Entscheidungsdatum: 30.03.2017
Die Entscheidung des Unfallversicherungsträgers, ob und ggf welchen Gesamtschuldner er in welcher Höhe in Haftung nimmt, liegt in seinem pflichtgemäßen Ermessen.
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 23. April 2015 aufgehoben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 4. März 2013 zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte den Kläger als bestellten Bevollmächtigten der Bau & Forstbetrieb L. Limited (B & F L. Limited) für deren Beitragsschulden in voller Höhe durch Beitragsbescheid in Anspruch nehmen durfte.
Der Kläger war (Mit-)Gesellschafter und alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer der B & F L. Limited, einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung nach englischem und walisischem Recht, die im Handelsregister für England und Wales (Companies House) eingetragen war. Satzungssitz war Birmingham; das Haftungskapital betrug 100 englische Pfund. Unternehmensgegenstand waren ua Maurer-, Putz- und Betonarbeiten.
Mit identischem Unternehmensgegenstand meldete die B & F L. Limited am 29.12.2005 im Inland eine Zweigstelle als Gewerbe an. Diese wurde später in das Handelsregister beim AG Frankfurt (Oder) eingetragen. In der Gewerbeanmeldung wurde der Kläger als Bevollmächtigter der B & F L. Limited benannt. Die Zweigniederlassung nahm ihre Geschäftstätigkeit zum 1.1.2006 auf. Im Jahre 2007 stellte sie den Geschäftsbetrieb ein. Das Gewerbe wurde zum 28.2.2007 abgemeldet. Das AG Frankfurt (Oder) eröffnete durch Beschluss vom 2.4.2007 das Insolvenzverfahren über das Vermögen der B & F L. Limited. Die Beklagte forderte vom Kläger persönlich nach Anhörung Umlagen und Unfallversicherungsbeiträge iHv 8639,41 Euro für das Umlagejahr 2006 (Beitragsbescheid vom 7.6.2010, Widerspruchsbescheid vom 10.12.2010).
Das SG Frankfurt (Oder) hat die Bescheide auf die Klage aufgehoben (Urteil vom 4.3.2013): Ein Rückgriff auf den Kläger nach § 130 Abs 2 SGB VII sei nicht möglich, weil die Vorschrift nur Fälle erfasse, in denen ein ausländisches Unternehmen im Inland überhaupt keinen Sitz habe. Ein Inlandssitz bestehe, wenn im Inland eine Betriebsstätte unter verantwortlicher Leitung des Unternehmers existiere. Ein Zugriff auf einen Bevollmächtigten sei dann nicht erforderlich, weil mit der Zweigniederlassung ein für den Unfallversicherungsträger greifbarer Schuldner existiere.
Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG Berlin-Brandenburg das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 23.4.2015): Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger sei nach § 150 Abs 2 S 2 iVm § 130 Abs 2 S 1 SGB VII Schuldner der Beitragsforderung. Er sei als alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer unzweifelhaft Bevollmächtigter iS des § 130 Abs 2 S 1 SGB VII. Auch habe die B & F L. Limited keinen Inlandssitz gehabt. Maßgeblich hierfür sei die sog Gründungstheorie des EuGH. Hiernach komme es auf den Staat an, in dem die Gesellschaft gegründet worden sei. Die B & F L. Limited habe ihren Gesellschaftssitz weiterhin in Großbritannien. Den Entscheidungen des EuGH zur Gründungstheorie sei der Grundgedanke zu entnehmen, dass, wenn ein EU-Staatsangehöriger in einem Mitgliedsstaat rechtmäßig eine Kapitalgesellschaft gründe, die Geschäftstätigkeit der Gesellschaft dann aber ausschließlich in einem anderen Mitgliedsstaat entfalte, auf die Gesellschaft das Recht des Gründungsstaates Anwendung finde. Der Kläger könne nicht iS eines Rosinenpickens im Rahmen seiner Gestaltungsmöglichkeiten eine Gesellschaft nach ausländischem Recht gründen, mit dieser ausschließlich im Inland Geschäftsaktivitäten entfalten, um sich dann dennoch als inländische Gesellschaft behandeln lassen zu wollen. Zudem bestehe bei ausländischen Gesellschaften, die mangels Mindestkapitalisierung weniger solvent seien, ein Bedürfnis, einen gesamtschuldnerisch haftenden Bevollmächtigten nach § 130 Abs 2 SGB VII zu bestellen. Insbesondere spreche auch § 130 Abs 2 S 3 SGB VII, der den Ort der inländischen Betriebsstätte als Sitz fingiere, für eine an rechtlichen Gesichtspunkten orientierte Begriffsbestimmung. Einer solchen Fiktion bedürfte es nicht, wenn allein die Existenz einer Zweigniederlassung ohne Weiteres einen Inlandssitz begründen würde. Schließlich würde nach §§ 13d ff HGB für ausländische Gesellschaften im Geltungsbereich des HGB eine Niederlassung eingetragen, ohne dass hierdurch eine Änderung des Unternehmenssitzes eintrete.
