Entscheidungsdatum: 07.12.2017
Die Prüfung, ob der Bezug einer ausländischen Rente zum Ausschluss von Leistungen nach dem SGB II führt, erfordert konkrete Feststellungen zur bezogenen Rente und zu deren Einordnung in das ausländische Rentensystem, die eine rechtsvergleichende Qualifizierung tragen.
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 9. März 2017 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Umstritten sind die Aufhebung der Leistungsbewilligungen und die Erstattung erbrachter Leistungen für Januar 2005 bis Oktober 2009 wegen des Bezugs einer russischen Rente.
Die 1947 geborene Klägerin ist russische Staatsangehörige und siedelte im Mai 2004 von Russland, wo sie seit der Vollendung ihres 50. Lebensjahres eine Rente bezog, nach Deutschland über. Bis Dezember 2004 erhielt sie vom beigeladenen örtlichen Sozialhilfeträger Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG, eigenen Angaben entsprechend ohne Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen. Von Januar 2005 bis Oktober 2009 bekam sie vom beklagten Jobcenter Alg II. Weder im Erstantrag vom 22.10.2004 noch in den Fortzahlungsanträgen gab sie diesem gegenüber den Bezug der russischen Rente an.
Nachdem im August 2009 der Beklagte auf den Rentenbezug der Klägerin hingewiesen worden war und bei ihr nachgefragt hatte, legte die Klägerin Unterlagen über die russische Rente vor. Nach ihrer Anhörung nahm der Beklagte seine Entscheidungen über Leistungsbewilligungen nach dem SGB II vom 1.1.2005 bis 31.10.2009 ganz zurück und forderte die Erstattung des erbrachten Alg II (34 307,03 Euro) sowie der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung (7848,85 Euro), insgesamt 42 155,88 Euro (Bescheid vom 16.2.2010; Widerspruchsbescheid vom 31.5.2010). Die Klägerin sei wegen des Bezugs einer russischen Altersrente von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Die fehlerhafte Bewilligung sei erfolgt, weil sie zumindest grob fahrlässig falsche und unvollständige Angaben gemacht habe.
Die dagegen erhobene Klage hat das SG nach Beiladung des örtlichen Sozialhilfeträgers abgewiesen (Urteil vom 2.12.2013). Die Berufung der Klägerin hat das LSG zurückgewiesen (Urteil vom 9.3.2017): Die Klägerin sei nach § 7 Abs 4 SGB II von Anfang an von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, da sie eine russische Altersrente bezogen habe, die mit einer deutschen Altersrente vergleichbar sei. Auf schutzwürdiges Vertrauen könne sie sich nicht berufen, weil sie die für die Leistungsbewilligung wesentliche Angabe des Rentenbezugs - trotz bestehender Sprachprobleme -grob fahrlässig iS des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 SGB X unterlassen habe. Der Aufhebung und Erstattung stehe nicht der allein in Betracht kommende Erstattungsanspruch des Beklagten gegen die Beigeladene nach § 105 Abs 1 SGB X entgegen, denn jedenfalls fehle es an der nach § 105 Abs 3 SGB X erforderlichen Kenntnis der Beigeladenen vom Leistungsfall. Dass ein Leistungsantrag nach dem SGB II im Zweifel auch als Antrag auf Leistungen nach dem SGB XII gelte, sei nicht auf den Erstattungsfall zu übertragen.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung des § 45 Abs 2 SGB X und beantragt, |
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die Urteile des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 9. März 2017 und des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 2. Dezember 2013 sowie den Bescheid des Beklagten vom 16. Februar 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31. Mai 2010 aufzuheben. |
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beigeladene stellt keinen Antrag.
Die zulässige Revision der Klägerin ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Auf der Grundlage der Feststellungen des LSG kann der Senat nicht darüber entscheiden, ob die aufgehobenen Leistungsbewilligungen deshalb rechtswidrig waren, weil die Klägerin aufgrund des Bezugs einer russischen Altersrente von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen war.
1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist die Aufhebung der Urteile des LSG und des SG sowie des Aufhebungs- und Erstattungsbescheids des Beklagten vom 16.2.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31.5.2010, mit dem die Bewilligungsentscheidungen für die Zeit vom 1.1.2005 bis 31.10.2009 aufgehoben sowie die zu erstattenden Leistungen und Beiträge festgesetzt worden sind. Gegen diesen Bescheid wendet sich die Klägerin statthaft mit der reinen Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 Alt 1 SGG).
