Entscheidungsdatum: 18.12.2013
Der Festsetzung beitragspflichtiger Mindesteinnahmen für den Kalendertag in Höhe von 1/30 der monatlichen Beitragsbemessungsgrenze durch den Spitzenverband Bund der Krankenkassen für nicht selbstständig erwerbstätige Versicherte, die der Krankenkasse auf deren Verlangen keine Einkommensnachweise vorlegen, überschreitet die Grenzen der dem Spitzenverband gesetzlich eingeräumten Regelungsbefugnis.
Die Revisionen der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. August 2011 werden mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass entgegen dem Urteilstenor des Landessozialgerichts der Bescheid der Beklagten zu 1. vom 3. August 2009 nicht zu ändern war.
Die Beklagten haben dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Die Beteiligten streiten (noch) über die Höhe der vom Kläger ab 1.7.2009 zur gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und zur sozialen Pflegeversicherung (sPV) zu entrichtenden Beiträge.
Der 1982 geborene erwerbslose Kläger unterliegt seit 1.4.2007 der Auffang-Versicherungspflicht (§ 5 Abs 1 Nr 13 SGB V bzw § 20 Abs 1 S 2 Nr 12 SGB XI) und ist seither Mitglied der Beklagten zu 1. und 2. Nachdem er einen ihm im Juni 2009 von den Beklagten übersandten Einkommensfragebogen nicht beantwortet hatte, setzte die Beklagte zu 1. unter Änderung vorangegangener Beitragsfestsetzungen die monatlichen Beiträge für die Zeit ab 1.7.2009 auf 525,53 Euro (GKV) und 80,85 Euro (sPV) fest (Bescheid vom 3.8.2009). Der Bemessung legte sie Einnahmen in Höhe der Bemessungsgrenze des Jahres 2009 zugrunde. Dem Widerspruch des Klägers halfen die Beklagten teilweise ab und ersetzten diese Festsetzungen unter Minderung der Beiträge zur sPV (für die Zeit 1.7.2009 bis 30.11.2009 lediglich 18,48 Euro monatlich) durch zwei Bescheide vom 17.11.2009; im Übrigen wurde der Widerspruch zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 28.12.2009). In der Folge wurden die Beiträge für die Jahre 2010 und 2011 unter Änderung der vorangegangenen Festsetzungen durch Bescheid vom 11.12.2009 und vom 20.12.2010 jeweils nach der Beitragsbemessungsgrenze festgesetzt.
Die schon am 30.7.2009 erhobene, auch gegen die Höhe der festgesetzten Beiträge gerichtete Klage hat das SG abgewiesen (Urteil vom 11.5.2010). Das LSG hat unter Zurückweisung der Berufung des Klägers im Übrigen die Bescheide der Beklagten vom 3.8.2009, 17.11.2009 und 11.12.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.12.2009 sowie den Bescheid vom 20.12.2010 insoweit aufgehoben, als darin Beiträge zur GKV und sPV für die Zeit ab 1.7.2009 von mehr als 138,60 Euro, für die Zeit ab 1.1.2010 von mehr als 140,53 Euro und für die Zeit ab 1.1.2011 von mehr als 145,64 Euro gefordert wurden: Die Beiträge des nicht erwerbstätigen Klägers dürften nur nach der Mindest-Beitragsbemessungsgrundlage des § 240 Abs 4 S 1 SGB V festgesetzt werden, nicht aber nach der für hauptberuflich selbstständig Erwerbstätige geltenden Regelung des § 240 Abs 4 S 2 SGB V. Auch § 6 Abs 5 der Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler (BeitrVerfGrsSz) biete keine Rechtsgrundlage für die erfolgte Festsetzung, da die Regelung mit § 240 Abs 1 S 2 und Abs 4 SGB V nicht vereinbar sei. Die angenommene Fiktion höherer Einnahmen sei danach unzulässig (Urteil vom 16.8.2011).