Der Kläger rügt mit seiner Revision eine Verletzung des § 150 Abs 2 iVm § 130 Abs 2 S 1 SGB VII. Der Unternehmenssitz sei gemäß § 130 Abs 1 SGB VII nicht rechtlich, sondern nach dem organisatorischen Mittelpunkt zu bestimmen. Soweit ein Unternehmen im Inland einen organisatorischen Mittelpunkt habe, habe es mit dieser selbständigen Niederlassung einen Inlandssitz.
Der Kläger beantragt, |
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das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 23. April 2015 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 4. März 2013 zurückzuweisen. |
Die Beklagte, die dem angefochtenen Urteil beipflichtet, beantragt, |
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die Revision zurückzuweisen. |
Die Revision des Klägers ist begründet. Zu Unrecht hat das LSG das zusprechende Urteil des SG aufgehoben und die isolierte Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 Var 1 SGG) des Klägers abgewiesen. Die Entscheidung der Beklagten in dem Beitragsbescheid vom 7.6.2010 iVm dem Widerspruchsbescheid vom 10.12.2010, ihn als Gesamtschuldner allein in voller Höhe für die Beiträge der B & F L. Limited im Umlagejahr 2006 heranzuziehen, ist rechtswidrig. Zwar lagen im hier maßgebenden Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung im Jahre 2010 die Tatbestandsvoraussetzungen der herangezogenen § 168 Abs 1, § 130 Abs 2 S 2, § 150 Abs 1 S 1, Abs 2 S 2 SGB VII zu Lasten des Klägers vor. Die neu entstandene Beitragspflicht des Klägers änderte jedoch nichts daran, dass die B & F L. Limited weiterhin ebenfalls Beitragsschuldnerin war (nachfolgend 1.). Die Beklagte hat es aber versäumt, von der ihr in § 150 Abs 2 S 2 SGB VII eingeräumten gesetzlichen Ermächtigung Gebrauch zu machen und zu begründen, wieso sie die Beiträge von dem Kläger persönlich in voller Höhe als Gesamtschuldner fordert. Insofern liegt ein Ermessensfehler in Form des Ermessensnichtgebrauchs vor (§ 54 Abs 2 S 2 SGG; nachfolgend 2.).
1. Nach § 168 Abs 1 SGB VII teilt der Unfallversicherungsträger den Beitragspflichtigen den von ihnen zu zahlenden Beitrag schriftlich mit. Beitragspflichtig sind nach § 150 Abs 1 S 1 SGB VII die Unternehmer (§ 136 Abs 3 Nr 1 SGB VII), für deren Unternehmen (§ 121 Abs 1 SGB VII) Versicherte (§§ 2, 3 und 6 SGB VII) tätig sind oder zu denen Versicherte in einer besonderen, die Versicherung begründenden Beziehung stehen. Die (örtliche) Zuständigkeit des Unfallversicherungsträgers und dessen Gläubigerstellung im Beitragsschuldverhältnis richtet sich gemäß § 130 Abs 1 S 1 SGB VII nach dem Sitz des Unternehmens. Diese Vorschrift regelt indes nur Fälle, in denen Unternehmen einen Inlandssitz haben, wie sich im Umkehrschluss aus § 130 Abs 2 S 1 SGB VII ergibt ("Hat ein Unternehmen keinen Sitz im Inland …"). Für Unternehmen mit Sitz im Ausland greift § 130 Abs 1 S 1 SGB VII demnach nicht. Vielmehr gilt dann § 130 Abs 2 S 1 SGB VII, der die Bestellung eines Bevollmächtigten vorsieht. Beide Absätze des § 130 SGB VII stehen also in einem Stufenverhältnis, sodass § 130 Abs 2 SGB VII nur zur Anwendung kommt, wenn § 130 Abs 1 SGB VII nicht einschlägig ist. Hat das Unternehmen einen Inlandssitz, steht dem Unfallversicherungsträger als Gläubiger der Beitragsforderung allein der Unternehmer als Schuldner gegenüber (s auch Ricke in KassKomm, SGB VII, Stand 12/2012, § 130 RdNr 4). Wenn und sobald sein Unternehmen keinen Sitz im Inland (mehr) hat, muss er gemäß § 130 Abs 2 S 1 SGB VII einen Bevollmächtigten mit Sitz im Inland bestellen, der kraft Gesetzes (§ 130 Abs 2 S 2 SGB VII) die Pflichten des Unternehmers hat. Nach § 150 Abs 2 S 2 SGB VII haften "die in § 130 Abs 2 S 1 … genannten Bevollmächtigten … mit den Unternehmern als Gesamtschuldner".
