Bundessozialgericht

Entscheidungsdatum: 21.03.2013


BSG 21.03.2013 - B 3 P 15/12 B

Pflegeversicherung - Feststellung der Pflegestufe II - Höherstufung - sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - Zurückverweisung


Gericht:
Bundessozialgericht
Spruchkörper:
3. Senat
Entscheidungsdatum:
21.03.2013
Aktenzeichen:
B 3 P 15/12 B
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend SG Freiburg (Breisgau), 11. Juli 2011, Az: S 5 P 641/10, Gerichtsbescheidvorgehend Landessozialgericht Baden-Württemberg, 12. Juli 2012, Az: L 4 P 3405/11, Urteil
Zitierte Gesetze
§ 44 SGB 10

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 12. Juli 2012 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen, soweit es um Pflegegeld nach der Pflegestufe II für den Monat Februar 2009 geht. Die weitergehende Beschwerde wird zurückgewiesen.

Gründe

1

I. Der Kläger bezieht von der beklagten Pflegekasse Pflegegeld nach der Pflegestufe I seit dem 1.6.2004 und nach der Pflegestufe II seit dem 1.3.2009; die Pflegeleistungen werden von seiner Ehefrau erbracht. Er begehrt im vorliegenden Rechtsstreit die Gewährung von Pflegegeld nach der Pflegestufe II rückwirkend auch für die Zeit vom 25.5.2007 bis zum 28.2.2009. Dazu macht er geltend, die zeitlichen Voraussetzungen der Pflegestufe II (§ 15 Abs 1 S 1 Nr 2 und Abs 3 S 1 Nr 2 SGB XI) seien entgegen den Feststellungen der Pflegefachkraft S. im Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 20.4.2009 nicht erst seit dem 1.3.2009, sondern schon seit Mai 2007 erfüllt gewesen. Deshalb habe er bereits am 25.5.2007 seinen ersten Höherstufungsantrag gestellt.

2

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 11.7.2011) und das Landessozialgericht (LSG) die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 12.7.2012): Prüfungsgegenstand sei allein der auf dem Höherstufungsantrag vom 18.2.2009 beruhende Bescheid der Beklagten vom 20.5.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.1.2010, mit dem das Pflegegeld nach der Pflegestufe II ab 1.3.2009 bewilligt worden sei, nachdem das MDK-Gutachten vom 20.4.2009 einen Grundpflegebedarf von täglich 121 Minuten ab März 2009 ergeben habe. Für den Monat Februar 2009 könne das erhöhte Pflegegeld trotz rechtzeitiger Antragstellung (§ 33 Abs 1 S 3 SGB XI) am 18.2.2009 nicht gewährt werden, weil das als überzeugend anzusehende MDK-Gutachten den Eintritt der Leistungsvoraussetzungen vor dem 1.3.2009 nicht bestätigt habe. Der Anspruch auf das Pflegegeld nach der Pflegestufe II für die Zeit vom 25.5.2007 bis zum 31.1.2009 sei schon aus Rechtsgründen ausgeschlossen, weil der Höherstufungsantrag vom 25.5.2007 nicht mehr offen, sondern durch die Rücknahme des Widerspruchs vom 12.9.2007 gegen den Ablehnungsbescheid vom 17.8.2007 seit dem 14.11.2007 erledigt sei. Die auf Bescheidung des Widerspruchs vom 12.9.2007 gerichtete Untätigkeitsklage des Klägers (§ 88 SGG) sei rechtskräftig abgewiesen worden, weil die Gerichte die - vom Kläger bestrittene - fernmündliche Rücknahme des Widerspruchs durch seine Ehefrau nach Beweisaufnahme als erwiesen angesehen hätten (Gerichtsbescheid des SG vom 21.1.2009 - S 5 P 629/08 -, Urteil des LSG vom 12.2.2010 - L 4 P 776/09 -; Verwerfung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Berufungsurteil durch Beschluss des BSG vom 15.7.2010 - B 3 P 6/10 B -). Ein weiterer Höherstufungsantrag des Klägers vom 15.11.2007 sei mit Schreiben vom 11.12.2007 zurückgenommen worden. Hinsichtlich des Leistungszeitraums vom 25.5.2007 bis zum 31.1.2009 (bzw 28.2.2009) könne die Klage auch nicht unter dem Blickwinkel des § 44 SGB X Erfolg haben, weil das MDK-Gutachten vom 20.4.2009 einen Grundpflegebedarf von mindestens 120 Minuten (§ 15 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB XI) erst ab 1.3.2009 bestätige. Daher könne die Frage offen bleiben, ob ein Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X überhaupt beantragt und - so das SG - von der Beklagten abschlägig beschieden worden sei.