Mit ihren Revisionen rügen die Beklagten eine Verletzung von § 227 iVm § 240 Abs 1 S 1 SGB V. Entgegen der Ansicht des LSG zeige § 240 Abs 4 SGB V ("… gilt …"), dass die Fiktion höherer Einnahmen bei fehlenden Angaben zu den Einkommens- und Vermögensverhältnissen durch § 6 Abs 5 BeitrVerfGrsSz statthaft sei. Da auch einkommenslose Versicherte in einem gewissen Maße ihren Versicherungsschutz mitzufinanzieren hätten, werde der Grundsatz, dass Beiträge nach der tatsächlichen Leistungsfähigkeit zu bemessen seien, zulässigerweise durch die Fiktion beitragspflichtiger Einnahmen durchbrochen.
Die Beklagten beantragen,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. August 2011 zu ändern und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 11. Mai 2010 in vollem Umfang zurückzuweisen.
Der Kläger ist vor dem BSG nicht durch postulationsfähige Bevollmächtigte vertreten.
Die zulässigen Revisionen der Beklagten zu 1. und 2. bleiben im Kern ohne Erfolg.
Zu beanstanden - und im Urteilstenor entsprechend klarzustellen - ist lediglich, dass das LSG auch den Bescheid der Beklagten zu 1. vom 3.8.2009 geändert hat; dessen bedurfte es aber nicht, da dieser schon durch Bescheid vom 17.11.2009 (vollständig) ersetzt worden war. Im Übrigen sind die Revisionen der Beklagten unbegründet. Zu Recht hat das LSG auf die Berufung des Klägers das Urteil des SG vom 11.5.2010 geändert und die Bescheide der Beklagten vom 17.11.2009 und 11.12.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.12.2009 sowie den Bescheid vom 20.12.2010 insoweit aufgehoben, als darin Beiträge zur GKV und sPV für die Zeit ab 1.7.2009 nach über die Mindest-Beitragsbemessungsgrundlage des § 240 Abs 4 S 1 SGB V hinausgehenden Einnahmen festgesetzt wurden.
1. Zulässiger Gegenstand des Revisionsverfahrens ist ausschließlich die Frage, ob die Beklagten vom Kläger für die Zeit vom 1.7.2009 bis 16.8.2011 (Ende des für die Beurteilung durch den Senat maßgebenden Zeitraums vgl zuletzt BSG SozR 4-2500 § 6 Nr 9 RdNr 9 mwN) höhere als die vom LSG im angegriffenen Urteil für Recht erkannten Beiträge zur GKV und sPV verlangen durften. Der Senat hat hingegen weder über die durch Bescheid der Beklagten vom 18.1.2008 bestandskräftig festgestellte Versicherungspflicht des Klägers nach § 5 Abs 1 Nr 13 SGB V bzw nach § 20 Abs 1 S 2 Nr 12 SGB XI zu befinden noch über die weiteren vom Kläger mit seiner Klage und Berufung verfolgten Begehren; denn allein die Beklagten haben gegen das vorinstanzliche Urteil Revision eingelegt und der Kläger kann mangels eines ihn vertretenden, vor dem BSG postulationsfähigen Bevollmächtigten nicht mit eigenen Anträgen im Revisionsverfahren gehört werden.
2. In der Sache bleiben die Revisionen der Beklagten ohne Erfolg. Die Beklagten können vom Kläger keine Beiträge beanspruchen, die nach Einnahmen bemessen werden, welche über die Mindest-Beitragsbemessungsgrundlage des § 240 Abs 4 S 1 SGB V - also den neunzigsten Teil der monatlichen, in den streitigen Jahren 2009 bis 2011 geltenden Bezugsgröße des § 18 SGB IV - hinausgehen. Insbesondere können sie sich für eine solche Beitragsfestsetzung nicht auf § 6 Abs 5 BeitrVerfGrsSz stützen. Zu Recht hat das LSG daher die angefochtenen Bescheide insoweit aufgehoben.
a) Im noch streitigen Zeitraum erfolgte die Beitragsbemessung der nach § 5 Abs 1 Nr 13 SGB V in der GKV pflichtversicherten Personen, zu denen nach der bestandskräftigen Feststellung der Beklagten im Bescheid vom 18.1.2008 auch der Kläger gehört, gemäß § 227 SGB V - für die sPV iVm § 57 Abs 1 S 1 SGB XI (hier idF des
GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes
b) § 6 Abs 5 BeitrVerfGrsSz stellt allerdings entgegen der Ansicht der Beklagten keine wirksame Rechtsgrundlage für die gegenüber dem Kläger erfolgte Beitragsfestsetzung dar.