a) Zuständiger Unfallversicherungsträger und damit Gläubigerin der geltend gemachten Beitragsforderung ist die Beklagte, weil die B & F L. Limited ihren unfallversicherungsrechtlichen Unternehmenssitz am Ort ihrer Zweigniederlassung im inländischen R. hatte, als die Beitragsansprüche im Kalenderjahr 2006 kraft Gesetzes dem Grunde nach entstanden sind (§ 152 Abs 1 S 1 SGB VII). Die Zweigniederlassung der B & F L. Limited war ein "Unternehmen" iS des § 121 Abs 1 SGB VII. Nach dessen Klammerzusatz erfasst der unfallversicherungsrechtliche Unternehmensbegriff neben Betrieben und Einrichtungen auch bloße Tätigkeiten (Senatsurteil vom 18.1.2011 - B 2 U 16/10 R - SozR 4-2700 § 123 Nr 2 RdNr 13) und ist mithin denkbar weit. Da die B & F L. Limited ihre Geschäftstätigkeit in R. tatsächlich ausübte, war ihre dortige Zweigniederlassung ein "Unternehmen" iS des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung. Der "Sitz" des Unternehmens ist sein organisatorischer Mittelpunkt, von dem es kaufmännisch und technisch geleitet wird (so bereits RVA EuM 14, 182; Diel in Hauck/Noftz, SGB VII, 4/2014, § 130 RdNr 10; Köhler in Becker/Franke/Molkentin, SGB VII, 4. Aufl 2014, § 130 RdNr 2; Leube in Kater/Leube, 1997, SGB VII, § 130 RdNr 3; Quabach, Schlegel/Voelzke, juris-PK SGB VII, 2. Aufl 2014, § 130 RdNr 17; Ricke in KassKomm, SGB VII, Stand 12/2012, § 130 RdNr 4). Dies war bei der im Vereinigten Königreich gegründeten, aber ausschließlich in Deutschland tätigen B & F L. Limited nicht ihr satzungsrechtlicher Sitz in B., sondern der Ort der Zweigniederlassung in R. Dagegen ist ein an rechtlichen Gesichtspunkten orientiertes Begriffsverständnis des Unternehmenssitzes - wie vom LSG angenommen - mit dem auf die tatsächliche Tätigkeitsausübung bezogenen Unternehmensbegriff des SGB VII unvereinbar. Auch ist nicht erkennbar, inwieweit die vom EuGH in anderem Zusammenhang entwickelte sog "Gründungstheorie" dem insofern eindeutigen Wortlaut und Regelungszusammenhang der §§ 121,130 SGB VII vorgehen sollte. Dass europarechtlich eine Gründung des Unternehmens in einem anderen Land zulässig ist, ändert nichts am Anknüpfen der § 121 SGB VII und § 130 SGB VII an der faktischen Organisation eines Unternehmens im Inland (anders offenbar LSG Sachsen-Anhalt Urteil vom 4.12.2014 - L 6 U 99/12 - IPRspr 2014, Nr 33, 54 ff = Juris RdNr 33 ff).