2. Rechtsgrundlagen des angefochtenen Bescheids sind § 40 Abs 1 Satz 1, Satz 2 Nr 1 SGB II (idF des Gesetzes zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente vom 21.12.2008, BGBl I 2917; zur Maßgeblichkeit des im Zeitpunkt der Aufhebung geltenden Rechts vgl BSG vom 19.10.2016 - B 14 AS 53/15 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 78 RdNr 14 f) iVm § 45 SGB X und § 330 Abs 2 SGB III für die Aufhebung der Bewilligungsentscheidungen für Januar 2005 bis Oktober 2009 sowie § 40 Abs 1 Satz 1, Satz 2 Nr 3 SGB II iVm § 50 SGB X und § 335 Abs 1 Satz 1, Abs 5 SGB III für die Festsetzung der zu erstattenden Leistungen und Beiträge.
3. Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 16.2.2010 ist formell rechtmäßig. Die Klägerin ist vor Erlass des Bescheids angehört worden (§ 24 Abs 1 SGB X) und hatte zudem im Widerspruchsverfahren weitere Gelegenheit zur Äußerung zu allen für den Bescheid relevanten Tatsachen.
4. Der Bescheid vom 16.2.2010 ist inhaltlich hinreichend bestimmt (§ 33 Abs 1 SGB X). Dessen Aufhebungsverwaltungsakt bezeichnet in seinem Verfügungssatz die Bewilligungsentscheidungen, die vom 1.1.2005 bis 31.10.2009 "ganz zurückgenommen" werden, und der Erstattungsverwaltungsakt beziffert in seinem Verfügungssatz eine zu erstattende "Überzahlung" in Höhe von 42 155,88 Euro sowie die Teilbeträge, aus denen sie sich zusammensetzt.
5. Voraussetzung für die Aufhebung eines begünstigenden Verwaltungsakts ist nach § 45 Abs 1 SGB X dessen Rechtswidrigkeit. Auf der Grundlage der Feststellungen des LSG kann der Senat indes nicht darüber entscheiden, ob die aufgehobenen Leistungsbewilligungen deshalb rechtswidrig waren, weil die Klägerin im Aufhebungszeitraum aufgrund des Bezugs einer russischen Altersrente von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen war.
a) Maßgebend hierfür ist § 7 Abs 4 SGB II in der im Aufhebungszeitraum geltenden Fassung (Geltungszeitraumprinzip, vgl BSG vom 19.10.2016 - B 14 AS 53/15 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 78 RdNr 14 f). Nach § 7 Abs 4 SGB II (in der vom 1.1.2005 bis 31.7.2006 geltenden Fassung des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003, BGBl I 2954) erhält Leistungen nach dem SGB II ua nicht, wer Rente wegen Alters bezieht. Nach § 7 Abs 4 Satz 1 SGB II (in der ab 1.8.2006 geltenden Fassung des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.7.2006, BGBl I 1706) erhält Leistungen nach dem SGB II ua nicht, wer Rente wegen Alters oder Knappschaftsausgleichsleistung oder ähnliche Leistungen öffentlich-rechtlicher Art bezieht.
Hiervon erfasst wird auch der Bezug ausländischer Altersrenten vor Erreichen der Altersgrenze nach § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB II. Bei diesen handelt es sich unter Berücksichtigung von Wortlaut, Entstehungsgeschichte, systematischem Zusammenhang und dem Sinn und Zweck des § 7 Abs 4 SGB II um eine Leistungen nach dem SGB II ausschließende Leistung, wenn sie die gleichen typischen Merkmale aufweisen wie die ausdrücklich benannte deutsche Altersrente. Dem ist so, wenn die ausländische Rentenleistung durch einen öffentlichen Träger gewährt wird, sie an das Erreichen einer bestimmten Altersgrenze anknüpft und Lohnersatz nach einer im Allgemeinen den Lebensunterhalt sicherstellenden Gesamtkonzeption darstellt (dazu im Einzelnen BSG vom 16.5.2012 - B 4 AS 105/11 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 30
Hinter dem Ausschluss von Leistungen nach dem SGB II steht die typisierende Annahme, dass Bezieher von Altersrenten vor Erreichen der Regelaltersgrenze schon aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind und nicht mehr in Arbeit eingegliedert werden müssen (vgl im Zusammenhang mit § 12a SGB II BSG vom 19.8.2015 - B 14 AS 1/15 R - BSGE 119, 271 = SozR 4-4200 § 12a Nr 1, RdNr 22, 47). Der Leistungsausschluss führt indes nicht dazu, dass bei Hilfebedürftigkeit kein Anspruch auf existenzsichernde Leistungen besteht. Wer nach § 7 Abs 4 SGB II wegen Altersrentenbezugs keine Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II erhält, ist iS des § 21 Satz 1 SGB XII dem Grunde nach nicht leistungsberechtigt nach dem SGB II und kann bei Hilfebedürftigkeit die auf gleicher Grundlage wie im SGB II bemessenen und vom Umfang im Wesentlichen identischen existenzsichernden Leistungen nach dem SGB XII unter Berücksichtigung des Renteneinkommens beanspruchen (vgl BSG, aaO, RdNr 32 f, 41; vgl zu § 21 Satz 1 SGB XII auch BSG vom 30.8.2017 - B 14 AS 31/16 R - vorgesehen für BSGE und SozR 4-4200 § 7 Nr 53, RdNr 32 ff).