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Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG vom 12.7.2012 richtet sich die Beschwerde des Klägers vom 20.7.2012, die er mit Verfahrensfehlern begründet (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG).

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II. Die Beschwerde des Klägers führt zur Aufhebung des angefochtenen Berufungsurteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG gemäß § 160a Abs 5 SGG, soweit es um den Anspruch auf Gewährung von Pflegegeld nach der Pflegestufe II für den Monat Februar 2009 geht. Im Übrigen ist die Beschwerde unbegründet.

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1. Die erhobene Verfahrensrüge der Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) ist begründet, soweit der Kläger auch für den Monat Februar 2009 das Pflegegeld nach der Pflegestufe II begehrt. Zugleich mit der Erklärung seines Einverständnisses zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) hat der Kläger in seinem Schriftsatz an das LSG vom 4.7.2012 beantragt, ein Sachverständigengutachten zu seiner Behauptung einzuholen, die zeitlichen Voraussetzungen der Pflegestufe II (§ 15 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB XI) seien nicht erst, wie im MDK-Gutachten vom 20.4.2009 festgestellt, ab 1.3.2009 erfüllt gewesen, sondern bereits ab 25.5.2007. Dazu hat er angeregt, den Facharzt für Innere Medizin und Allgemeinmedizin Dr. S. G. mit der Begutachtung zu beauftragen, der bereits im Verfahren S 1 SB 475/10 des SG Freiburg über die Klage wegen Zuerkennung des Merkzeichens H (Hilflosigkeit) mit der Begutachtung beauftragt worden war und in seinem Gutachten vom 8.6.2011 ua festgestellt hatte, zum Zeitpunkt der ambulanten Untersuchung am 3.2.2011 sei bei ihm - dem Kläger - ein Grundpflegebedarf von täglich 147 Minuten vorhanden gewesen. Diesen Beweisantrag hat das LSG zwar im Tatbestand des Urteils vom 12.7.2012 (vgl den Hilfsantrag, Urteilsumdruck S 7) erwähnt, die Einholung des Gutachtens in den Entscheidungsgründen (Urteilsumdruck S 13) jedoch abgelehnt, weil es die Sachlage aufgrund des MDK-Gutachtens vom 20.4.2009, das es für überzeugend hielt, als geklärt ansah.

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2. Die Ablehnung der weiteren Ermittlungen zum Grundpflegebedarf des Klägers vor dem 1.3.2009 erweist sich als verfahrensfehlerhaft, soweit es um den Monat Februar 2009 geht.

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a) Die Pflegefachkraft S. hat im MDK-Gutachten vom 20.4.2009 die Zuerkennung der Pflegestufe II empfohlen und hinsichtlich des Zuerkennungszeitpunkts hinzugefügt "seit: 03.2009". Diese Aussage des Gutachtens ist nicht eindeutig. Es kann jedenfalls ohne weitere Ermittlungen nicht davon ausgegangen werden, dass der festgestellte Grundpflegebedarf von täglich 121 Minuten erst ab 1.3.2009 vorgelegen hat, vorher aber nicht. Das LSG hätte sich gedrängt fühlen müssen, der Frage nachzugehen, ob dieser Grundpflegebedarf auch schon im Monat Februar 2009 vorgelegen hat.