b) Beitragspflichtig und damit Schuldnerin der im Kalenderjahr 2006 kraft Gesetzes dem Grunde nach (§ 152 Abs 1 S 1 SGB VII) entstandenen Beitragsforderung war zunächst ausschließlich die B & F L. Limited als Unternehmerin (§ 150 Abs 1 S 1 SGB VII), der das Ergebnis des Unternehmens (Zweigniederlassung) unmittelbar zum Vor- oder Nachteil gereichte (§ 136 Abs 3 Nr 1 SGB VII). Diese Beitragspflicht blieb bestehen, als der bevollmächtigte Kläger am 1.3.2007 als weiterer Beitragsschuldner gemäß § 130 Abs 2 S 2 SGB VII kraft gesetzlichen Schuldbeitritts neben die B & F L. Limited trat. Diese Vorschrift erstreckt "die Pflichten des Unternehmers", zu denen auch die Beitragspflicht nach § 150 Abs 1 S 1 SGB VII zählt, auf dessen Bevollmächtigten. Einen Bevollmächtigten mit Sitz im Inland hat der Unternehmer gemäß § 130 Abs 2 S 1 SGB VII zu bestellen, wenn und sobald sein Unternehmen keinen Sitz im Inland hat. Die damit verbundene Rechtspflicht, einen Bevollmächtigten mit Sitz im Inland zu bestellen, entstand für die B & F L. Limited erstmals am 1.3.2007 um 0.00 Uhr, nachdem sie nach den nicht angegriffenen und damit bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) als Unternehmerin mit Sitz im Vereinigten Königreich den Geschäftsbetrieb in ihrer inländischen Zweigniederlassung am 28.2.2007 um 24.00 Uhr eingestellt und das Gewerbe abgemeldet hatte. Damit hatte sie am 1.3.2007 ab 0.00 Uhr keinen Sitz im Inland mehr. Gleichzeitig war dieser Rechtspflicht Genüge getan, weil die Unternehmerin den Kläger, der seinen Wohnsitz im Inland hatte, nach den ebenfalls bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts bereits in der Gewerbeanmeldung vom 29.12.2005 ausdrücklich als ihren "Bevollmächtigten" bezeichnet und in der Handelsregisteranmeldung als alleinvertretungsberechtigten Geschäftsführer benannt und damit zu ihrem Bevollmächtigten im Inland bestellt hatte.
Nach § 150 Abs 2 S 2 SGB VII hat der Kläger als Gesamtschuldner für die (Beitrags-)Pflicht der B & F L. Limited einzustehen und konnte gemäß § 168 Abs 1 SGB VII - im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung am 10.12.2010 - als solcher durch Beitragsbescheid in Haftung genommen werden. Entscheidend ist deshalb im vorliegenden Fall, dass der Beklagten bei Erlass der angefochtenen Bescheide nach der zu diesem Zeitpunkt maßgebenden Rechts- und bestehenden Sachlage zwei Schuldner für die Beitragsforderung zur Verfügung standen, nämlich nach wie vor die B & F L. Limited und nach der Aufgabe deren Produktionsstätte im Inland der Kläger persönlich. Insofern ist es auch wenig nachvollziehbar, inwiefern das Abstellen auf das deutsche Beitragsrecht der §§ 130, 150 SGB VII dem Kläger hier eine "Rosinenpickerei" ermöglichen könnte.
2. Die Beklagte hat es jedoch versäumt, ihr durch § 150 Abs 2 S 2 SGB VII eingeräumtes Ermessen, ob und ggf welchen der beiden Gesamtschuldner sie in welcher Höhe in Haftung nimmt, zu betätigen (zu der von § 150 Abs 2 S 2 SGB VII generell geforderten Ermessensausübung vgl bereits Ricke in KassKomm, SGB VII, Stand 3/2013, § 150 RdNr 10). Damit war der an den Kläger persönlich gerichtete Beitragsbescheid vom 7.8.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.12.2010 wegen Ermessensnichtgebrauchs rechtswidrig und schon deshalb aufzuheben.
Die Möglichkeit eines Gläubigers, "die Leistung nach ... Belieben von jedem" der (Gesamt-)Schuldner "ganz oder zu einem Teil" zu "fordern" (vgl § 421 S 1 BGB), ist im Beitragsrecht der gesetzlichen Unfallversicherung als Teil des öffentlichen Rechts verfassungsrechtlich in der Weise überformt, dass bei der Auswahl des Gesamtschuldners und der Bestimmung der Quantität ("ganz oder zu einem Teil") eine Abwägung der öffentlichen und privaten Interessen vorzunehmen ist. An die Stelle des zivilrechtlichen Beliebens tritt - schon wegen des verfassungsrechtlichen Willkürverbots (Art 3 Abs 1 GG) - im öffentlichen Recht die ermessensgebundene Entscheidung. Mit der gesetzlichen Anordnung in § 150 Abs 2 S 2 SGB VII, dass Unternehmer und Bevollmächtigter als Gesamtschuldner haften, wird der ausführenden Behörde damit gleichzeitig Ermessen eingeräumt; der Gesamtschuldnerschaft im öffentlichen Recht ist - mit anderen Worten - die Ermessenseinräumung begrifflich immanent.