Zwar stehen - wie der Senat bereits mit Urteil vom 19.12.2012 entschieden hat - die BeitrVerfGrsSz als solche in Einklang mit höherrangigem Recht (BSG SozR 4-2500 § 240 Nr 17 Leitsatz 1 und RdNr 13 ff, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen). Die konkrete Festsetzung der Beitragsbemessungsgrundlage in § 6 Abs 5 BeitrVerfGrsSz ist inhaltlich jedoch mit dem höherrangigen Gesetzesrecht nicht vereinbar. Der SpVBdKK überschritt vielmehr die Grenzen der ihm durch § 240 Abs 1 S 1 SGB V eingeräumten Regelungsbefugnis dadurch, dass er in der genannten Bestimmung der BeitrVerfGrsSz die beitragspflichtigen Einnahmen auch für nicht selbstständig erwerbstätige Versicherte für den Kalendertag in Höhe von 1/30 der monatlichen Beitragsbemessungsgrenze festlegte.
Das Gesetz überlässt zwar durch § 240 Abs 1 S 1 SGB V die Bestimmung der beitragspflichtigen Einnahmen für freiwillige Mitglieder grundsätzlich dem SpVBdKK. Der Regelungsbefugnis des SpVBdKK sind aber - wie der Senat schon zur Satzungsautonomie der jeweiligen Krankenkassen nach dem bis 31.12.2008 geltenden Recht in ständiger Rechtsprechung entschieden hat - in § 240 Abs 1 S 2 und Abs 2 bis 5 SGB V Grenzen gesetzt (vgl zB BSGE 70, 13= SozR 3-2500 § 240 Nr 6; BSG SozR 3-2500 § 240 Nr 7; BSGE 71, 137 = SozR 3-2500 § 240 Nr 9; BSG SozR 3-2500 § 240 Nr 35). Diese Grenzen untergesetzlicher Normgebung, die seit jeher ua beinhalten, dass über gesetzliche Mindestgrenzen hinaus fiktive Mindesteinnahmen des Versicherten nicht der Beitragsbemessung zugrunde gelegt werden dürfen, werden insbesondere auch durch die zu § 240 SGB V bisher ergangene höchstrichterliche Rechtsprechung konkretisiert (vgl BSG SozR 4-2500 § 240 Nr 17 RdNr 43, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen).
Hieran hat sich zum 1.1.2009 durch den Übergang der Regelungsbefugnis für die Beitragsbemessung bei freiwillig Versicherten von den einzelnen Krankenkassen auf den SpVBdKK im Kern nichts geändert. Insbesondere bietet die durch das GKV-WSG in § 240 Abs 1 S 1 SGB V vorgenommene bloße Änderung des an den Wechsel des Normgebers angepassten Wortlauts - früher: "durch die Satzung", nunmehr "einheitlich durch den Spitzenverband Bund der Krankenkassen" - keinen Anhaltspunkt dafür, dass mit der Zuweisung der Aufgabe an den SpVBdKK zugleich eine Ausweitung der Regelungsbefugnisse im Vergleich zum bisherigen Umfang der Satzungsautonomie der Krankenkassen vorgenommen werden sollte. Vielmehr enthält auch die Begründung zu Nr 157 zu den Buchst a und b des Entwurfs zum GKV-WSG (Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, BT-Drucks 16/3100 S 163 Zu Nr 157 Zu den Buchst a und b) den Hinweis, dass bei der Beitragsbemessung "wie bisher die gesamte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Mitglieds zu berücksichtigen" ist (vgl bereits BSG SozR 4-2500 § 240 Nr 17 RdNr 45, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen).
