wegen des Fristablaufs eine fristgerechte Berufungseinlegung nicht (mehr) ermöglichen können.
Entgegen der Auffassung der Klägerin ist es nicht von Bedeutung, dass das Fehlen einer qualifizierten elektronischen Signatur möglicherweise auch von nichtrichterlichen Mitarbeitern bei der Erstbearbeitung am 16.6.2015 erkennbar war. Jedenfalls die Beurteilung des Dokuments als eines, das iS von § 65a Abs 1 S 3 SGG einem schriftlichen zu unterzeichnenden Schriftstück gleichsteht - und nur dieses bedarf der qualifizierten elektronischen Signatur - ist dem Aufgabenbereich des nichtrichterlichen Dienstes entzogen und kann erst durch den Richter getroffen werden.