Der Unfallversicherungsträger ist als Träger öffentlicher Gewalt grundrechtsgebunden, sodass die belastende Entscheidung, welchen von mehreren Grundrechtsträgern (= Schuldnern) er in welcher Höhe in Anspruch nehmen möchte (Grundrechtseingriff), nicht im freien Belieben, sondern im pflichtgemäßen (Auswahl-)Ermessen der Behörde steht, für das die allgemeinen Grundsätze des § 39 SGB I gelten. Im Fall der Gesamtschuldnerschaft kann der einzelne Beitragspflichtige deshalb nur aufgrund einer Ermessensentscheidung unter Beachtung seiner Freiheitsgrundrechte, des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und des Willkürverbots in Anspruch genommen werden. Jeder Gesamtschuldner hat ein subjektiv-öffentliches Recht, dass der Unfallversicherungsträger die belastende Entscheidung über seine Inanspruchnahme ermessensfehlerfrei trifft. In diesem Sinne liegt es auch nach ständiger Rechtsprechung des BFH im Ermessen der Finanzbehörde, welchen Gesamtschuldner iS des § 44 AO sie in welcher Höhe in Anspruch nimmt (vgl zB BFH Urteil vom 2.12.2003 - VII R 17/03 - BFHE 204, 380 sowie Beschlüsse vom 12.7.1999 - VII B 2/99 - Juris RdNr 15 und vom 7.10.2004 - VII B 46/04 - BeckRS 2004, 25007513; Ratschow in Klein, AO, 13. Aufl 2016, § 44 RdNr 13). Gleiches gilt für den Erlass von Haftungsbescheiden nach § 191 AO (vgl BFH Urteile vom 24.10.1979 - VII R 7/77 - BFHE 129, 13 = Juris RdNr 10 mwN und vom 23.10.1985 - I R 248/81 - BFHE 145, 175 = Juris RdNr 27; Intemann in Koenig, AO, 3. Aufl 2014, § 191 RdNr 35 f). Im Beitragsrecht der gesetzlichen Unfallversicherung kann nichts anderes gelten, weshalb § 150 Abs 2 S 2 SGB VII insofern als Ausdruck eines allgemeinen das Beitragsrecht beherrschenden Grundsatzes anzusehen ist (ebenso Ricke in KassKomm, SGB VII, Stand 3/2013, § 150 RdNr 10). Denn immer dort, wo die Behörde die Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten hat (hier: Auswahl zwischen mehreren Gesamtschuldnern und Festsetzung der Forderungshöhe "ganz oder zum Teil"), ist sie iS von § 39 Abs 1 S 1 SGB I ermächtigt, "nach ihrem Ermessen" zu handeln und hat gleichzeitig "ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten". Dass sich die Vorschrift ihrem Wortlaut nach nur auf die "Entscheidung über Sozialleistungen" erstreckt, ist bedeutungslos, weil die og Ermessensgrundsätze für das Sozialrecht generell gelten (vgl statt aller Mrozynski, SGB I, 5. Aufl 2014, § 39 RdNr 1).
Ob eine Behörde das Ermessen zutreffend ausgeübt hat, unterliegt im gerichtlichen Verfahren nur eingeschränkter Überprüfung. Eine Ermessensentscheidung ist als solche nur rechtswidrig und auf Anfechtung hin nur dann aufzuheben, wenn der Anspruch auf pflichtgemäße Ausübung fehlerfreien Ermessens (§ 39 Abs 1 S 2 SGB I) verletzt ist (s auch § 54 Abs 2 S 2 SGG). Das Gericht darf nicht sein eigenes Ermessen an die Stelle des Ermessens der Verwaltung setzen, sondern nur prüfen, ob ein Ermessensfehler vorliegt. Ermessensfehlerhaft ist es, wenn die Behörde ihrer Pflicht zur Ermessensbetätigung überhaupt nicht nachgekommen ist (sog Ermessensnichtgebrauch) oder wenn ihr bei Ausübung des Ermessens Rechtsfehler unterlaufen sind (sog Ermessensfehlgebrauch). Dies ist zu beurteilen anhand der in den angefochtenen Bescheiden angegebenen Ermessensgründe (§ 35 Abs 1 S 3 SGB X). Weder der Beitragsbescheid vom 7.8.2010 noch der Widerspruchsbescheid vom 10.12.2010 enthalten Ermessenserwägungen, sodass beide Verwaltungsakte wegen Ermessensnichtgebrauchs rechtswidrig und deshalb aufzuheben sind. Dass die Heranziehung des Klägers als Gesamtschuldner in voller Höhe für die von der Unternehmerin im Umlagejahr 2006 ebenfalls geschuldeten Beiträge die einzige rechtmäßige Entscheidung gewesen wäre (Ermessensschrumpfung auf Null), ist angesichts der Möglichkeit, unter Berücksichtigung aller Einzelfallumstände eine höhenmäßig differenzierte Haftungsquote festzusetzen, von vornherein auszuschließen.