8

Der Kläger hat die Höherstufung in die Pflegestufe II bereits mit Schriftsatz vom 18.2.2009, bei der Beklagten eingegangen am 23.2.2009, beantragt und diesen Antrag durch nähere Angaben im Höherstufungsformular vom 6.3.2009, das ihm von der Beklagten übersandt worden war und dort am 12.3.2009 ausgefüllt wieder einging, untermauert. Nach den Verwaltungsakten ist es nicht auszuschließen, dass die Beklagte dem durch Schreiben vom 18.3.2009 erteilten Begutachtungsauftrag an den MDK (§ 18 SGB XI) nur das Höherstufungsformular vom 6.3.2009 beigefügt hat, nicht aber den eigentlichen Höherstufungsantrag vom 18.2.2009. Dabei ist zu bedenken, dass die Beklagte auch im Widerspruchsbescheid vom 26.1.2010 den Höherstufungsantrag fälschlich auf den 6.3.2009 datiert hat. Obgleich das dem MDK übersandte Formular in der rechten oberen Ecke der ersten Seite das Datum 18.2.2009 trägt, könnte der MDK das Formular so gedeutet haben, die Höherstufung sei überhaupt erst am 6.3.2009 beantragt worden oder der Antrag sei erst an diesem Tage wirksam geworden. Bei dieser Auslegung könnte der Zusatz "seit: 03.2009" möglicherweise so gedeutet werden, eine Feststellung zum Grundpflegebedarf vor dem 1.3.2009 erübrige sich, weil es bis dahin an einem Höherstufungsantrag als Leistungsvoraussetzung fehle (§ 33 Abs 1 S 1 SGB XI). Eine Erfüllung der Leistungsvoraussetzungen vor dem 1.3.2009 wäre danach nicht ausgeschlossen. In Betracht kommt einerseits der 23.2.2009, der Zeitpunkt des Eingangs des Höherstufungsantrags vom 18.2.2009 bei der Beklagten (§ 33 Abs 1 S 1 und 2 SGB XI), und andererseits der 1.2.2009 als Beginn des Monats der Antragstellung, wenn die Leistungsvoraussetzungen der Pflegestufe II schon im Januar 2009 vorgelegen haben (§ 33 Abs 1 S 1 und 3 SGB XI).

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Der Zusatz "seit: 03.2009" kann jedoch auch eine andere Bedeutung haben. Wenn dem MDK der zutreffende Antragszeitpunkt 18.2.2009 bekannt war, könnte der Zusatz bedeuten, dass die Leistungsvoraussetzungen erst zum 1.3.2009 eingetreten sind, also zum Zeitpunkt des Höherstufungsantrags noch nicht vorgelegen haben (§ 33 Abs 1 S 2 SGB XI). Diesen diversen Auslegungsmöglichkeiten wird das LSG nunmehr nachzugehen haben. Dabei ist es nicht an den Beweisantrag des Klägers vom 4.7.2012 gebunden. Hier könnte sich zB eine Nachfrage an den MDK anbieten, aber auch eine ergänzende Beweisaufnahme - wie vom Kläger beantragt.

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b) Die Beschwerde ist unbegründet, soweit es um den Leistungszeitraum vom 25.5.2007 bis zum 31.1.2009 geht.

11

Das LSG hat zutreffend darauf hingewiesen, dass der den Höherstufungsantrag vom 25.5.2007 ablehnende Bescheid der Beklagten vom 17.8.2007 nach der Rücknahme des Widerspruchs vom 12.9.2007 bestandskräftig geworden ist. Den Streit der Beteiligten über die Rücknahme des Widerspruchs haben die Gerichte zugunsten der Beklagten entschieden.

12

Über die begehrte Höherstufung ab 25.5.2007 hätte im vorliegenden Rechtsstreit also nur dann entschieden werden können, wenn ein Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X durchgeführt worden wäre, das mit einer Bestätigung der Ablehnungsentscheidung der Beklagten vom 17.8.2007 geendet hätte. Das war jedoch nicht der Fall. Zwar hat der Kläger durch Schreiben vom 30.3.2009 einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X gestellt und mit weiterem Schreiben vom 18.3.2010 an die Erledigung dieses Antrags erinnert. Einen Bescheid zu diesem Überprüfungsantrag hat die Beklagte bisher jedoch - soweit ersichtlich - nicht erlassen. Das mit dem Bescheid vom 20.5.2010 und dem Widerspruchsbescheid vom 26.1.2010 beendete Verwaltungsverfahren betraf von vornherein nur die Zeit ab Februar 2009. Für die davor liegende Zeit fehlt es an einer Entscheidung der Beklagten zum Überprüfungsantrag vom 30.3.2009. Daher war das LSG schon aus Rechtsgründen gehindert, dem Leistungsbegehren für die Zeit bis Januar 2009 stattzugeben.

13

Die Beklagte hat das unerledigte Überprüfungsverfahren nunmehr unverzüglich nachzuholen.

14

3. Über die Frage der Kostenerstattung im Beschwerdeverfahren wird das LSG im Zuge des erneut durchzuführenden Berufungsverfahrens zu entscheiden haben.