Nach § 240 Abs 1 S 2 und Abs 2 bis 5 SGB V hat der SpVBdKK insbesondere sicherzustellen, dass die Beitragsbelastung die gesamte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Mitglieds berücksichtigt (Abs 1 S 2). Es müssen mindestens die Einnahmen des freiwilligen Mitglieds herangezogen werden, die bei vergleichbaren versicherungspflichtig Beschäftigten der Beitragsbemessung zugrunde zu legen sind (Abs 2 S 1). Abstufungen nach dem Familienstand oder der Zahl der Angehörigen, für die eine Versicherung nach § 10 SGB V besteht, sind unzulässig (Abs 2 S 2). Bestimmte Einnahmen dürfen nicht berücksichtigt werden (Abs 2 S 3 und 4). Außerdem bestimmt das Gesetz eine allgemeine und eine besondere, für freiwillig versicherte Selbstständige geltende Mindest-Beitragsbemessungsgrundlage (Abs 4 S 1 und 2 SGB V). Darüber hinaus sind nach den gesetzlichen Vorgaben grundsätzlich nur Einnahmen beitragspflichtig, die tatsächlich bezogen werden. Die Abweichungen von diesem Grundsatz hat das Gesetz in § 240 Abs 4 S 1 und 2 SGB V ausdrücklich - und insoweit abschließend - festgelegt (allgemeine und besondere, für Selbstständige geltende Mindest-Beitragsbemessungsgrundlage). Danach gilt für die nicht von einer der nachfolgenden Sonderregelungen erfassten freiwilligen Mitglieder und damit auch für die nach § 5 Abs 1 Nr 13 SGB V in der GKV Pflichtversicherten als beitragspflichtige Einnahmen für den Kalendertag mindestens der neunzigste Teil der monatlichen Bezugsgröße. Hingegen gilt nur für freiwillige Mitglieder, die hauptberuflich selbstständig erwerbstätig sind, als beitragspflichtige Einnahmen für den Kalendertag der dreißigste Teil der monatlichen Beitragsbemessungsgrenze (§ 223 SGB V).
Demgegenüber gestattet die vom SpVBdKK vorzunehmende Regelung der Beitragsbemessung nach der gesamten wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Mitglieds (§ 240 Abs 1 S 2 SGB V) keine Fiktion tatsächlich nicht erzielter Einnahmen, wie der Senat schon in seiner bisherigen ständigen Rechtsprechung zu den ebenfalls auf § 240 SGB V beruhenden früheren Satzungsregelungen angenommen hat (stRspr vgl zB BSGE 71, 137, 140, 142 = SozR 3-2500 § 240 Nr 9 S 31, 32 f; BSGE 71, 237, 243 = SozR 3-2500 § 240 Nr 12 S 50; BSG SozR 3-2500 § 240 Nr 35 S 170 f). Der Übergang der Regelungsbefugnis von den Krankenkassen auf den SpVBdKK hat - wie dargelegt - nicht zur Abkehr von den bis dahin geltenden Grundsätzen über die Beitragsbemessung geführt. Eine Regelung, die wie § 6 Abs 5 BeitrVerfGrsSz beim Fehlen eines Nachweises über das tatsächliche Einkommen auch für nicht selbstständig Erwerbstätige wie den Kläger Einnahmen in Höhe der Beitragsbemessungsgrenze unterstellt, unabhängig davon, ob sie überhaupt oder in der angenommenen Höhe anfallen, ist daher rechtswidrig.
Aus den vorgenannten Gründen ist die Festsetzung der Beiträge nach einer Bemessungsgrundlage oberhalb der Mindest-Bemessungsgrundlage des § 240 Abs 4 S 1 SGB V auch nicht - wie die Beklagten mit ihrem Vortrag nahelegen - als Folge einer vom SpVBdKK durch § 6 Abs 5 BeitrVerfGrsSz festgelegten "Schätzungsgrundlage" zulässig. Auch für die Begründung einer rechtlichen Schätzungsbefugnis (vgl zu einem solchen Erfordernis zB BSGE 93, 51 = SozR 4-4100 § 115 Nr 1, RdNr 14; BSGE 108, 258 = SozR 4-4200 § 11 Nr 39, RdNr 16) - wie sie zB in § 28f Abs 2 SGB IV speziell vorgesehen ist - in den BeitrVerfGrsSz sind dem SpVBdKK jedenfalls in diesem Rahmen Grenzen gesetzt, die vorliegend überschritten wären.
4. Die vom LSG festgesetzten Beiträge entsprechen der Summe der für den Kalendertag nach dem neunzigsten Teil der jeweils gültigen monatlichen Bezugsgröße berechneten Beiträge zur GKV und sPV. Diese Festsetzung wird von den Beklagten auch nicht beanstandet.