b) Ausgehend von diesen rechtlichen Maßstäben kann der Senat nicht beurteilen, ob die Klägerin im Aufhebungszeitraum eine der deutschen Altersrente iS des § 7 Abs 4 SGB II vergleichbare russische Altersrente bezogen hat und sie deshalb von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen war. Denn das LSG hat sich nach Wiedergabe der vom 4. Senat in seinem Urteil vom 16.5.2012 entwickelten rechtlichen Maßstäbe für eine mit einer deutschen Rente wegen Alters vergleichbaren ausländischen Altersrente darauf beschränkt festzustellen: "Die russische Altersrente der Klägerin in Höhe von monatlich 2.365 Rubel bis März 2007 - bzw. 3.536,73 Rubel ab April 2007 - erfüllt die Kriterien für eine zum Ausschluss von SGB II-Leistungen führende Altersrente. Sie wird der Klägerin seit Erreichen des 50. Lebensjahrs gezahlt und wurde mit Erreichen des 60. Lebensjahrs (2007) deutlich erhöht, sie dient dem Lohnersatz und wird von einem öffentlichen Träger erbracht. Es gibt keinen Anhalt dafür, dass die Klägerin nicht über die Rentenzahlungen verfügen konnte. Es ist von einem 'laufenden Bezug' auszugehen, auch wenn der Zahlweg nicht bekannt ist. Der Senat geht davon aus, dass die Rentengewährung in Russland mit Erreichen einer Altersgrenze erfolgt und als Lohnersatzleistung für die vom Empfänger zuvor ausgeübte Erwerbstätigkeit dient."
Indes fehlen konkrete Feststellungen des LSG zu der von der Klägerin bezogenen Rente und zu deren rechtlicher Einordnung in das russische Rentensystem sowie die gebotene rechtsvergleichende Qualifizierung dieser Rente im Vergleich mit einer deutschen Altersrente, welche die rechtliche Wertung des LSG zu tragen vermögen und deren revisionsgerichtliche Prüfung ermöglichen (vgl dagegen die ausführliche Würdigung in dem vom LSG in Bezug genommenen Urteil des BSG vom 16.5.2012 - B 4 AS 105/11 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 30
Das LSG wird im wiedereröffneten Berufungsverfahren zu prüfen haben, ob die russische Rente der Klägerin in ihrem Kerngehalt den gemeinsamen und typischen Merkmalen einer deutschen vorzeitigen Altersrente entspricht, dh nach Motivation, Funktion und Struktur gleichwertig ist (zu den Kriterien für die Vergleichbarkeit im Einzelnen vgl BSG vom 16.5.2012 - B 4 AS 105/11 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 30
6. Nachdem der Senat bereits nicht darüber entscheiden kann, ob die aufgehobenen Leistungsbewilligungen wegen eines Leistungsausschlusses nach § 7 Abs 4 SGB II rechtswidrig waren, kommt es für dessen Entscheidung nicht darauf an, ob die Voraussetzungen für eine Aufhebung nach § 45 SGB X vorliegen, insbesondere ob sich die Klägerin auf einen Vertrauensschutz nach § 45 Abs 2 SGB X berufen kann (worauf diese ihre Revision gestützt hat). Zudem kommt es für die Entscheidung des Senats nicht darauf an, ob und inwieweit auch bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 45 SGB X dem angefochtenen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid ein Erstattungsanspruch des Beklagten gegenüber der Beigeladenen nach § 105 SGB X entgegen steht (worauf das LSG seine Revisionszulassung gestützt hat).
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.